https://www.deviantart.com/ifritnox/art/741430796
»Passt auf euch auf, Landratten!«
Cary drehte sich um und sah Baradas auf der Brücke stehen und winken. Sie erwiderte die Geste, doch rief nicht zurück. Ein beklommenes Gefühl hatte sich in ihrer Magengegend breit gemacht. Sie fragte sich im Stillen, ob sie Baradas wirklich vertraute. Der Kapitän hatte mit keiner Geste ihr Misstrauen verdient, seine Freundschaft zu den Kindern der Sonne erschien aufrichtig, aber sie war zu plötzlich gekommen.
Cary seufzte, während sie den Anderen in die Stadt folgte.
Die Seefahrer von Antordia waren ihr immer wie ein verschlossenes, eigenbrötlerisches Volk erschienen. Kaum jemand durfte die Grenze überschreiten. Nur manche Händler, allesamt Einwohner, passierten die Grenze häufiger. Viele waren Seefahrer, die ihre Schätze und Fische mit langen Karawanen zur nächsten Stadt brachten, andere waren Händler, die ihr Leben in den vielen Küstenstädten verbracht, selbst jedoch nie oder selten auf's Meer fuhren.
In dieser geschlossenen Gesellschaft mussten Fremdlinge doch auffallen wie ein Qirin im Ziegenstall, doch während die Gruppe der Hauptstraße folgte, gekleidet in weite, bunte Flickengewänder, warf ihnen kaum jemand einen zweiten Blick zu.
Siebenhoch war eine bunte Stadt. Die kleinen Holzhäuser waren in allen Farben gestrichen, viele Bewohner hatten kunstvolle Bilder auf die Fassaden gemalt. Von fast allen Häusern gingen schmucke kleine Balkone auf die Hauptstraße hinaus, an den meisten wehten lange Bänder in allen Farben im Wind. Auch die Kleidung der Bewohner war, wie die Leihsachen der Kinder der Sonne, aus bunten Fetzen zusammengenäht, mit Muscheln oder Perlen geschmückt, manche echt, andere aus Holz oder Stein oder anderem Material nachgestellt. An vielen Ecken erklang Musik aus einer nicht einsichtigen Gasse, außerdem säumten Marktstände die Straße und waren natürlich auf dem großen Marktplatz direkt vor dem Hafen versammelt.
Händler priesen ihre Ware und verhandelten lautstark mit Käufern – meist Tauschhandel, eine feste Währung hatte Antordia nicht – es wurde gesungen und getanzt und auch getrunken. Kapitäne standen auf umgedrehten Fässern und riefen nach Matrosen, die mit einem Anteil an der Beute belohnt werden würden, Kinder spielten in den vielen Pfützen von Meereswasser und einige Tiere – Kühe und Hühner, die im Tauschhandel mit den Halblingen erstanden waren – lärmten in ihren Käfigen. Und im Hafen erklangen die Stimmen von Meermenschen, die in ihrer sonderbaren, wie Gesang klingenden Sprache miteinander redeten. Es klang, als würden sie die größten Geheimnisse der Welt austauschen, doch Cary könnte Wetten, dass es um den gleichen alltäglichen Handel wie überall sonst auch ging.
Die Kinder der Sonne tauschten stumme Blicke, während sie sich einen Weg durch das Gedränge bahnten. Iljan trug eine breiten Strohhut, den er sich immer wieder tief ins Gesicht zog, sie alle wichen den Blicken der Antordier aus. Sie waren nicht daran gewöhnt, sich unbeachtet in einer Menge bewegen zu können und dementsprechend nervös. Selbst jetzt, da sich Baradas' Worte als wahr zu erweisen schienen, glaubte Cary noch immer, dass alles auch eine groß angelegte Falle sein könnte, dass die Menschen nur so taten, als würden sie die Monster in ihrer Mitte nicht bemerken und dass die Falle zuschnappen würde, sobald sie an einer Stelle angelangt waren, von wo aus sie nicht fliehen konnten.
Und tatsächlich trafen sie bald auf ein Hindernis, mit dem sie nicht gerechnet hatten. Mehrere Menschen und Halbnixen liefen aus einer Gasse und versperrten in einer langen Doppellinie die Hauptstraße. Zwischen beiden Linien war genug Platz, als dass nachfolgende Antordier dort runde Baumstämme auf den Boden legen konnten, quer zur Richtung der Grenzlinien.
Einige Zeit sahen die Kinder der Sonne zu, wie die Baumstämme dicht an dicht in den weichen Bodenmatsch gedrückt wurden.
»Wie lange dauert das denn?«, fragte Jackie.
»Ich weiß nicht«, antwortete Merkanto. »Lasst uns sehen, ob wir einen Weg außen herum finden.«
Sie drängten sich in eine Gasse. Das Volk auf den Straßen hatte sich dagegen schaulustig versammelt. Manche breiteten gar die Schösse ihrer weiten Röcke auf dem Boden aus und setzten sich darauf wie auf Picknickdecken.
Merkanto führte die Gruppe jetzt an. Cary konnte ihre Angst nur mühsam beherrschen. Welchen anderen Zweck sollte die Sperrung haben, als ihnen den Weg abzuschneiden und sie in eine gefährlich enge Gasse zu locken? Sie wäre am liebsten auf der Stelle umgedreht und hätte versucht, den Plänen der Unbekannten zuvorzukommen und zu fliehen.
Sie brachte es einfach nicht über sich, etwas zu sagen.
Die Sperre erwies sich als ausgesprochen zweckmäßig. Die Doppellinie aus Menschen und Halbnixen schlängelte sich durch die unzähligen Gassen und versperrte bereits alle Wege. Die gedachte Linie folgte einer ausladenden Bewegung zwischen den Häusern hindurch, ging bis zum Rand der Klippen, wandte sich nach unten und überquerte dort abermals die Hauptstraße.
Alles ging sehr schnell und organisiert vonstatten, unter anderen Umständen hätte Merkanto viel Freude an der Beobachtung empfunden.
Viele kleine Inseln entstanden durch die Begrenzung, die wie übergroße Zungen von beiden Seiten in die Stadt ragten. Die Kinder der Sonne waren auf einer solchen Zunge gefangen.
Als sie dies einmal erkannten, blieben sie stehen, fußwund von der langen Suche nach einem Ausweg.
»Noch könnten wir rüber«, sagte Gudrun und deutete nach vorne. Tatsächlich ließ die Menschenkette noch einige Personen passieren, doch Merkanto schüttelte den Kopf.
»Seht mal, sie fragen diejenigen, die rüber wollen, förmlich aus«, sagte er. »Wir dürfen wohl nur hinüber, wenn wir einen triftigen Grund vorweisen können.«
Alle Begeisterung für die Überquerung erlosch. Ein Blick rundum zeigte Merkanto, dass die meisten Antordier sich bereits auf eine längere Wartezeit eingerichtet hatten. Sie saßen auf ihren Röcken oder auf bunten Decken. Wer gerade ohnehin Brot oder Fisch gekauft hatte, verteilte diesen jetzt großzügig unter den Umstehenden und -sitzenden.
»Am besten, wir verhalten uns wie alle anderen«, riet Merkanto, denn die ersten warfen ihrer Traube verwirrte Blicke zu. Also wanderten die Kinder der Sonne zurück zur Hauptstraße und suchten sich einen freien Platz, um sich wie alle anderen auf die Straße zu setzen und zu warten.
Das Warten zog sich in die Länge. Eine junge Selkie kam vorbei und brachte ihnen ein wenig Brot, da die Kinder der Sonne inmitten der schwatzenden Menge verloren wirkten. Die Frau blieb eine Weile bei ihnen stehen. Obwohl sie recht normal aussah – wunderschön zwar, aber ansonsten wie ein Mensch – konnte Jackie den Seehundgeruch wahrnehmen und hoffte nur, dass ihre eigene Identität verborgen blieb. Es half nicht, dass irgendwo in ihr der Nachtmahr Abarax noch immer von seinem Beinahe-Tod ausruhte und sie zusätzlich verunsicherte. Die Selkie warf ihr einen neugierigen Blick zu, doch schließlich ging sie davon, ohne misstrauisch zu wirken.
»Unglaublich«, murmelte Gudrun, die in Jackies Rücken saß. »Sie hat sich gerade eine halbe Stunde mit einem Vampir unterhalten und nichts gemerkt!«
»Es rechnet eben niemand hier damit, einem Schattenwesen über den Weg zu laufen«, wandte Stella ein, die sich neben Gudrun auf den Boden gelegt hatte. »Es sind sehr friedliche Menschen, es kommt ihnen überhaupt nicht in den Sinn, dass wir etwas anderes als müde Reisende sein können.«
Jackie betrachtete das Einhorn neugierig. »Kannst du das in ihren Gedanken lesen?«
»So ähnlich, Aegis«, bestätigte Stella. »Ich kann die Energien spüren, die sie ausströmen, und sie sind allesamt friedlich.«
»Aegis ist Jackies Name, richtig?«, fragte Gudrun. »Sag schon, was heißt er?«
Jackie riss die Augen auf: »Wenn es auch was mit Fliege ist, dann sag bloß nichts!«
»Der Name bedeutet Schild«, sagte Stella beruhigend und warf Gudrun dann einen bösen Blick zu: »Du bist hämisch, Aelinos.«
»Schuldig«, Gudrun grinste und schien keinerlei Schuld zu empfinden.
Jackie drehte sich wieder nach vorne. Aegis. Der Name gefiel ihr, auch wenn sie sich fragte, warum sie ausgerechnet ein Schild sein sollte. Ein Schild für wen? Und gegen was?
Ein plötzliches Rumpeln ließ mehrere Antordier aufspringen und in lauten Jubel ausbrechen. Gudrun sprang mit auf. Sie hatte sich eine Flasche Rum … besorgt … und war für sinnlosen Jubel und Spaß generell immer zu haben. Sie wurde nicht enttäuscht, als sich plötzlich eine gewaltige Konstruktion aus Holz aus einer Gasse schob und, über die Holzstämme rollend, die lange Fahrt zum Hafen antrat.
Es war ein Schiff. Der Bug war noch von den Überresten einer Flasche Rum gezeichnet, die die Jungfernfahrt eingeläutet hatte.
Die Segel blähten sich im Wind und das Holz glänzte. Die Antordier riefen Glückwünsche und Gudrun fiel lautstark mit ein.
Das Schiff war kein besonders großes, trotzdem hatte die Einfahrt etwas majestätisches. Der Anblick eines Bootes, das auf Land fuhr, entschädigte die Kinder der Sonne ausreichend für die Wartezeit. Mehr noch, Gudrun konnte die erleichterten Seufzer ihrer Begleiter selbst in dem tosenden Jubel hören. Nur ein Schiff. Keine Falle.
Stella stieg auf die Hinterbeine und stieß das Horn nach vorne. Mehrere Oh- und Ah-Rufe erklangen, als ein heller Lichtstrahl vom Horn des Einhorns aus auf den Bug des Schiffes traf und den Schriftzug – Wellenschaum – mit einem goldenen Rand belegte.
Mehrere Becher wurden in ihre Richtung geprostet und jemand warf Stella zum Dank für den Segen einen Apfel zu. Gudrun umarmte das Einhorn lachend. »Jetzt hast du ihre Herzen erobert!«
Stella schüttelte belustigt schnaubend die Mähne. »Das hatte mir echt gefehlt.«
Kurz nachdem das Schiff durchgerollt war, wurde die Barrikade auch schon wieder aufgelöst und die Baumstämme fortgeschafft – zurück in eine Werkstadt, die etwas weiter oben am Hang liegen musste, und von wo aus auch das Schiff gestartet war. Gudrun und die Kinder der Sonne blieben allerdings stehen, selbst als der Fußverkehr wieder lief, und beobachteten von oben, wie das Schiff in das Hafenbecken geschoben wurde und sich lebenslustig in die Wellen stürzte. Nicht weit entfernt lag ein anderes Schiff auf den Sandbänken auf: Die Silbermöwe, gestrandet nach dem Sturm. Jetzt wurde sie allerdings von vielen, ameisengroßen Menschen und Meermenschen umringt, die Baradas bei der Reparatur halfen.
Das letzte Stück der Straße war kurz. Die Gerüche und Geräusche von Siebenhoch blieben hinter ihnen zurück, als die Gruppe in den Schatten des großen Holztores trat. Beklemmendes Schweigen breitete sich in der Gemeinschaft aus. Gudrun überprüfte die Gurte, mit der ihre Tränke – in Ermangelung richtiger Waren – auf Stellas Rücken gebunden waren.
»Halt!«, ein kräftiger Halbtroll trat ihnen in den Weg. »Wohin?«
Cary trat vor. Mit einem Tuch, das ihre spitzen Ohren verbarg, sah sie wie eine richtige Piratin aus.
»Wir wollen nach Ynmerie, Waren verkaufen«, erklärte die Elfe mit gelassener Stimme.
»Tut mir leid, wir müssen jeden Reisenden nach seinem Begehr fragen«, entschuldige sich der Halbtroll. »Was verkauft ihr?«
»Muscheln und Ornamente, hauptsächlich«, antwortete Cary. »Außerdem gepökelten Tintenfisch.«
»An die Elfen?!«, fragte die Wache.
»Wir kommen unterwegs an den Hobbithöhlen vorbei«, Cary wirkte nicht im mindestens irritiert. Gudrun bewunderte die Elfe für ihre Ruhe.
Der Halbtroll dagegen wandte nervös den Blick zur Seite. Dort hing, im Schatten des Torbogens, ein Steckbrief.
Gudruns Herz wollte einen Schlag aussetzen: Es war der Brief, mit dem nach ihnen gefahndet wurde. Zwar waren sie nicht mehr so leicht mit der Gruppe in Einklang zu bringen – ihnen fehlten drei Mitglieder, Cary und Terziel waren nicht wieder zu erkennen und auch der Rest wirkte längst nicht so dunkel wie bei ihrer Überschreitung der Grenze - doch Stella erregte offenbar das Misstrauen des Trolls. Die Anderen konnte man leicht für Seefahrer halten, doch ein Einhorn war hier eine Seltenheit.
»Wie heißt du?«, fragte der Troll an Stella gewandt.
Gudrun stellte sich vor das Einhorn. »Weißt du nicht, dass Einhörner nur mit ausgewählten Personen sprechen?«
Der Troll seufzte. »Ich muss fragen. Was treibt ein Waldwesen in Antordia? Wie heißt sie?«
»Sie nennt sich Galoppa«, sagte Gudrun. »Und sie ist kein Waldwesen, sondern 'ne waschechte Seefahrerin. Is' von Zuhause abgehauen. Sie hat ein untrügliches Gespür für Stürme und hat uns so manches Mal das Heck gerettet.«
Die Luft kribbelte, denn Merkanto rief stumm seine Macht zu sich. Terziel und Iljan tasteten unauffällig nach ihren Waffen. Sie würden sich verteidigen und den Halbtroll womöglich sogar überwältigen können, doch es gab noch andere Wachen und auch die Antordier würden etwas merken.
Der Troll nickte jedoch, zufrieden mit Gudruns Antwort.
»Öffnet das Tor!«, donnerte er mit einer Stimme, die Stein hätte zermahlen können.
Der Schatten des Tors glitt über sie hinweg, dann standen sie im Freien: Erneut auf Wiesen, die hier von einer steilen Klippe abrupt eingeschnitten wurde. Sie standen am Beginn der Klippe, die bis zum Horizont immer höher und höher wurde.
Das Weiße Schloss lag unten, noch hätten sie hinunter springen können. Doch sie durften den Wachen keinen Anlass geben, ihre Geschichte zu hinterfragen, also zog die Gruppe los, die Kinder der Sonne und Gudrun, am oberen Ende der Klippe entlang, immer höher und höher, scheinbar bis in den azurblauen Himmel hinein.
»Was für ein Trottel«, brummte Merkanto. »So jemanden stellt man doch nicht ans Tor!«
»Sei einfach froh, dass die Antordier nicht mit uns gerechnet haben«, wies Cary ihn zurecht. »Nejakai muss aus ihrer Abfangmission ein Geheimnis gemacht haben. Ich frage mich, warum.«
»Galoppa?«, fragte Stella leise an Gudrun gewandt. »Wieso ausgerechnet Galoppa?«
»Ich hatte Panik und das ist das Erste, was mir eingefallen ist«, antwortete Gudrun. »Ist doch ein toller Name!«