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Die Hobbits hatten die Gruppe schnell umstellt.
Gudrun beäugte die zitternden Spitzen, die auf sie gerichtet wurden, misstrauisch. Die meisten Hobbits besaßen keine richtigen Waffen, sondern nur das, was gerade zur Hand gewesen war, als die Kinder der Sonne einmarschiert kamen. Doch die Mistgabeln, Spaten und auch Kastanienschleudern der Halblinge sahen in ihren Augen gefährlicher aus als blitzende Schwerter – was aus Metall bestand, war rostig und würde bei einer Verletzung sicherlich bösartige Infektionen hinterlassen. Unauffällig versuchte Gudrun, auf den Knien in den Schutz von Stellas Gestalt zu rutschen. Das Einhorn kauerte auf den Vorderbeinen, den schlanken Hals gesenkt und nervös mit den Ohren zuckend.
Die Tür des niedrigen Gebäudes vor ihnen schwang auf und heraus kam die untersetzte Gestalt im unpassenden Harnisch, die Gudrun bereits kannte. Kalin Dachsbau hielt eine klapprige Hellebarde in den Händen.
»Was wollt ihr?«, donnerte der Hobbit-Büttel.
»Wir sind gekommen, um zu reden.« Iljan übernahm die Verhandlung. Logisch, er hatte damit aus ihrer Gruppe bei Weitem die meisten Erfahrungen, obwohl der Vampir im Schattenland für gewöhnlich auf der anderen Seite gestanden hatte, neben seinem Vater, wenn Bittsteller herangekrochen kamen.
Trotzdem hielt sich Iljan sehr gut in der demütigen Haltung, etwas, worüber Nepumuk Taidoni sicherlich nicht erfreut wäre.
»Dann sprecht«, schnaufte Kalin.
Iljan senkte vorsichtig die Hände. »Ihr habt uns aufgenommen und bewirtet. Ihr gabt uns Betten und Essen, sogar neue Kleidung habt ihr uns angeboten. Diese Großzügigkeit haben wir Euch bisher nur mit Lügen und Geheimnissen vergolten.«
»Uh, ganz falsch«, murmelte Gudrun, als die Hobbits von allen Seiten mit wütendem Gemurmel näher rückten.
Iljan hob die Stimme über den aufkeimenden Lärm. »Wir stehen tief in Eurer Schuld, Büttel Dachsbau. Und wir sind gekommen, um diese Schuld abzutragen.«
Die Hobbits hielten an.
»Was für ein Trick soll das sein?«, fragte Kalin abfällig. »Ihr seid doch nur hier, um eure kleinen Freunde zu retten.«
»Auch das ist meine Absicht«, gab Iljan freimütig zu. »Terziel und Abarax sind gute Freunde, die wir nie zurücklassen würden. Und ja, es stimmt: Hättet Ihr Abarax nicht entdeckt, wären wir nicht zurückgekehrt, sondern still und leise unserer Mission gefolgt.«
»Eure Mission?«, schnaubte Kalin. »Eine Kriegslist der schwarzen Königin. Wir kennen die Geschichten von dem Magier Merkanto.«
»In der Tat, Merkanto ist unser Kriegsfürst gewesen.«
Gudrun konnte deutlich erkennen, wie Iljans Schultern sich verkrampften.
»Oh-oh«, kommentierte sie flüsternd. »Es läuft nicht nach Plan.«
»Könntest du bitte still sein?«, flehte Stella. »Du machst mich ganz nervös!«
»Wir sollten auch nervös sein, Iljan redet sich um Kopf und Kragen!«, zischte Gudrun.
Der Vampir versuchte derweil, Kalin zu beruhigen. »Er war ein Feldherr, ja, aber diese Zeiten sind vorbei. Wir wollen hinter uns lassen, was wir sind«, nun hob er die Stimme und ließ den Blick über die versammelten Hobbits gleiten. »Wir haben einen Traum. Den Traum, dass wir in diesem Land einen Frieden finden können, den es im Schattenland nicht gibt. Wir wollen Sonnenwesen werden. Keiner von uns Schattenwesen hat sich ausgesucht, was er ist.«
Gudrun hob eine Augenbraue, als Iljan vergaß, auf sie als einzige Ausnahme hinzuweisen.
»Wir wurden als Kreaturen der Dunkelheit geboren oder gegen unseren Willen dazu gemacht«, fuhr Iljan fort. »Wir hatten niemals eine Wahl. Aber wir haben uns trotzdem entschieden, und wir haben uns gegen unsere eigenen Herzen entschieden.«
Er hielt inne und sah Kalin Dachsbau an. »Eine rührende Geschichte«, kommentierte der Büttel.
Iljan stand langsam auf, obwohl alle Hobbits ihre Waffen fester packten. »Und wir werden beweisen, dass es die Wahrheit ist.«
Kalin zögerte noch. Iljan blieb ruhig stehen, wo er war, doch die Anspannung im Dorf war trotzdem unermesslich hoch. Merkanto spürte das Prickeln in jeder Faser seines Körpers.
»Runter, Iljan«, zischte er. »Sie wissen, was du bist. Sie fürchten sich vor deiner Schnelligkeit.«
Langsam kniete der Vampir sich wieder hin und hob die Hände. Merkanto ließ den Blick über die Waffen gleiten, die sie umringten. Eine brenzlige Situation, nahezu unberechenbar. Es gab einige Szenarien, in denen er sich vorstellen konnte, dass sie überlebten, wenigstens einige von ihnen. Doch Hobbits waren schreckliche Gegner, wenn sie einmal wütend waren.
»Unsere Freunde haben Euch sicherlich viel erzählt«, wagte Iljan einen neuen Vorstoß. »Unsere Namen zum Beispiel. Das Ziel unserer Reise.«
Kalin verengte die Augen, nickte dann aber, als er wohl zu dem Schluss kam, dass Iljan nicht etwa verdächtig viel wusste, sondern nur eine logische Schlussfolgerung gemacht hatte.
»Ich bin Iljan Taidoni«, sagte der Vampir. »Das ist Caryellê Assadar, das ist Merkanto, wie Ihr wisst.« Er fuhr damit fort, ihre Namen zu nennen. Kalin sah ungerührt zu. »Wir nen»n uns die Kinder der Sonne«, sagte Iljan. »Unser Traum ist ein Leben im Frieden, weswegen wir direkt zum Weißen Schloss ziehen wollen. Wir sind durch viele Länder gekommen. Die Zwergenminen, Crisayn im Wald der Seen, Die Dörfer der Cereceri in Wisan, wir waren in Antordia und in Quellheim.« Er sah auf. »Widerspricht irgendeine dieser Aussagen jenen von Terziel und Abarax?«
»Nun, nein«, gab Kalin zögerlich zu. »Ihr habt euch offenbar gründlich abgesprochen.«
»Wir haben das alles erlebt«, sagte Iljan. »Überlebt, sollte ich sagen, denn einige Freunde haben wir bereits verloren.«
»Erwartet kein Mitleid für den Verlust von Feinden des Sonnenlands«, gab Kalin feindselig zurück.
Merkanto spürte, wie die Luft dicker wurde. Die Hobbits rückten weiter vor, der Kreis um sie schloss sich.
Er schloss die Augen. Inzwischen war er zu alt dafür, sich hilflos in die Hände von Feinden zu begeben und auf das Beste zu hoffen.
»Sie waren keine Feinde«, mischte sich Cary ein. »Und wir sind es auch nicht. Wir bitten Euch darum, Kalin Dachsbau, hört uns an. Fesselt uns, wenn Ihr mögt. Ihr werdet sehen, dass wir keine Waffen dabei haben, die wir noch ablegen könnten. Und dann hört uns zu. Gebt uns eine Chance, zu beweisen, was wir wirklich sind. Unsere Worte in Taten zu wandeln.«
Kalin legte den Kopf schief. »Taten? Was habt ihr vor, Spione und Verräter?«
»Wir werden euch helfen«, sagte Iljan, nicht nur an Kalin gewandt. »Aber bevor wir das besprechen, will ich Terziel und Abarax sehen. Ich muss wissen, dass es ihnen gut geht.«
Kalin zog die Augenbrauen zusammen.
»Zu früh für Forderungen!«, zischte Merkanto und schluckte.
Iljan warf einen Blick nach hinten. »Vertrau' mir.«
Merkanto widerstand mühsam der Versuchung, die Augen zu verdrehen. So ein untoter Jungspund meinte, mehr über Verhandlungen zu wissen als der Feldherr der Dunkelheit?
Doch zu seiner Überraschung machte Kalin eine Geste und in dem Haus hinter ihm rührte sich etwas. Wenig später wurden Abarax und Terziel von je zwei Wachen von Innen an die Fensterscheiben gedrückt.
»Du wusstest, dass sie bereits hier oben sind!«, erkannte Merkanto.
»Natürlich, ich kann sie riechen«, Iljan gestattete sich ein dünnes Lächeln. Dann nickte er Kalin Dachsbau dankbar zu und die beiden Gefangenen wurden wieder außer Sicht gezerrt.
Iljan stand wieder auf. Merkanto schloss die Augen, als er spürte, wie die Hobbits kollektiv die Luft anhielten. Es war wie eine gigantische Faust, die sich um seinen Magen schloss.
»Wir werden euch helfen«, verkündete Iljan mit lauter Stimme und drehte sich so, dass die Hobbits ihn hören konnten. »Ihr lebt in Angst und Schrecken vor einem Feuerdrachen. Aber wir sind die Kinder der Sonne. Wir haben bereits mehr als einen Drachen besiegt, und wir werden auch diesen vertreiben, damit ihr wieder in Sicherheit leben könnt!«
Stille folgte auf diese Worte.
»Ich kann's immer noch nicht glauben«, murmelte Gudrun halblaut.
»Iljan, du wartest jetzt hoffentlich nicht auf Jubel«, flüsterte Cary.
»Natürlich nicht«, Iljan wandte sich an Kalin. »Was sagt Ihr, Büttel? Sollen wir euch helfen?«
»Du schlauer Mistkerl«, Merkanto musste anerkennend grinsen. Vor seinem versammelten Volk konnte Kalin das Angebot schwerlich ausschlagen.
»Fesselt sie!«, befahl der Büttel einigen Wachen in der Nähe. »Bringt sie in die Zellen. Wir müssen uns … unterhalten.«
»Was hat er gesagt?«, stammelte Abarax, als die vier Wachen ihn und Terziel aus dem Verhörzimmer und zurück in den Kerker im Untergeschoss zerrten. »Hat er gerade wirklich behauptet -«
»Ja, hat er«, sagte Terziel schicksalsergeben.
»Und du wusstest auch noch, dass er es tun würde!«, Abarax schüttelte den Kopf. »Wir sind verloren!«
»Noch nicht ganz«, Terziel wurde unterbrochen, als man sie unsanft durch die Holztür in ihr Verließ stieß und die Tür dann von Außen verriegelte. »Wir haben bereits drei Drachen besiegt. Auf einmal!«
»Ja, aber das waren Sonnenland-Drachen!«, schnaubte Abarax. »Keine Feuerdrachen. Hast du einen davon jemals gesehen? Abgesehen von Askook, meine ich?«
»Nephanir konnte doch auch Feuer speien.«
»Nephanir!«, schnaubte Abarax. »Nephanir war ein Schoßhündchen, verglichen mit selbst den kleineren Feuerdrachen! Ein weißer Drache, der ein bisschen was vom Feuer verstand.«
»Er kam mir immer ziemlich wild vor. Er hätte Cary um ein Haar getötet«, murmelte Terziel gedankenverloren.
»Trotzdem, er ist ein Nichts gegen die gewaltigen Feuerbestien. Panzer wie Obsidian. Feuer, so heiß, dass es Berge schmelzen kann. Und sie sind die mordlustigsten, größten, gewaltigsten Monster, die du dir nur vorstellen kannst. Nein, sie sind sogar noch schlimmer.«
»Du übertreibst«, meinte Terziel.
Abarax schüttelte ernst den Kopf. »Der einzige Grund, warum die Vampire und nicht die Drachen die mächtigsten Geschöpfte im Schattenland sind, ist, dass die Drachen lieber Reichtum anhäufen, statt sich mit der Politik auseinander zu setzen, und lieber untereinander Krieg führen, als Schattenwesen zu versklaven. Wenn sie wollten, könnten sie das ganze Nachtland beherrschen.«
»Wenn sie so schrecklich sind, dann verstehe ich nicht, wie Askook so leicht von Zwergen überwältigt werden konnte«, meinte Terziel zweifelnd.
»Askook war noch ein Küken«, schnaubte Abarax. »Und das ist nicht einfach nur ein Schimpfname, das ist die korrekte Bezeichnung. Erst mit 100 Jahren gelten Drachen als Jungtiere, und Askook war keine 50. Seine Schuppen waren noch weich, sein Feuer kühl. Er war ein Winzling.«
»Dass er nicht ausgewachsen war, wusste ich«, warf Terziel giftig ein. »Ich bin nicht davon ausgegangen, dass alle Drachen so groß sind wie Pferde!«
»Aber weißt du, wie groß sie werden können?«, fragte Abarax.
»Will ich es wissen?«, seufzte Terziel.
»Es gibt Drachen, deren Rücken sind Gebirge«, erklärte Abarax, ohne sich um den Einwand zu kümmern.
»Egal, mit so einem haben wir es sicherlich nicht zu tun!«, unterbrach Terziel ihn ungehalten. »Ich glaube dir ja schon. Wir können trotzdem nichts tun, Iljan hat das Angebot bereits ausgesprochen. Um uns beide zu retten, wie ich betonen möchte.«
»Eine schöne Rettung ist das, auf direktem Weg ins Maul einer Feuerechse«, murrte Abarax.
»Nun reiß dich zusammen«, knurrte Terziel ihn an. »Ich bin mir sicher, dass wir einen Ausweg finden.«
»Mal wieder dein fester Glaube an Iljan, nehme ich an«, spottete Abarax.
Terziel verdrehte die Augen. »Man muss nicht immer alles so schwarz sehen, weißt du? Das war schon immer dein Fehler.«
»Mein Fehler, wie?«, Abarax hob eine Augenbraue. »Dein verfälschter Optimismus ist dann kein Fehler, oder wie soll ich das verstehen?«
Terziel seufzte. »Ein bisschen Optimismus hat noch niemandem geschadet. Deine Schwarzmalerei dagegen hat uns für Ewigkeiten zertrennt!«
»Ich bin also schuld an dem, was geschehen ist?«, fragte Abarax spitz.
Terziel hielt inne. »So hab ich das nicht-«
»Gemeint? Wie denn dann?«, streitlustig verschränkte Abarax die Arme vor der schmalen Brust. Seine neue Gestalt als Hobbit hatte ihm viel von seiner Bedrohlichkeit genommen, doch Terziel wusste, dass er seinen Bruder lieber trotzdem ernst nahm.
»Es tut mir leid. Ich wollte nicht sagen, dass es deine Schuld war.«
»Hörte sich für mich aber sehr danach an«, knurrte Abarax unversöhnlich.
»Es ist nur …«, Terziel zögerte. »Ich bin müde, das ist alles. Reden wir nicht mehr davon, ja? Du weißt, dass ich dich liebe. Du bist mein Bruder, egal, was damals geschehen ist.«
»Mh-mh«, machte Abarax, wobei er nicht sonderlich überzeugt klang.