https://www.deviantart.com/ifritnox/art/754130197
Kalin hatte sie mit einigem Zögern in seine Kammer eingeladen. Unter den misstrauischen Blicken der Halblinge hatten sich die Kinder der Sonne in das niedrige, in den Berg eingelassene Haus begeben.
Der Geruch von Terziel und Abarax hing noch in der stickigen Luft, doch von dem Engel und dem Nachtmahr war nichts mehr zu sehen, als Jackie gemeinsam mit den anderen in den Raum ging, durch dessen Fenster sie eben noch einen Blick auf ihre Gefährten erhalten hatten.
»Bringt Stühle!«, befahl Kalin Dachsbau. »Und ruft die ganze Wache her!«
Bewaffnete Hobbits eilten hier- und dorthin. Für die Kinder der Sonne wurden fünf viel zu niedrige Stühle gebracht, auf denen sich Iljans Gruppe vorsichtig niederließ, während Stella unruhig mit den Hufen scharrte. Eine ganze Weile warteten sie so, während immer mehr Bewaffnete unter eiligem Fußgetrappel in den Raum kamen, bis sich ein Ring aus einer doppelten Reihe kleiner Wachen an den Wänden entlang erstreckte – und es handelte sich um einen großen Raum mit viel Wandfläche.
Jackie schluckte. Kalin wollte offenbar kein Risiko eingehen.
»Wo sind der Engel und der Nachtalp?«, fragte Iljan, als endlich Ruhe einkehrte.
»Sie sind in einer Zelle, aus der sie nicht ausbrechen und nicht befreit werden können.« Kalin legte die kurzen Finger aneinander. »Und dort werden sie bleiben, bis ihr eurer Versprechen erfüllt habt.«
»Das geht nicht«, widersprach Iljan sofort. »Wir brauchen Terziels Können als Krieger und Abarax' Fähigkeiten.«
Kalins Blick verdüsterte sich.
»Was nicht heißt, dass Ihr auf Eure Geiseln verzichten müsst«, fügte Iljan eilig hinzu. »Zwei andere unserer Gruppe werden hier bleiben, keine Krieger, und somit werden sie Euch auch weniger Probleme bereiten.«
Kalin schien über den Vorschlag nachzudenken, wirkte allerdings nicht überzeugt. »Woher weiß ich, dass ihr mir nicht die stärksten von euch in den Kerker setzt, jene, die von alleine entkommen können?«
»Ich sag dir, warum, fetter Hobbit!«, ertönte eine Stimme hinter Jackie. Alle wirbelten herum und die Wachen zückten mit einem Aufschrei ihre verschiedenartigen Waffen. Abarax, in der Gestalt des alten Hobbits, stand hinter den beiden kurzen Sitzreihen der Kinder der Sonne und bewegte gelangweilt die Finger.
»Was – wie bist du –«, stammelte Kalin.
»Ich bin ein Nachtmahr«, sagte Abarax gedehnt. »Ich kann zu Rauch werden, wann ich will. Ich bin der Letzte, den du als Geisel in einem Kerker haben willst.«
»Fesselt ihn!«, brüllte Kalin und mehrere Hobbits sprangen vor.
»Das ist wirklich unnötig«, stöhnte Abarax, ehe er unter einem Haufen emsiger Wachen begraben wurde. Wenig später tauchte der zerzauste und eng verschnürte Nachtmahr wieder auf. Er schenkte Kalin einen spöttischen Blick und wandelte sich erneut in eine dunkle Rauchwolke. Die Seile fielen auf den Boden.
»Genug!«, Iljan war aufgesprungen und in seiner Stimme schwang beängstigender Zorn mit. Jackie spürte, wie ihre Nackenhaare sich aufrichteten. »Abarax, lass den Quatsch. Kalin – Ihr braucht ihn nicht zu fesseln. Er ist bisher freiwillig in Eurer Zelle verblieben. Wenn er etwas Böses vorgehabt hätte, so wäre dieses bereits geschehen.«
Kalin, der ebenfalls aufgesprungen war, ließ sich mit einem finsteren Blick zurück auf de Hocker sinken, der Teil des großen Sekretärs war.
»Also gut. Sprich, Iljan Taidoni. Du willst einen Drachen töten, um deinen guten Willen zu beweisen?«
»Ich will ihn nicht töten«, Iljan setzte sich ebenfalls wieder. »Nicht, wenn man die Sache friedlich lösen kann. Ich denke aber, dass wir nicht umhin kommen werden, ihn zu töten.«
»Schön. Du hast Selbstvertrauen«, knurrte Kalin.
»Ich kenne Feuerdrachen. Sie haben eine Schwachstelle, und zwar ironischerweise direkt an ihren Brustschuppen. Wenn wir alle gemeinsam gegen ihn vorgehen, wäre der Drache so gut wie erledigt. Allerdings ...«
»Ich werde euch nicht einfach alle ziehen lassen«, fuhr Kalin auf.
»Selbstverständlich nicht«, entgegnete Iljan. »Aber du musst verstehen, dass ich eigentlich die Fähigkeiten von jedem einzelnen für diesen Kampf bräuchte. Ich bin bereit, zwei Geiseln hier zu lassen, doch musst du mir die Wahl lassen, wer das sein wird.«
Jackie spürte, wie ihr ganzer Körper zu jucken begann, als sie sich fragte, auf wen Iljans Wahl fallen würde. Wer aus dieser Gruppe war unwichtig genug, um in Kalins Kerker auf die unwahrscheinliche Rückkehr des Restes zu warten?
Iljan stand auf und wandte sich seinem kleinen Gefolge zu, erwiderte den Blick ihrer Augen. Abarax wirkte wütend, Jackie ängstlich, Cary entschlossen. Gudrun grinste spöttisch, weil sie genau wusste, wie schwer ihm die Wahl fiel. Merkantos Blick schweifte in die Ferne, als der Magier offenbar seine ganz eigene Auswahl traf. Und Stella wich seinem Blick aus.
»Wer von euch würde sich freiwillig melden?«, fragte Iljan leise. »Ich werde euch nicht gegen euren Willen zurücklassen.«
Alle Hände fuhren in die Höhe und Stella richtete sich auf.
»Selbst du, Gudrun?«, Iljan hob eine Augenbraue.
»Alles besser, als lebendig gegrillt zu werden‹‹, meinte die Hexe achselzuckend.
»Dann bleibst du hier«, entschied Iljan.
»Warte, echt jetzt?«, stammelte Gudrun. »Aber … meine Tränke könnten euch viel helfen! Und … und –«
»Du kannst uns gerne ein paar Unverbrennbarkeitstränke brauen«, grinste Merkanto. »Die Tränke helfen uns auch, ganz ohne dass wir deine Anwesenheit ertragen müssen.«
Gudrun spitze wütend die Lippen. »Ganz wie der Herr Grafensohn befiehlt.«
Iljan wandte sich an Kalin. »Gudrun bleibt hier. Sie ist eine Hexe, aber ihre einzige Macht beruht auf Tränken. Von ihr habt ihr wenig zu befürchten.«
»Nun … gut, gut«, Kalin wirkte ein wenig irritiert, so als wäre er sich nicht sicher, ob er Iljan wirklich glauben konnte oder das Ganze nur ein groß aufgezogenes Schauspiel war.
Iljan drehte sich zurück und betrachtete den Rest. Merkanto. Er war inzwischen vielleicht alt, aber seine Weißheit und auch seine Macht über die Blitze hatte ihnen schon oft geholfen – doch vielleicht könnten sie auf einen Schutzschild aus Blitzen verzichten, wenn sie Gudruns Tränke hätten?
Caryellê. Er würde sie am liebsten so weit fort wie möglich wissen, doch sie zurückzulassen wäre eine rein persönliche Entscheidung, die stand einem guten Anführer nicht zu. Cary war eine gute Kämpferin, mutig, schnell.
Jackie. Auch sie würde er gerne zurücklassen, um sie in Sicherheit zu wissen. Doch sie besaß von ihnen allen die größte körperliche Kraft und ihre Wolfssinne waren etwas, worauf er nicht leichtfertig verzichten konnte.
Stella Cantici. Eigentlich war es keine Frage, das Einhorn mit der einzigartigen Umira-Fähigkeit mitzunehmen. Ihre vielfältigen Talente könnten noch unerwartet nützlich werden, wenn sich ihnen unerwartete Hindernisse in den Weg stellten – und geschah das nicht immer? Stella mitzunehmen, bedeutete, auf alles vorbereitet zu sein.
Doch auch Abarax und Terziel sollten nicht zurückgelassen werden. Iljan hatte mit dem Gedanken gespielt, Abarax doch hier zu lassen, damit der Nachtmahr sich erholen konnte, doch nach dem Schauspiel, dass dieser eben geboten hatte, stand auch das außer Frage. Terziel dagegen, der Engel, besaß eine Macht, die sich ausschließlich gegen dunkle Wesen einsetzen ließ. Wenn sich gefangene Hobbits in der Nähe des Drachen aufhielten, wollte Iljan nicht riskieren, dass diese von einem seiner Freunde getötet wurden.
Er atmete tief durch. Zu einem Entschluss hatte ihm die Bestandsaufnahme nicht verholfen.
»Ich hätte einen Vorschlag, Iljan«, meldete sich Merkanto.
Der Vampir sah ihn erleichtert an. »Ja?«
»Ich bleibe hier«, entschied Merkanto.
»Aber wir brauchen deine Magie«, widersprach Iljan.
Merkanto grinste. »Vielleicht müsst ihr nicht darauf verzichten.«
Während Iljan die Stirn runzelte, drehte Merkanto sich zu Gudrun um. »Wie gut, denkst du, kommt Stella mit ihren neuen Fähigkeiten zurecht?«
»Was … meinst du?«, fragte Gudrun vorsichtig.
»Um genau zu sein: Wie lange braucht Stella, um eine neue Gestalt zu meistern?«
»Du willst ihr deine Macht geben?«, fragte Iljan.
Stella schnaubte nervös.
»Auf diese Weise hättet ihr jemanden bei euch, der die Sturmmagie beherrscht, ohne dass ich mitgehen müsste. Und … ich könnte ein Auge auf die Hexe haben.«
Gudrun streckte ihm ob des letzten Satzes die Zunge heraus. Iljan nickte nachdenklich. »Das klingt logisch.«
»Weil es logisch ist«, seufzte Merkanto. »Wir können gleich mit den Vorbereitungen beginnen.«
Iljan nickte und drehte sich zu Kalin. »Eine Hexe und ein Sturmmagier. Seid Ihr damit einverstanden?«
»Wenn der Magier Bannfesseln trägt, dann ja«, sagte Kalin.
»Die Fesseln müsst Ihr schon selbst stellen«, Merkanto lächelte schmalllippig. »Aber ich denke auch, dass ich alle mir zur Verfügung stehende Kraft gleich aufwenden werde, um unser Einhorn ein wenig aufzumotzen. Ich sollte Euch danach keine Gefahr mehr sein.«
»Dann ist es entschieden«, sagte Iljan. »Kalin, ich muss Euch noch um eine Sache bitten: Wir werden unsere Vorbereitungen so schnell wie möglich beginnen, doch dazu müssen Stella und Merkanto einen geschützten Platz im Wald weitab vom Dorf haben, damit sie keine Pilzsammler erschrecken, und Gudrun braucht vermutlich eine Menge Pflanzen, deren Namen ich mir nicht merken kann, für ihren Trank. Solange bleiben wir anderen hier.«
Kalin tupfte sich vorsichtig die Stirn mit dem Hemdsärmel ab. »Nun … ich könnte eine Wachen schicken, um den Zauberer und das Einhorn auf eine Lichtung zu begleiten. Sie werden dann dafür sorgen, dass euch niemand stört bei eurem … Wasauchimmer. Und ich lasse die Kräuterkundige rufen, sie soll der Hexe alles bringen, was sie braucht. Aber ich warne dich, Iljan Taidoni – wenn das alles nur ein Trick ist –«
»Es ist kein Trick«, sagte Iljan ernst. »Das schwöre ich Euch.«
»So, beginnen wir«, Merkanto legte die Hände zusammen und sah Stella über die Fingerkuppen hinweg an. »Du beherrscht bereits den Blitz, richtig?«
Das Einhorn neigte den Kopf. »So ist es, Mandragora.«
Das brachte Merkanto aus dem Konzept. »Mandra- was?«
»Mandragora‹‹, Stella schnaubte entschuldigend. »Dein Name in unserer Sprache. Wenn wir das erste Mal persönlich mit jemandem reden … «
»Ja, gut, ich erinnere mich«, Merkanto winkte ab und versuchte, sich wieder zu konzentrieren. »Gut. Du kannst bereits Blitze formen, aber was dir fehlt, ist die Meisterung des Sturms. Blitze, Donner und Regen, all das musst du vereinen können, um ein wirklicher Sturmmagier zu sein. Bereit?«
»Um ehrlich zu sein, ich glaube nicht, dass ich jemals bereit sein werde«, seufzte Stella. »Aber du kannst anfangen.«
Merkanto streckte die Hände aus und spürte das vertraute Kribbeln, das sich alsbald in einen goldenen Strom verwandelte, der von seinen Handflächen aus direkt auf das Einhorn zielte. Stellas Fell wandelte sich zu knisterndem Gold, ihre Blitzform, doch noch während Merkanto die Magie fließen ließ, wurde ihre Mähne zu dunklen Sturmwolken und ihr Fell dunkelblau wie Regen, bis nur noch ihr Horn und ihre Augen von Blitzen gleißten. Ihre Augen waren strahlend blau, ohne Pupillen. Die Hobbitwächter, die einen schützenden Ring um sie geformt hatten, ließ erschreckt ihre Waffen fallen, einige flohen.
Merkanto ließ die Hände sinken und bestaunte das Sturmeinhorn vor ihm.
Stella scharrte nervös mit einem Huf im Erdreich. »Wie sehe ich aus?«
»Gefährlich«, Merkanto grinste. »Schieß ein paar Blitze!«
Stella stieß das Horn in den Himmel und ließ eine Kaskade gleißender Energie in den Himmel sprühen, worauf sie von einem Netz zuckender Blitze umregnet wurde. Merkanto riss die Augen auf.
»Meine Energie sieht so anders aus als deine«, erkannte Stella.
»Das liegt vielleicht daran, dass du ein Einhorn bist, kein Magier«, Merkanto zuckte mit den Schultern. »Ich denke, du bist bereit.«
Stella stieg leicht auf die Hinterbeine, um ihre Bereitschaft zu bestätigen. »Los, gehen wir zurück zu Iljan und den anderen. Ich will Gudruns Gesicht sehen!«
»Stella«, Merkanto eilte ihr hinterher. »Was bedeutet 'Mandragora'?«
»Oh, es heißt 'Alraune'«, erwiderte das Einhorn.
»Alraune?!«
Die Hobbit-Kräuterfrau, eine alte, grauhaarige Frau mit unzähligen Altersflecken und dem jungen Namen Arri, beugte sich neugierig über Gudruns Schulter.
»Und dieser Trank macht einen wirklich unverwunderbar gegen Flammen?«
»Und nicht nur gegen die, meine Liebe«, Gudrun grinste, stolz darüber, dass endlich mal jemand ihre Talente anerkannte. »Die Tinktur verändert die Chemie deines Schweißes, der dann über die Poren auf die Haut austritt. Der neue Schweiß ist feuerfest, giftig für Zecken und eine natürliche Tiefenreinigung. Er wirkt sogar zu einem gewissen Maße wasserabweisend, bei einem leichten Frühlingsregen bleibst du also komplett trocken. Naja, bis auf den Schweiß, natürlich.«
»Faszinierend«, murmelte Arri beeindruckt. »Kannst du mir noch mehr zeigen?«
»Klar, ich werde ja eine Weile hier sein«, Gudrun musterte die alte Hobbitfrau kritisch. »Ich kenne eine Salbe, die Falten für drei Tage verschwinden lässt.«
»Was soll das denn heißen?!«, fuhr Arri auf. »Ich dachte an Heilmittel! Du garstige Hexe!«
Sie stürmte aus der Zelle. Gudrun seufzte traurig. »Ach, das habe ich ja ganz vergessen. Ich kann einfach nicht mit Leuten reden.«