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Bedrückt sahen die sechs zum Himmel hinauf, wo Mirkanish weite, schwungvolle Kreise zog.
››Ist er etwa der Drache, der hier alles verwüstet?«, fragte Terziel schließlich.
››Das kann nicht sein‹‹, sagte Abarax. ››Die Hobbits sprachen von einem Feuerdrachen.«
››Das waren nur die Geschichten verängstigter Bauern‹‹, wandte Cary ein. ››Solchen Berichten kann man nicht immer trauen. Sie haben wahrscheinlich ein großes Flugobjekt am Himmel gesehen und sind davon ausgegangen, dass es nur ein Feuerdrache sein konnte, ohne noch ein zweites Mal hinzusehen.«
Sie ließ den Blick wieder nach oben gleiten. Der weiße Drache brüllte wieder, schmerzerfüllt und heiser. Wie lange mochte er schon so da oben kreisen? Cary hatte Kalin zwar über die Richtung ausgefragt, in die der Drache geflogen war, allerdings nicht darüber, wann er zuerst aufgetaucht war.
Flog Mirkanish nun schon seit dem Kampf bei Quyhst über dem Hobbitland?
››Trotzdem ist es gut‹‹, sagte Abarax gerade. ››Wir müssen nicht gegen einen Feuerdrachen kämpfen! Wisst ihr eigentlich, wie viel Glück wir haben?«
Cary schloss die Augen. Sie spürte etwas, mit dem sie überhaupt nicht gerechnet hatte – Mitleid. Als sie Mirkanish verwundet hatte, war ihr einziges Ziel gewesen, den Kindern der Sonne zur Flucht zu verhelfen. Sie hatte nicht an die Folgen gedacht – nicht an die Folgen für sich selbst, denn sie wäre ohne zu Zögern für die Mission gestorben. Doch nun wurde ihr auch klar, dass sie keinen Gedanken an Mirkanish verschwendet hatte. Auch wenn sich die Drachen als Gegner herausgestellt hatten, waren sie noch keine Feinde ihrer Gruppe.
››Ich hätte ihn nicht verletzen dürfen‹‹, murmelte sie leise. Erst dann merkte sie, dass sie den Gedanken ausgesprochen hatte, denn Iljan warf ihr einen Blick zu, den sie nicht deuten konnte. Sie wandte sich ab.
››Schön, wir brauchen einen Plan‹‹, Iljan führte seine fünf Begleiter ein Stück zurück, wo der Wald wieder dichter war und ihnen effektiven Schutz bieten könnte.
››Ich weiß, dass du dafür bist, niemanden zu töten‹‹, es war ausgerechnet Terziel, der sich zu Wort meldete, ››doch in diesem Fall sollten wir das nochmal überdenken.«
Alle Blicke richteten sich auf den Engel, der schwermütig die Schultern straffte. ››Mirkanish ist rasend vor Schmerz. Er ist nicht länger Herr seiner Sinne, und da sein Wüten offenbar schon lange andauert, glaube ich nicht, dass man ihn noch heilen kann. Sephrith und Nephanir haben sich von ihm getrennt – vielleicht hat Mirkanish sie sogar angegriffen, oder sie haben erkannt, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis er es täte.«
››Aber Mirkanish ist ein Sonnenländer. Wir müssen damit aufhören, eine Spur des Todes hinter uns zu lassen‹‹, widersprach Iljan.
››Die Spur des Todes ist recht kurz, wenn du mich fragst‹‹, mischte sich Cary ein. ››Die Sache mit den Elbenhändlern war sehr unglücklich, genauso wie der Tod der Zwerge, doch beides ließ sich nicht verhindern. Niemand könnte uns einen Vorwurf machen.«
››Hier haben wir es mit einem wahnsinnigen Drachen zu tun‹‹, fuhr Terziel fort. ››Die Verletzung hat ihn in einen Zustand versetzt, der der Tollwut nicht unähnlich ist, nur, dass er länger andauert.«
››Wie sicher seid ihr euch damit?«, fragte Iljan.
Er sah die Antwort darin, wie beide mit einer Antwort zögerten.
››Wir sind gerade erst angekommen‹‹, fuhr er fort. ››Vielleicht sollten wir nicht zu schnell urteilen.«
››Du möchtest also mal wieder reden‹‹, seufzte Abarax.
››Wir sollten es wenigstens versuchen‹‹, Iljan sah Terziel an. ››Was bräuchten wir, um Mirkanish zu heilen, falls er nicht mit sich reden lässt?«
››Ich glaube nicht, dass das noch möglich ist.«
››Was bräuchten wir?«, wiederholte Iljan schärfer. Im nächsten Moment erstarrte er, denn zum ersten Mal seit Jahren hatte er das Verlangen, Blut zu trinken – nicht nur, um seinen Durst zu stillen, sondern um mehr Macht zu erhalten und seine Nerven zu entspannen. Entsetzt wischte er den Gedanken beiseite.
Terziel überlegte eine Weile, ehe er antwortete: ››Ich kenne nicht viele Mittel, die Wahnsinn heilen können. Vielleicht könnte ich einen Zauber wirken, der ihm inneren Frieden bringt, doch wenn sein Geist nicht mehr zu retten ist, wird ihn dieser Zauber töten. Er würde seinen Geist hinwegbrennen. Eine andere Möglichkeit wäre, dass Stella einen Segen versucht. Einhörner können manchmal Wunder wirken, aber auch sie sind keine Geistheiler.«
Stella legte den Kopf leicht schief.
››Stellas Magie würde Mirkanish nicht schaden?«, fragte Iljan.
››Nein. Und auch meine Magie schadet nur bösen Dingen – wenn Mirkanish' Verstand allerdings nur noch aus Dunkelheit besteht, werde ich ihn töten.«
››Das ist in Ordnung‹‹, entschied Iljan. ››Wir versuchen, mit ihm zu reden. Wenn das nicht funktioniert, wirst du, Stella, ihn mit einem Segen belegen. Gib dein Bestes. Sollte auch das nicht klappen‹‹, Iljan seufzte, ››dann versuchen wir es auf Terziels Weise.«
Die kleine Gruppe nickte ernst.
››Hey!«, Cary brüllte, so laut sie konnte und wedelte wild mit den Armen. ››Hier unten!«
Allerdings ließ sich Mirkanish nicht von seinen Kreisen hoch oben abbringen. Mit einem wütenden Schnauben sprang sie zurück auf den Boden.
››Es hat keinen Zweck – er hört mich nicht.«
››Vielleicht wurde sein Gehör durch die Wunde beschädigt‹‹, meinte Terziel, ohne zu bemerken, wie Cary schuldbewusst zusammenzuckte.
››Wir müssen doch irgendwie seine Aufmerksamkeit wecken können!«, fluchte Iljan. ››Ich hätte vielleicht doch besser Merkanto mitnehmen sollen.«
››Das hätte uns sicher einiges erspart‹‹, grinste Abarax, ››aber dafür hätten wir vermutlich wieder Blätter an den Füßen tragen müssen.«
Stella scharrte mit einem Huf im Laub. ››Ich hätte vielleicht eine Idee‹‹, sagte sie vorsichtig. ››Ein Blitz würde sicherlich Aufmerksamkeit erregen.«
Iljan seufzte. ››Ja. Ich denke, wir haben keine andere Wahl, als uns auf's freie Feld zu begeben und es auszuprobieren.«
Cary unterdrückte ein Schmunzeln, als Iljan seine Begleiter mit stummen Blicken vor die Wahl stellte, an diesem Punkt umzukehren. Es behagte auch ihr nicht, sich in eine Aschewüste und damit direkt auf den Präsentierteller für einen tollwütigen Drachen zu begeben, aber sie wusste auch, dass ihnen keine andere Wahl blieb. Solche Dinge mussten getan werden, ohne darüber nachzudenken.
Aber es war typisch für Iljan, dass er den Gentleman spielte und ihnen die Möglichkeit gab, umzukehren. Eine schlechte Eigenschaft für einen Anführer, aber zu Iljans Glück nickten alle grimmig, ehe sie sich in einer geschlossenen Gruppe aufmachten, den Schutz des Waldes zu verlassen.
Was hätte Iljan nur getan, wenn sie ihn alle stehen gelassen hätten?
Die Asche unter ihren Hufen war weicher als Moos. Hier und dort hatten sich über tieferen Löchern im Erdreich Wölkchen gebildet, die sich durch nichts von dem festen Boden unterschieden, aber bösartige Stolperfallen darstellten. Man konnte sie nur erkennen, wenn man aufmerksam hinsah, denn der schwarze Wind bewegte die trügerischen Wolken leicht.
Schon als der Wald nur ein kleines Stück hinter ihnen lag, rief Stella die Blitze zu sich und spürte, wie die Energie knisternd durch ihr Fell sprang. Die fünf anderen gingen auf Abstand zu ihr.
Mit einem Aufbäumen stieß sie das Horn gen Himmel und spürte, wie ein Regen heller Blitze um sie her auf den Boden prasselte. Erde wurde aufgewirbelte und kleine Steinchen flogen in alle Richtungen davon.
Mirkanish machte eine abrupte Wende und wandte sich ihnen zu.
››Er hat uns bemerkt‹‹, sagte Cary, die einen gespannten Bogen in der Hand hielt. Der Pfeil lag schon auf der Sehne, seine Spitze deutete jedoch nach unten.
Mirkanish brüllte wütend und ging in einen Sturzflug über.
››Zur Seite, schnell!«, rief Iljan und die sechs sprangen aus der Flugbahn des Drachen. Mit einem Röhren schlug Mirkanish auf den Boden auf und pflügte durch die aschebedeckte Erde, eine tiefe Spur im Schlamm hinterlassen.
Er wirbelte herum, bleckte fauchend die Zähne und spuckte einen Strahl goldener Flammen ungezielt gegen die Kinder der Sonne.
››Defendere!«, rief Terziel und ein goldener Schutzschild spannte sich vor den Flammen auf.
››Mirkanish!«, rief Iljan über den Lärm, die Stimme donnernd und machtvoll. ››Wir wollen nur mit dir reden!«
Erstaunlicherweise hielt der Drache tatsächlich in der Bewegung inne. Er atmete schwer, sein Schnaufen hallte über das ganze Welt. Langsam wandte er sich um und kauerte dann zwischen den Kindern der Sonne und dem schützenden Wald.
Ein suchendes Auge fand sie auf dem freien Welt stehend und er verzog die Lippen.
››Euch kenne ich‹‹, knurrte er.
Cary schluckte, als sie Mirkanish' verletzte Kopfseite sah. Ein großes Loch war dort, wo das Auge gewesen war, verkrustet mit altem Blut und frischerem Eiter. Das Loch war größer als damals, als hätte Mirkanish es wieder und wieder aufgekratzt. Sonnenlicht leuchtete durch den zerstörten Schädel und fiel über seine Wange.
››Ihr!«, das gesunde Auge des Drachen weitete sich und sein Blick offenbarte angeschwollene, rote Äderchen. ››Ist die Elfe bei euch?«
Unwillkürlich wich Cary einen Schritt zurück und packte den Bogen fester. Aus Mirkanish' Stimme und Blick sprachen wilder Hass.
››Wir sind gekommen, um dir zu helfen‹‹, sagte Iljan und stellte sich mit einem Schritt vor Cary. So sehr sie es hasste, beschützt zu werden, war sie ihm in diesem Moment einfach nur dankbar.
››Mir … helfen?«, knurrte der Drache schwerfällig.
››Wir haben gehört, dass du hier bist‹‹, fuhr Iljan mit ruhiger Stimme fort. ››Die Hobbits hielten dich für einen Feuerdrachen.«
Mirkanish knurrte wortlos. Cary sah, dass seine Zunge geschwollen war. Eine Wolke übelriechenden Atems strich über die Kinder der Sonne hinweg, die sich nun hinter Terziels Schutzschild versammelten.
Mirkanish richtete sich auf die Hinterläufe auf und betrachtete sie, ohne ein Wort zu sagen, mit seinem gesunden Auge. Das Schweigen dauerte an.
››Wir können versuchen, dich zu heilen‹‹, wagte Iljan schließlich einen Vorstoß.
››Heilen? Nein, nein, heilen kann man mich nicht mehr, nicht heilen, nein, nicht heilen‹‹, brabbelte der riesige Drache und sein Blick glitt in weite Ferne. ››Ein Krebs sagen sie, oder ein Hummer oder so, der frisst und frisst, wisst ihr?«
Er sah sie wieder an und erwartete offenbar zustimmendes Nicken, bemerkte jedoch nicht, dass die Gruppe ihn nur verwirrt anblinzelte.
››Frisst und frisst und frisst‹‹, murmelte Mirkanish und hob eine Vorderklaue zum Kopf. Mit einer Kralle begann er vor seinen entsetzten Zuschauern, in dem großen Loch zu stochern und zu kratzen.
››Es hört … einfach … nicht … auf!«, stöhnte er dabei. Blut und neuer Eiter liefen über sein Gesicht, die Kralle war tief in seinem Schädel verschwunden.
››Hör auf!«, brüllte Cary und machte einen Schritt nach vorne, durch den Schutzschild hindurch. Sie konnte den Anblick nicht länger ertragen.
Sofort richtete sich der Drache auf und seine Pupille verengte sich, als er sie erkannte. Für einen Moment war sein Blick klar: ››Du! Du hast mir das angetan!«
Dann vernebelte Wut seinen Blick und Mirkanish riss das Maul auf. Eine Hand fasste Cary an der Schulte und riss sie zurück in die Sicherheit hinter der goldenen Wand, als auch schon Flammen auf den Zauber prallten und ihn umspülten, bis die Kinder der Sonne in einer Insel mitten im tosenden Sturm standen.
Terziel ließ Cary los. Das Feuer verebbte.
››Stella, jetzt!«, befahl Iljan. ››Der Segen!«
Das Einhorn bäumte sich auf und stieß das Horn nach vorne. Ein leuchtender Strahl traf Mirkanish direkt auf die Stirn.
Der Drache klappte das Maul zu und stolperte nach hinten. Goldenes Licht umwogte seinen Schädel und entzog dem Blick der Kinder der Sonne, was hinter dem Schleier vor sich ging.
Terziel wich langsam nach hinten, den Schutzzauber und so auch die anderen mit sich ziehen.
Ein kurzes Jaulen ertönte, dann verpuffte Stellas Magie um den Drachenkopf. Mirkanish' Gesicht sah genauso aus wie vorher, doch nun stand er vornübergebeugt da und keuchte noch schwerer als zuvor, sein lauter Atem rasselte über das ganze Feld.
››Hat es funktioniert?«, flüsterte Iljan nach einer Weile.
››Ich weiß nicht‹‹, murmelte Stella. Sie schüttelte sich. ››Ich habe seinen Geist berührt … in dem Moment. Es war furchtbar.«
Cary legte dem Einhorn sanft eine Hand gegen die Seite. Doch den Drachen ließ sie nicht aus den Augen.
Mirkanish regte sich wieder. Sein Auge glitt ziellos über die Ebene, richtete sich dann auf sie.
Cary hielt den Atem an. Der Drache fletschte die Zähne. ››Ihr werdet bereuen‹‹, zischte er leise, ››bereuen werdet ihr, alles bereuen, bereuen, was ihr mir getan habt, war ihr mich gekostet habt – alles bereuen, oh, ja, bereuen!«
Er machte einen Schritt auf sie zu.
››Terziel‹‹, sagte Iljan, seine Stimme wurde schnell lauter, als Mirkanish zu Rennen begann. ››Terziel! Terziel, jetzt!«