https://www.deviantart.com/ifritnox/art/760143414
Der Wind heulte laut über der Ebene. Die wenigen Tannen beugten ihre Spitzen zum Boden. Ein Großteil ihrer Nadeln war längst abgefallen, denn selbst das widerstandsfähigste Gewächs musste irgendwann der unerbittlichen Kälte und dem ewig tosenden Sturm nachgeben.
Ein Feuer war in dieser Eiswüste Wunschdenken. Trotzdem hatte Jackie auf ihren dichten Pelz verzichtet.
»Ich wünschte, wir könnten für immer hier bleiben.«
Sie legte den Kopf auf Iljans Schulter. Der Vampir hatte ihr seinen Mantel gegeben, denn immerhin spürte er die Kälte nicht.
»Ich auch.«
»Du hast mir nie von deiner Familie erzählt«, sagte sie schließlich.
Iljan schwieg. Lange.
»Da sind nur mein Vater und ich«, begann er schließlich, als Jackie schon geglaubt hatte, dass sie nichts mehr hören würde. »Meine Mutter ist gestorben.«
»Das tut mir leid. Ich glaube, meine Eltern sind auch tot. Ich bin mir sogar ziemlich sicher.«
»Manchmal wünschte ich, mein Vater wäre tot.«
»Das ist furchtbar!«, sie rückte von ihm ab. Hatte sie sich womöglich doch getäuscht? Sie war sich so sicher gewesen, endlich einen Freund in diesem grausamen Land gefunden zu haben, jemand, der wie sie dachte und fühlte – jemand, der ihr ein Stück ihrer selbst zurückgeben konnte.
»Ich weiß, dass es furchtbar ist«, Iljan hob Schnee auf und ließ ihn durch die Finger rinnen. »Ich könnte ihm niemals etwas antun. Aber … er hat meine Mutter getötet. Vor meinen Augen. Einfach, weil ich … weil ich sie mochte. Es sollte eine Lektion sein. Mein Vampir liebt nicht, er spielt nur.«
»Wie schrecklich.« Nun bereute sie, von ihm abgerückt zu sein, und legte eine Hand auf seinen Arm. »Tut mir leid. Ich hätte nicht fragen sollen.«
»Es ist in Ordnung. Du hast mir so viel über dich erzählt.«
Sie wollte seine Hand nicht loslassen. »Wie kannst du damit leben?«
»Ich tue es einfach«, er seufzte. »Ich meine – wie kannst du leben, nach allem, was passiert ist? Wie kannst du zu den Werwölfen zurückgehen, jedes Mal? Man tut es einfach. Setzt einen Fuß vor den anderen. Man denkt nicht nach, und schon wieder ist eine Nacht vergangen. Eine dunkle, dunkle Nacht, aber sie ist vorbei. Eine neue wird folgen.«
Jackie schloss die Augen. »Ich vermisse Zuhause.«
Iljan rückte den Mantel auf ihren Schultern zurecht.
»Danke, dass du für mich da bist«, murmelte sie.
»Das ist doch nichts.«
»Doch. Es ist eine ganze Menge.«
Und dann konnte sie nicht weiter sprechen. Es gab so vieles, was sie ihm sagen musste: Dass sie ihn brauchte, dass er ihr Anker war in dieser fremden und gefährlichen Welt, in die man sie verschleppt hatte. Dass er, obwohl er zu den Erzfeinden ihrer neuen Wesensart gehörte, ihr einziger Freund war, ein Freund, für den sie sterben würde, sollte jemand ihm schaden wollen. Sie wollte nicht zurück zu ihrem Rudel, sie wollte für immer hier bleiben, mit Iljan, und langsam erfrieren.
Aber sie schwieg. Wie sollte man solche Gefühle in Worte fassen? Man konnte es nicht – man musste darauf vertrauen, dass der Andere es wusste, das Gleiche fühlte.
Also schwieg Jackie.