https://www.deviantart.com/ifritnox/art/764051723
Die fliegenden Inseln boten einen atemberaubenden Anblick.
Auf grauem, von bunten Adern verschiedenster Edelsteine durchzogenen Felsen wuchsen riesige Dschungel von Pflanzen. Lianen und Efeugewächse hingen von den fliegenden Inseln in die Tiefe, wo unter einem zarten Nebelschleier die dunkelgrünen Wälder von Ynmerie ruhten und Vogelschwärme illusionäre Muster durch den Himmel zogen.
Die einzelnen Felseninseln waren mit beweglichen Hängebrücken untereinander verbunden, Hütten und größere Himmelshäfen zogen sich über ihre Oberfläche und entlang der Seiten. Von vielen stürzten feine Wasserfälle in die Tiefe, wie auch unzählige Wasserfälle von den hohen Klippen der Felsenbucht aus nach unten flossen.
Auf dem größten der Felsen, der so groß war wie alle anderen Inseln zusammen, erhob sich schließlich ein gigantischer Baum, der den Felsen von Arbor ihren Namen verliehen hatte – denn Arbor bedeutete lediglich >Baum< in der alten Sprach der Magie.
Dieser Baum hatte eine runde, breit ausgefächerte Krone, wie eine Akazie; von seinem kräftigen, waagerechten Ästen baumelten Lianen, korbförmige Behausungen seiner Bewohner und Schlingpflanzengewächse.
Zwischen den großen Inseln navigierten Luftschiffe, Zeppeline und kleinere Flieger, große Sonnenlanddrachen, Greife und winzige Feen, Engel, Vogelschwärme und große Schmetterlinge. Die Luft, angereichert mit dem Wasser unzähliger Quellen auf den Felsen, leuchtete in allen Farben des Regenbogens.
Stella und die anderen hatten am Rand der eindrucksvollen Landschaft angehalten und betrachteten das Spektakel, allerdings nicht, weil sie die Aussicht bewunderten.
»Du hast uns nicht gesagt, dass es hier voller wachsamer Augen sein wird«, sagte Merkanto zu Cary.
»Arbor gilt als Hauptstadt des Sonnenreichs«, antwortete die Elfe. »Hier laufen die Handelsrouten zusammen, viele Händler sind hier sesshaft. Wenn es einen Ort gibt, wo uns unsere Verkleidung nützt, dann hier.«
»Außerdem gibt es hier das Ausbildungszentrum der Weißen Wächter«, warf Terziel ein. »Überhaupt, alle Organisationen, die mehr als ein Volk einbeziehen, haben ihren Sitz hier – die Palastgarde, das Finanzwesen, die Handwerkergilden.«
Stella merkte, wie die Dunkelländer blass wurden.
»Wesen aus dem ganzen Sonnenland treffen sich hier – unsere Gruppe wird nicht weiter auffallen. Wenn wir uns geschickt anstellen.«
Iljan warf Cary einen zögerlichen Blick zu. »Bist du dir wirklich sicher, dass das der einzige Weg ist?«
»Absolut«, sagte Cary.
Iljan senkte den Kopf. »Dann müssen wir es wagen.«
Stella nahm für den nächsten Teil der Reise die Gestalt eines Meereseinhorns an, die nach ihrer ursprünglichen Gestalt am wenigsten auffällig war. Merkanto musterte die Gruppe mit einem wachsamen Blick, ehe er mit einem Nicken seine Zustimmung gab.
Die Kinder der Sonne atmeten durch, strafften sich und marschierten los.
Mit schnellen Schritten begab sich Stella auf die Aschewüste. Ihre kleine Gruppe hielt zielstrebig auf ein langes, buntes Band zu, ein Zug von Hobbits, die sich endlich aus ihren zerstörten Dörfern gewagt hatten und nun zu den Himmelhäfen strömten.
Viele warfen Abarax ängstliche Blicke zu. Ein Himmelsdrache mit grauen Schuppen war ein seltener Anblick. Doch Merkanto stützte sich auf die Hoffnung, dass die Hobbits immer noch einen Feuerlanddrachen für ihr Unglück verantwortlich machten. Trotzdem hatte er das fehlende Auge des Nachtmahr-Drachens verbunden und ihn angewiesen, zu humpeln. Wenn man Abarax für einen kranken Sonnenlanddrachen hielt, würde man diesem Umstand vielleicht auch die seltsame Färbung zuschreiben. Außerdem Fiel so weniger auf, dass Abarax weder fliegen noch Feuer spuken konnte.
Alles in allem konnten sie allerdings in den Massen von Flüchtlingen, Händlern und Reisenden untertauchten. Genauso zerrissen, staubig und müde wie sie sahen auch die meisten anderen aus.
Eine große Brücke aus rotem und grünem Holz führte in einem wackeligen Bogen zur ersten der schwebenden Inseln, Ferroeh, die zu den stabilsten Inseln gehörte. Hufe und Füße klapperten auf den grünen Trittbrettern, hier und da erklang ein erschreckter Aufruf, wenn sich eines der separaten Brückenglieder plötzlich bewegte. Insgesamt fünfzig Teilstücke von nur wenigen Schritten Länge bildeten die Brücke und waren untereinander mit stabilen Seilen befestigt, ließen aber zu, dass die Brücke sich bewegte. Ansonsten wäre sie vermutlich selbst durch das schwache Schwanken von Ferroeh zerbrochen.
Auf der Insel drängten sich die Wartenden eng auf einem Platz zusammen, dessen Rand zum größten Teil lückenlos durch kleine, schmale Hütten aus buntem Holz eingenommen wurde. Verkaufsstände, Gaststätten und Kneipen reihten sich hier dicht an dicht, nur zwei Wege führten von dem Platz herunter: Durch einen Torbogen gelangte man zurück auf die schwankende Brücke, und über eine große Holztreppe hinauf zur Ankerplattform.
Die Reisenden warteten im Schatten der riesigen Luftgefährte. Die Größten von ihnen waren gewaltige Lastzeppeline aus weißen Stoffbahnen, kleinere Gefährte sahen aus wie normale Schiffe, nur dass sie durch den Himmel fahren konnten, da sie mit Turbinen oder Magie verstärkt worden waren. Im Luftraum herrschte geschäftiges Treiben, die langsamen Zeppeline bewegten sich nach fest vorgegebenen Mustern, zogen lange Linien über den Himmel und legten nur für kurze Zeit an, ehe der erste Zeppelin auch schon durch den nächsten ersetzt wurde. Dazwischen kreuzten die Luftschiffe, meist in den höheren Lüften, wendiger und schneller als die Kolosse von Arbor. Drachenreiter suchten sich ihre eigenen Wege und Landeplätze außerhalb der Flugzonen.
Die Wartenden rückten mit kleinen Schritten immer weiter vor. Es dauerte den halben Tag, bis auch die Kinder der Sonne endlich über die Holztreppe gehen konnten.
»Der dort.«
Cary hatte schnell den Kapitän eines schnellen, wendigen Schiffchens erspäht und lief auf ihn zu.
»Wo wollt ihr hin?«, fragte der Himmelsseemann, als die Gruppe sich vor ihm versammelte.
»Zur anderen Seite. Auf dem schnellsten Weg«, Cary griff in ihren Beutel und zog eine Handvoll Münzen hervor.
Der Kapitän betrachtete Bronze und Silber kritisch. »Ihr alle? Was wollt ihr drüben?«
»Wir sind Händler«, sagte Cary. »Aber wir wurden ausgeraubt. Wir müssen neue Waren erstehen.«
Der dunkelhaarige Himmelsseemann hob eine Augenbraue. Er war ein dicker, kräftiger Mann, den Stella sich eher auf dem Boden als in Arbor vorstellen konnte. Sein Schiff wirkte aber stabil.
»Nun gut, geht an Bord«, der Mann nahm Carys Geld, zählte einige Münzen ab und reichte ihr den Rest.
»Das ist … «, stammelte die Elfe.
»Der halbe Preis«, führte der Himmelsseemann ihren Satz zu Ende. »Ihr könnt mir den Rest geben, wenn ihr nicht mehr vom Pech verfolgt werdet, Freunde. Kommt an Bord – mein Name ist Flais Knorggenhau.«
»Vielen Dank!«, rief Cary aus. »Wir werden es dir nicht vergessen.«
Das Deck knarzte unter Abarax' Pranken. Knorggenhaus Schaluppe war klein, sodass sie nur schwer einen Platz fanden, auf dem er sich an Deck zusammenrollen konnte, ohne allzu vielen im Weg zu sein.
Ganz nach Carys Anweisung rollte sich Abarax zusammen und schloss die Augen, als ob er zu erschöpft sei, um weiter wach zu bleiben. So sollte verhindert werden, dass sein rotes Auge ihre Tarnung auffliegen ließ.
Die Mannschaft von Flais Knorggenhau war ebenso klein wie das Himmelsschiff. Es gab eine kräftige und kahlköpfige Frau namens Kerja, über deren braune Haut sich unzählige Tattoos zogen, einen bleichen, dürren und ebenfalls stark tätowierten Halb-Meermann mit Namen Narik und eine kleine Armada von kindsgroßen Feen, die alle Aufgaben erledigten, für die weder Kerjas Kraft noch Nariks Konzentration und Navigationskunst benötigt wurden.
Flais stellte den Kindern der Sonne die Mannschaft vor und begann dann gutmütig, sie über ihr vergangenes Pech auszufragen, während Abarax sich schlafend stellte und wachsam zuhörte.
»Wir wurden nah eines Hobbitdorfes von Banditen überfallen«, berichtete Cary ihrer bisherigen Geschichte treu bleibend. »Etwas derartiges hatten wir noch nie erlebt!«
»Hier geht seltsames vor sich«, brummte Flais nachdenklich. »Was waren die Diebe?«
»Wir haben sie nicht gesehen, sie kamen überraschend in der Nacht.«
»Ich habt sicherlich schon gehört, dass sich ein Feuerdrache hier herumgetrieben hat«, meinte Flais. »Außerdem wurden ganz in der Nähe die Dunkelbringer gesichtet.«
»Dunkelbringer?«, fragte Cary.
»Habt ihr etwa noch nicht von ihnen gehört? Wo wart ihr denn die letzten Wochen?«, entfuhr es Flais. Ehe Cary eine Antwort stammeln konnte, fuhr er bereits fort: »Eine Gruppe dunkler Wesen hat die Grenze überschritten, offenbar mit der Hilfe von abtrünnigen Wächtern. Sie dringen immer tiefer ins Schattenland vor und bisher ist es niemandem gelungen, sie aufzuhalten. Sie waren als letztes in Antordia. Die weiße Hexe Nejakai ist ihnen nur durch Glück entkommen. Nun nähern sie sich wahrscheinlich dem Schloss – vielleicht waren sie die Diebe!«
»Das ist ja furchtbar!«, Carys Stimme klang in Abarax' Ohren verdächtig tonlos.
»In der Tat«, Flais seufzte. »Viele glauben, dass dies das Ende des Lichts sein wird. Die Dunkelbringer, nun ein Feuerdrache – was kommt als nächstes?«
Auf Deck kehrte verhältnismäßiges Schweigen ein, während die Besatzung stumm und geschäftig ihren Aufgaben nachkam und das Himmelsschiff sich langsam vom Dock löste.
»Wo wolltet ihr noch gleich hin?«, fragte Flais.
»Zum Einhorn«, sagte Cary.
»Aber dort gibt es keinen Handelsposten.«
»Unser Freund Mirkanish ist sehr krank«, sagte Cary und Abarax spürte, wie sich die Blicke auf ihn richteten. »Ich habe alles getan, was meine Heilkunst vermag, doch ich fürchte, er muss in meine Heimat in Ynmerie. Dort können wir dann auch unsere Waren auffüllen.«
»Ein weiser Plan, in der Tat. Vielleicht solltet ihr in Ynmerie bleiben oder jedenfalls bei euren Familien. Wer weiß, wie lange Handel im Sonnenreich noch möglich ist.«
»Wegen der Dunkelbringer?«, fragte Cary. »Ich glaube nicht, dass eine so kleine Gruppe -«
»Sie sind nicht die einzige Gefahr«, widersprach Flais ihr. »Seht ihr nicht die Flüchtlinge. Sie kommen aus den grenznäheren Gebieten. Sie glauben nicht länger daran, dass die Wächter sie beschützen können. Nachts sollen Schatten einhergehen. Wusstet ihr, dass die Dunkelbringer Quellheim verwüsten wollten? Dass sie die Zwerge der Berge und die Nymphen der Wälder fast ausgelöscht haben? Sie ziehen eine blutige Spur durchs Land. Und wenn sie hereingelangen konnten, warum nicht auch andere Schattenwesen?«
Im Bug des Schiffes stehend, sah Iljan zu, wie sich das Ziel ihrer Reise vor ihnen aus dem Nebel schälte, der so früh am Morgen über allem hing. Sie waren die Nacht hindurch gesegelt, obwohl sich Flais und auch die Mannschaft über die scheinbar unbegründete Eile beschwerten. Doch den Kindern der Sonne lief die Zeit davon, und mehr noch fürchteten sie sich davor, erneut ihre Tarnung zu verlieren. Die Erfahrung bei den Hobbits hatte Iljans Freunde umso stärker davon überzeugt, dass sie sich nicht zu lange in der Gesellschaft anderer aufhalten durften. Seine Mission hatte sie zu Einzelgängern und Außenseitern gemacht, sie waren eine einsame, abgeschottete Gruppe geworden. Nun, da die Angst vor ihnen ihrer Reise sogar noch vorauseilte, schwand auch die Hoffnung, dass sich an ihrem versteckten, von Angst geprägten Leben irgendwann noch einmal etwas ändern würde.
Es war ungerecht. All seine Freunde waren eigentlich sehr gesellig, sie waren ein friedlicheres Leben gewöhnt, das Iljan ihnen genommen hatte. Die Kosten der Reise waren furchtbar. Iljans Freunde verband nur noch eine schwindende Hoffnung, die immer unwahrscheinlicher wurde, je mehr Schreckensnachrichten über sie verbreitet wurden.
Vermutlich eilten sie ihrer Hinrichtung entgegen. Doch Iljan wollte die Reise nicht länger ertragen, er wollte, dass alles endlich vorbei war. Das Elend, die Angst, die ständigen Lügen und Geheimnisse zehrten an ihm.
»Es könnte so friedlich sein«, sagte Merkanto, der neben ihn trat.
Iljan warf dem alten Zauberer einen Blick zu. Trauer lag in Merkantos Augen.
Vor ihnen erhob sich ein Felsen aus dem sonst sehr gleichmäßgen Klippenrund der Felsenbucht. Der Felsen sah einem Einhorn sehr ähnlich, mit einem klobigen Fuß wie ein Pferdehals, einem vornüberhängenden Kopf und einem dünnen, schiefen Horn. Statt einer Mähne flossen kleine Wasserfälle in die im Nebel verborgene Tiefe, vermischt mit feuchtigkeitsliebenden Rankengewächsen.
»Ynmerie soll der schönste Ort im Sonnenland sein«, fuhr Merkanto fort. »Nie hätte ich gedacht, dass ich ihn eines Tages noch erblicken würde. Und nicht als Kriegsherr, noch dazu!«
»Allerdings birgt der Wald große Gefahren«, seufzte Iljan.
Merkanto lachte leise zur Überraschung des Grafensohns. »Ich habe dich ja doch etwas gelehrt, Iljan. Du lässt dich nicht länger von der Schönheit dieses Ortes blenden und siehst stattdessen die Gefahren.«
»Ich weiß nur nicht, ob ich die Schönheit jemals wieder sehen werde«, seufzte Iljan traurig.
»Es ist unmöglich«, entgegnete Merkanto ernst. »Das ist eine Wunde, die niemals heilen wird. Angst und Sorge sind wie Schatten, die sich auf die Welt vor deinen Augen legen. Du wirst erwachsen, Iljan. Es gibt kein Zurück.«
Mit wehmütigem Blick sahen sie auf den Einhornfelsen, wo Flais sie absetzen würde. Der Beginn einer neuen Etappe ihrer Reise, voller neuer Gefahren.
Das weiße Schloss war immer noch nicht zu sehen.