https://www.deviantart.com/ifritnox/art/770206901
Die Zeit zog sich endlos in die Länge. Sie waren gezwungen, den Rest des Tages an ihrem Rastplatz zu verweilen. Stellas innere Unruhe – oder was auch immer – verhinderte die Verwandlung des Einhorns. Carys Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Das namenlose Grauen, das sie befallen hatte, schien sich von allen Seiten um sie zu schließen. Ein Gefühl, als ob sie ersticken würde.
Plötzlich hob Abarax den Kopf und Merkanto rief: ››Es passiert!‹‹
Die Kinder der Sonne liefen zusammen, als Stellas Gestalt mit einem Knistern und Blubbern in unzähligen, schrillbunten Blasen verschwand. Für einen Moment befand sich vor ihnen ein Wirbel, dessen Form nur wage an ein Einhorn erinnerte.
Dann wichen die Kugeln und vor ihnen stand … ein Geist.
Stella war durchscheinend geworden, ein silbrig-grauer Schatten mit einer Mähne aus Rauchschwaden. Weitere der kleinen Blasen konnte man auf einem rätselhaften Weg durch ihr Innerstes bestaunen. Ihr Horn war wie ein Mondstrahl, die Hufe kleine Lichtflecken.
Stella drehte sich im Kreis. Cary blinzelte, denn mit jeder Bewegung verschwamm das Einhorn vor ihren Augen. Der Anblick wollte sich dem Gehirn nicht vollständig erschließen, sodass Stella beinahe unsichtbar wurde.
››Illusionen‹‹, hauchte Cary, als sie die Form endlich verstand.
››Was anderes kann man bei diesem Wald ja auch nicht erwarten‹‹, knurrte Abarax und streckte seinen langen Körper. ››Brechen wir dann auf?‹‹
Obwohl der Anblick des Einhorns sie durchaus verzauberte, widersprach niemand dem Nachtmahr. Sie rafften ihre wenigen Habseligkeiten zusammen und machten sich aufbruchsbereit. Diesmal erkletterten Jackie und Iljan hinter Terziel den großen Rücken Abarax‘. Vampir und Werwolf waren erschöpft, der Schattendrache dagegen scheinbar unermüdlich.
Cary bemerkte, dass die schreckliche Wunde am Auge, die sie Mirkanish einst zugefügt hatte, bei Abarax schon zu nichts weiter als einer Narbe verblasst war. Das Auge blieb dennoch blind.
Schweigend, jeder seinen eigenen Gedanken nachhängend, brachen sie auf.
Sie ritten durch die Nacht, was Abarax mehr fühlte, als dass er es am Licht bestimmen könnte. Es gab einen verborgenen Instinkt, der ihn noch mit der Außenwelt verband und ihm sagte, dass irgendwo über ihnen ein Mond schien, obwohl dieser im Elfenwald nicht zu sehen war.
So konnte er den Wechsel der Tage spüren, doch selbst das half ihm nicht, Herr über die verstreichende Zeit zu bleiben. Es gelang ihm nicht, die Tage zu zählen, denn seine Gedanken verirrten sich, er verlor die Zahlen aus dem Gedächtnis und vermochte nicht, sich zu erinnern – waren sie drei oder dreißig Tage im Wald geblieben? Alles erschien ihm möglich, sogar, dass Jahrhunderte vergingen, während für sie scheinbar nur ein Tag vorüberzog.
Sie aßen, wenn sie Hunger hatten. Tranken, wenn sie eine Wasserquelle fanden oder unterwegs.
Die ganze Welt schien ihren Lebensrhythmus eingestellt zu haben.
Im Wald war es meistens still. Es regnete nicht, nur manchmal schien die Luft mit Feuchtigkeit angereichert zu sein. Das Licht änderte sie nie. Selbst Tiere begegneten ihnen wenige, und wenn, so waren es kleine Vögel, schillernde Insekten oder mystische Wesen wie der weiße Hirsch, mit der Flüchtigkeit eines Gedankens verschwunden.
Abarax wähnte sich in einem Traum gefangen. Kein Alptraum, doch auch kein wirklich angenehmer Traum. Alles schien an Bedeutung zu verlieren und in weite Ferne zu rücken. Es zählte nur noch, weiter zu laufen. Selbst das wurde zur Prüfung. Wie gerne würden sie durch den Wald wandern und dem Müßiggang frönen. Allein Carys eiserner Wille trieb sie weiter.
Die Elfe drängte sie zur Eile. Es war, als wäre sie auf der Flucht vor etwas.
Hatten sie nicht eine Mission oder etwas Ähnliches? Abarax wusste nicht, ob er sich noch erinnern konnte.
Sie rasteten selten und nie für lange. Der Wald schien in Terziels Kopf zu kriechen – er vernahm Stimmen, die fern und körperlos klangen, Lieder in fremdartigen Sprachen, die wie das Flüstern der Blätter im Wind waren.
Er verlor den Mut. Zeit und Raum schienen sich verschoben zu haben, sie waren belanglos geworden, und ihre Gruppe trieb wie ein ankerloses Schiff dahin.
Trotzdem führte Cary sie, auf dem Rücken des weißen Hirsches, ohne Zögern durch den Wald. Sie wirkte sich ihrer selbst sicher, obwohl sie manchmal Entscheidungen traf, die sie nicht erklären konnte.
››Halt!‹‹, rief sie beispielsweise und wendete den Hirsch, um den Weg zurückzureiten, den sie gerade gekommen waren.
››Wir sind vom Weg abgekommen!‹‹ Merkanto seufzte hoffnungslos.
››Keinesfalls‹‹, entgegnete Cary dann. ››Das ist der Weg. Lasst euch nicht täuschen, wir reiten immer weiter geradeaus.‹‹
Der seltsame Traum schien nicht enden zu wollen. Er wurde nur verrückter. Manchmal sah Terziel Abarax an und es erschien ihm, als würde er nicht auf einem Drachen, sondern auf dem Rücken eines kleinen Kindes reiten. Des Kindes, das Abarax einmal gewesen war.
Dann wieder sah er nicht seinen Bruder, sondern den gefährlichen, tödlichen Nachtmahr, den er an der Grenze getroffen hatte, eine brodelnde Schwärze, vermischt mit feurigem Blutrot.
Die Luft war stickig und erfüllt von Zauber. Abends – also dann, wenn Cary ihnen sagte, sich schlafen zu legen – stand Stella noch lange wach und blickte wehmütig in den Wald.
Gudrun blieb verschwunden. Sie war fort, auf ebenso rätselhafte, unerklärliche und plötzliche Weise wie Najaxis oder Askook.
››Abarax, wieso bist du noch wach?‹‹
Er hob den Blick und sah Cary auf sich zu kommen. Er hatte bereits ihre Aura wahrgenommen.
Er gab keine Antwort. Seine Gedanken gingen die Elfe nichts an.
››Wie kommst du mit der neuen Hülle zurecht?‹‹, fragte sie ihn. ››Mirkanish war schwer verwundet.‹‹
››Einige Wunden kann ich nicht heilen‹‹, er wandte ihr die zerstörte Kopfseite zu, mit dem Loch, durch das das Licht schimmerte.
››Und sonst?‹‹, Caryellê ließ nicht locker.
››Ich bin stark‹‹, gestand Abarax zögerlich seine Freunde. ››Ich bin riesig, ohne mich verwandeln zu müssen. Und der Drache besitzt eine ureigene Energie, ich kann sie fühlen. Nur … ‹‹, er zögerte. Irgendwie erschien ihm Cary nicht die Person, der er seine Geheimnisse anvertrauen würde, doch wer stand schon hoch genug dafür in seinem Vertrauen? Terziel wäre vielleicht der offensichtliche Kandidat, doch genau ihn musste Abarax beschützen. Cary dagegen war stark. Vielleicht könnte er ihr vertrauen … eines Tages.
››Nur?‹‹, fragte die Elfe zaghaft nach. Etwas in ihrer Stimme sagte Abarax, dass sie nicht weiter nachfragen würde, wenn er nicht antwortete.
››Ich spüre große Energie, doch ich kann sie kaum nutzen. Sie ist tief in mir verschlossen, wie Feuer, das in einem Ring aus Steinen brennt und nicht ausbrechen kann. Aber ich denke, wenn ich diese Macht nur nutzen könnte … sie beherrschen.‹‹
››Was du fühlst, ist die Magie der Drachen‹‹, erklärte Cary. ››Ein helles Licht, wie eine winzige Sonne, das in ihrem Inneren brennt. Eine Perle. In ihr schlummert die Macht des Drachen.‹‹
››Und wenn ich sie erreiche‹‹, fragte Abarax begierig, ››kann ich Feuer spucken und fliegen?‹‹
››Fliegen sicherlich, aber Mirkanish war kein Feuerdrache. Die Drachen des Sonnenlandes sind Wasserdrachen, sie herrschen über die Flüsse, Seen und über Antordia.‹‹
Abarax war enttäuscht und schnaubte abfällig. ››Flüsse!‹‹
Ein Lächeln stahl sich auf Carys Gesicht. ››Du solltest die Macht des Wassers niemals überschätzen. Sobald wir auf eine Quelle treffen, werde ich eine Pause anordnen. Dann werde ich dir helfen, die Macht der Perle zu entfesseln!‹‹
Abarax richtete sich zu seiner ganzen, neuen Größe auf. ››Das schaffe ich auch allein!‹‹
››Das glaube ich kaum. Versteh das nicht falsch, Abarax, ich zweifele nicht an dir. Doch du bist ein Schattenwesen und verstehst nichts von unserer Welt. Dass du das Geheimnis von selbst löst, ist sehr unwahrscheinlich.‹‹
Damit sah Cary die Diskussion wohl als beendet an, denn sie wandte sich ab und kehrte zum Rest der Gruppe zurück, der um einen Baumstamm verteilt schlief.
››Von nun an müssen wir vorsichtig sein‹‹, Cary hatte angehalten und die Freunde aufschließen lassen.
Jackie spitzte neugierig die Ohren – sie war erneut in Wolfsgestalt unterwegs und bildete in dieser Form eine Art Monduhr für ihre Freunde, der einzige Hinweis auf das langsame Verstreichen der Zeit. Doch sie spürte den Einfluss des Mondes immer schwächer werden – ihre Vollmondgestalt war vielleicht noch halb so groß wie noch vor einigen Monaten. Sie verlor ihre Kräfte, vielleicht, weil sie sich dem Weißen Schloss näherten. Sie wusste nicht, ob sie sich darüber freuen sollte.
Ihr war auch aufgefallen, dass Iljan immer häufiger Blut brauchte und inzwischen sowohl sie als auch Cary als Spender annahm. Es war ein seltsames Gefühl, ihre Mächte zu verlieren, doch … es hieß, dass es vielleicht wieder einen Weg zurück zur Normalität gab.
››Wieso?‹‹, fragte Merkanto an Cary gewandt. ››Nähern wir uns dem Schloss?‹‹
Cary verneinte. ››Das Schloss liegt noch in weiter Ferne. Zuerst müssen wir durch den Wald und dann noch über die Ebene von Mîm. Jetzt betreten wir das Revier der Wichtel.‹‹
Die Elfe wurde von ihren Begleitern ratlos angestarrt. Selbst Terziel schien sich der Sinn ihrer Worte nicht ganz zu erschließen.
››Wichtel?‹‹, fragte der Engel zaghaft. ››Die sind doch nicht gefährlich.‹‹
Carys weißer Hirsch – Dayrquinêl – schnaubte und legte die Ohren zurück.
››Sie sind sehr gefährlich‹‹, wies Cary Terziel zurecht. ››Ich dachte, ihr hättet seit Eschenhügel gelernt, kleine Wesen nicht zu unterschätzen. Wichtel sind vielleicht winzig, doch sie sind gemeiner als Hobbits und beherrschen mächtige Zauber. Wir sollten ihnen besser nicht begegnen.‹‹
››Was schlägst du vor?‹‹, fragte Iljan mit einem unterwürfigen Ton in der Stimme. Jackie schüttelte sich. Der Vampir klang, als wolle er sich einschleimen. Trauerte er etwa immer noch seiner Beziehung hinterher?
Er sollte einsehen, dass Cary kein Partner für ihn war!
››Wir reiten leise und schnell‹‹, antwortete Cary und gab Dayr die Sporen. Der weiße Hirsch setzte sich mit einem kleinen Sprung in Bewegung und trabte elegant vor ihnen her.
Jackie gähnte mit weit geöffnetem Kiefer und trottete dann Stella hinterher, während Abarax mit Terziel und Iljan auf dem Rücken folgte.
Weiter durch diesen endlosen, immer gleich aussehenden Wald. Jackie fragte sich, woran Cary erkannt hatte, dass das Revier dieser Wichtel begonnen hatte.
››Wa-‹‹, Iljan blinzelte. Er spürte einen Druck auf der Brust und etwas pikste ihn in die Wange. Er wollte die Hand heben, um die Wurzel zur Seite zu schieben.
Aber er konnte die Hand nicht heben. Verwirrt öffnete er die Augen.
Auf seiner Brust stand ein Wesen, das in etwa so groß wie seine Hand war. Es trug einen spitzen, grünen Hut und hatte einen struppigen, weißen Bart, der sein Gesicht wie ein weißes Lächeln abrundete. Allerdings lächelte der Wichtel nicht, während er Iljan mit einem Speer aus einem Tannenzweig anstieß.
››Na? Endlich wach, Mistkerl?‹‹, fragte das kleine Wesen spöttisch.
››Wir wollen dir nichts Böses‹‹, sagte Iljan automatisch. Sein Blick schoss umher – wo waren die anderen?
Man hatte ihn mit unzähligen dünnen, aber stabilen Seilen umwickelt. Er konnte Jackie und Stella erkennen, die in ähnliche, weiße Kokons gewickelt waren. Und das riesige, weiße Etwas dort, konnte das … es war Abarax.
››Dass ich nicht lache‹‹, knurrte der Wichtel und wirkte kein bisschen amüsiert. ››Eine Botschaft zur Königin ist schon unterwegs. Ihr werdet hier auf sie warten. Solltet ihr euch wehren, sehen wir uns gezwungen, euch zu töten.‹‹
››Die Königin?‹‹, Iljan schöpfte neue Hoffnung. Wenn die Wichtel die Königin des Sonnenlandes herholten, würde er ihr alles erklären können.
››Sie wird die Weißen Wächter bald schicken‹‹, der Gnom erstickte Iljans Hoffnung im Keim. ››He, ich sagte, keine Bewegung!‹‹
Iljan hatte begonnen, sich gegen seine Fesseln zu wehren. ››Bitte! Wir müssen mit der Königin sprechen. Die Weißen Wächter werden uns töten!‹‹
››Dann habt ihr den Tod wohl verdient‹‹, der Wichtel hüpfte von Iljans Brust. Weitere kleine Gnome strömten herbei und stachen mit diversen kleinen Waffen auf ihn ein, die aus den dingen geschaffen waren, die man im Wald zu fand – Schilde aus den Enden von Kiefernzapfen, Speere und Schwerter aus Stöcken, kleine Äxte mit Köpfen aus Haselnüssen. Die winzigen Waffen taten erstaunlich weh. Iljan konnte riechen, dass Blut aus mehreren kleinen Wunden tropfte. Sein Blut, Vampirblut.
Er blieb regungslos liegen. ››Wir wollen nur eine Chance, zu Sonnenländern zu werden!‹‹, rief er. Wie oft hatte er das jetzt schon jemandem erzählt, der nicht hatte zuhören wollen?
››Wir sind keine Monster. Wir wollen keine mehr sein!‹‹
Der Wichtel, der zuerst mit ihm gesprochen hatte, rümpfte die Nase. ››Ich kenne die Geschichten über euch! Mir machst du nichts vor, Iljan Taidoni!‹‹