https://www.deviantart.com/ifritnox/art/801921718
Mit einem begeisterten Lachen umkreiste Gudrun das Einhorn. „Lass dich ansehen, Stella!“
„Erklär ihr lieber, wie sie wieder in die Feuerform kommt“, murrte Abarax aus dem Schatten. Tatsächlich war es ohne die Hitze des Feuereinhorns eisig kalt im Stall geworden. Gudrun konnte den Blick trotzdem nicht von Stella abwenden.
Ihr Fell war weiß und weich mit bläulichen Schatten, die Mähne wurde von einem für alle anderen nicht fühlbaren Sturm bewegt, sodass die Haare den Anschein eines Blizzards machten. Ihr Horn ragte aus der Stirn wie ein Eiszapfen und die Augen waren von dem gleichen, klaren Blau – ohne Pupille oder Iris.
„Es geht noch nicht, Abarax!“, sagte Stella mit kalter Stimme. „Ich habe es dir doch erklärt!“
„Ich bringe euch gleich einen wärmenden Trank“, entschied Gudrun. „Eigentlich bin ich nur hier, um euch zu sagen, dass wir bei Anbruch der Nacht weiterziehen. Ihr solltet euch also bis dahin ausruhen.“ Dabei ruhte ihr Blick nur auf Abarax, der widerwillig die Lefzen hob. Immerhin würde er sie vom Berg herunter tragen müssen.
Als Gudrun nach draußen ging, folgte Stella ihr. Der Hufschlag des Einhorns war wie das Flüstern von fallendem Schnee.
„Ich muss mit dir reden.“
„Worum geht es?“ Gudrun drehte sich um.
„Du sagtest, du hättest uns verraten“, sagte Stella ruhig. „Und kurz darauf erscheinen die Sonnenstrahlen und jagen uns.“
Gudrun senkte den Blick der verschiedenfarbigen Augen. „Nein, damit habe ich nichts zu tun, Stella. Das muss du mir glauben.“
„Du hast es nur Nepumuk erzählt?“, fragte Stella. „Und niemand kann das Gespräch belauscht haben – auf magische Weise?“
Gudrun schüttelte vehement den Kopf. „Ich kenne die Magie des Sonnenlands. Niemand, nicht einmal Nejakai, wäre mächtig genug, um meine Schutzzauber zu überwinden!“
Stella musterte Gudrun mit unergründlichem Blick.
Die Hexe seufzte. „Es ist nicht ausgeschlossen, dass Nepumuk mit allen Mitteln versucht, seinen Sohn zurückzubekommen. Doch ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, dass er sich dabei an die Königin des Sonnenlands und ihre Elitetruppe wendet. Vermutlich hat Nejakai die Königin davon überzeugt, uns für eine furchtbare Bedrohung zu halten, und die Königin hat ihr die Sonnenstrahlen überantwortet.“
Stella nickte langsam. „Das dachte ich auch. Ich wollte es nur ein weiteres Mal von dir hören.“
Gudrun lächelte schief. „Bist du jetzt überzeugt?“
„Ja“, sagte Stella. „Aber viel wichtiger: Ich bin mir jetzt sicher, dass du mich nie wieder belügen können wirst. Jetzt kenne ich dich, Aelinos. Und ich weiß alles.“
In Stellas Augen glühte ein unheimliches, kaltes Licht. Gudrun trat ein paar Schritte nach hinten und griff instinktiv nach dem Kragen ihres Kleides. Stellas neue, von einem unsichtbaren Sturm umtoste Gestalt strahlte kalten Zorn aus.
Dann senkte das Einhorn den Kopf wie zu einer Verbeugung und kehrte in den Stall zurück.
„Geht es dir gut genug?“, fragte Iljan besorgt, als Cary in den Wohnraum trat. Sie war noch immer blass, doch in ihren Augen lag bereits wieder die Härte, die früher niemals daraus gewichen war.
„Du musst mich nicht bemuttern, Iljan.“
Er nickte. „Tut mir leid, Cary. Ich weiß, dass du stark bist, aber deine Verletzungen sahen sehr übel aus.“
Die Züge der Elfe wurden weicher und sie legte eine Hand an Iljans Wange. Überrumpelt starrte er sie an.
„Es ist nett, dass du dich so um mich sorgst“, sagte Cary leise. „Ich weiß, dass du es nur gut meinst und ich sehe auch, wie du mit dir selbst kämpfst. Du bist sehr tapfer.“
Für einen Moment schloss Iljan die Augen und lehnte sein Gesicht gegen ihre Handfläche: Wärmer als seine Haut, aber ebenso stark und unnachgiebig wie Caryellê selbst.
Sie drückte ihn für einen kurzen Moment an sich, dann ging sie an ihm vorbei. „Wir können los!“
Sie stiegen erneut auf Abarax‘ Rücken. Der Drache erhob sich diesmal zuerst auf die Hinterbeine und nahm Stella und Dayr sanft auf. Er bewegte sich hin und her. „Irgendwie seid ihr heute leichter.“
Mehrere Blicke glitten zu Gudrun, deren Gepäck an diesem Morgen um drei Viertel geschrumpft war. Die Hexe verzog das Gesicht. „Vermutlich waren wir nur vorher alle man gründlich scheißen!“
Iljan musste unwillkürlich grinsen. Da hatte Gudrun mal was wirklich selbstloses getan und sich von ihren geliebten Fläschchen getrennt, und dann wollte sie nicht einmal dafür im Rampenlicht stehen.
Abarax stieß sich mit einem mächtigen Satz vom Felsen ab und in die Luft. Einen Moment befanden sie sich im freien Fall und Iljan spürte, wie sein Magen langsam nach oben rutschte. Dann fing sich Abarax und schwebte langsamer in die Tiefe, während er sich ebenfalls langsam von dem Berg entfernte. Es versuchte gar nicht erst, die Höhe zu halten oder sogar aufzusteigen, solange er derartig beladen war. Der langsame Sinkflug kostete deutlich weniger Energie und so konnte Abarax sie eine weitere Strecke tragen, ehe es zu Fuß weitergehen würde.
Iljan nahm seine Fledermausform an, um neben dem Drachen zu fliegen. Es dauerte nicht lange, und Terziel tat es ihm gleich. Auf diese Weise bemühten sie sich, den Drachen zu entlasten. Immerhin konnten sie in der Luft, nicht behindert von Bergen, Schluchten und unwegsamen Gebüsch, deutlich schneller vorankommen.
Trotzdem musste Abarax irgendwann auf den Boden. Der Drache schleppte sich so weit vorwärts, wie er es schaffte, und legte dann eine halbe Bruchlandung hin.
„Abarax!“ Terziel flatterte dem gestürzten Drachen hinterher. Iljan landete derweil auf dem Boden und rannte, so schnell er konnte. Zum Glück hatte es keine schlimmeren Verletzungen als ein paar Kratzer gegeben.
„Du hättest auch vorher landen können!“, warf Iljan Abarax vor.
„Dann hätten wir den Berg da noch umgehen oder überklettern müssen“, gab der Nachtmahr unbeirrt zurück. „Ich habe uns einen Tag erkauft, mindestens!“
Iljan winkte ab. Immerhin war niemand verletzt worden. Und Abarax hatte recht, der Berg in ihrem Rücken hätte sie viel Zeit gekostet und war nun ein wirksamer Schutz gegen die suchenden Augen Nejakais.
„Wir nehmen die einfachsten Wege“, teilte Merkanto dem Rest mit. „Die, die leicht zu gehen sind, damit Abarax sich erholen kann. Wir gehen so lange, bis wir auf ein Hindernis stoßen, über das er uns hinwegtragen muss. Wir halten auch tagsüber nicht an, wenn wir nicht unbedingt müssen.“
Niemand wiedersprach, obwohl Merkanto in den ernsten Blick seiner Begleiter las, dass sie es am liebsten getan hätten. Doch ihnen lief die Zeit davon, das spürten sie zu deutlich. Wortlos schulterten sie ihre Ausrüstung und zogen los.
Merkanto winkte Stella zu sich. „Kannst du deine Nebelform bereits wieder annehmen?“
Das Einhorn, das eine Aura der Kälte ausstrahlte, verneinte. „Ich denke, ich brauche noch etwas Zeit.“
Merkanto nickte. „Sobald du es kannst, musst du für uns ausspähen, ob Nejakai in der Nähe ist.“
Das Einhorn neigte den Kopf. „Gerne.“
Bis es so weit wäre, schickte Merkanto Jackie los. Gudrun kommandierte er dazu ab, ihre Spuren wie bisher mit Zweigen zu verwischen – der ursprüngliche Ast war ebenfalls bei ihrer Flucht verlorgen gegangen.
„Cary? Du und Dayr, ihr bleibt in meiner Nähe. Wenn der Hirsch die Sonnenstrahlen wittert, will ich es sofort wissen“, befahl Merkanto weiter, während sie über eine Wiese wanderten, links die offene Fläche, rechts die Steigung eines Hügels. Er überreichte Cary den Langbogen, den Abarax der rothaarigen Elfe abgenommen hatte. „Kannst du damit umgehen?“
„Natürlich“, sagte Cary. „Obwohl ich Kurzbögen bevorzuge, sie sind handlicher. Außerdem sind meine Pfeile eigentlich zu kurz, besonders weit oder stark werde ich nicht schießen können.“
„Das reicht aus.“
Merkantos Gedanken arbeiteten auf Hochtouren. Schon die ganze Nacht über hatte er sich den Kopf darüber zerbrochen, wie sie beim nächsten Angriff der Sonnenstrahlen reagieren sollten.
Inzwischen hatte er sich einen ziemlich genauen Plan zurechtgelegt, den er kurz vor dem Aufbruch mit allen besprochen hatte.
„Wenn die Sonnenstrahlen wiederkommen, können wir nicht wieder auf unser Glück vertrauen. Sie sind zu schnell, also muss unser erstes Ziel sein, uns gegen ihre Angriffe zu schützen. Dann werden wir so schnell wie möglich fliehen. Lasst euch nicht in Kämpfe verwickeln. Und habt ein Auge auf eure Gefährten“, hatte er die Gruppe angewiesen.
Sie ahnten noch nicht, wie bald dieser Plan einen Praxistest aushalten musste – noch hofften sie, unbemerkt zum Schloss der Schatten zu gelangen.
Najaxis zuckte zusammen, als er plötzlich eine Hand auf der Schulter spürte.
„Entschuldige.“ Es war Iljan, der neben ihm lief. Naja war so tief in Gedanken versunken gewesen, dass er nicht bemerkt hatte, wie der Vampir zu ihm gekommen war. „Ich wollte sich nicht erschrecken.“
„Schon gut.“
„Wie geht es dir?“, fragte Iljan nach.
Najaxis verzog das Gesicht. „Besser, seit ich wieder bei euch bin.“
In Iljans dunklen Augen stand Mitleid. „Ich habe gemerkt, dass du noch humpelst.“
Najaxis verzog das Gesicht. „Ist es so auffällig?“
Iljan schüttelte den Kopf. „Aber warum verbirgst du es? Sag Terziel doch, dass er dich nochmal heilen soll!“
„Nein, das ist es ja gerade. Ich bin geheilt, ich habe keine Schmerzen mehr. Ich denke, das ist nur noch nicht im Kopf angekommen.“ Najaxis sah, wie Iljans Augen noch trauriger wurden.
„Wenn ich gewusst hätte, dass du noch lebst, hätte ich nichts unversucht gelassen, um dich zu finden“, sagte der Vampir.
„Das weiß ich“, sagte Naja. „Ich selbst hatte mich auch schon für tot gehalten. Ich weiß nicht, welche Magie Nejakai genutzt hat, um mich zu retten. Ich wünschte nur, sie hätte es nicht getan … sie hat mich wieder und wieder gefragt, wo ihr seid. Wo ihr hinwollt.“
„Sie hat dich gefoltert?“, entfuhr es Iljan.
Najaxis wich dem Blick seines Freundes aus. „Erinnerst du dich an Carys Folter im Tempel von Quellheim? Das war ein Spaziergang gegen das, was Nejakai getan hat. Zum Glück wusste ich nicht, wohin ihr wollt. Ich habe auch immer wieder versucht, ihr zu erklären, was unser eigentliches Ziel ist, aber das wollte sie nicht hören.“
Iljan seufzte leise. „Sie wird uns vielleicht niemals zuhören.“
„Jedenfalls spüre ich die Schmerzen immer noch manchmal“, seufzte Najaxis. „Und Nejakai weiß, wohin wir wollen: Ins Schloss der Sonne.“
„Das schon, aber sie ahnt nicht, dass wir den Weg über die Berge wagen wollen.“ Iljan schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. „Noch ist nichts verloren.“
Er legte einen Arm um die Schultern des Inkubus‘ und Najaxis grinste ihn an. „Ich bin echt froh, zurück zu sein!“
„Und ich bin froh, dich zurück zu haben“, sagte Iljan. In seinen Augen funkelte etwas. „Nejakai wird für all das bezahlen, was sie dir angetan hat!“
Najaxis schwieg. Rache würde die Narben auch nicht verschwinden lassen, das wusste er. Aber falls sie wirklich hier leben würden – und dieses Ziel schien nun endlich zum Greifen nah! – dann würde er Nejakai trotzdem nie wieder begegnen wollen. Wie musste es sich anfühlen, als freier Mann im Sonnenland zu leben? Und wenn er Nejakai auf dem Marktplatz treffen würde oder beim Fischen oder bei irgendeiner dieser Tätigkeiten, die die Sonnenländer nun einmal taten – würde er überhaupt ruhig an der Magierin vorbeigehen können?
Sie waren dem Schloss nun so nah. Vor ihnen erhob sich ein gewaltiges Bergmassiv, das letzte Hindernis auf ihrem Weg. Und dahinter lag ihre Zukunft, die immer unglaublicher erschien, je näher Najaxis ihr kam. Mit jedem Schritt konnte er sich weniger vorstellen, wie es wohl sein würde.
Falls sie hier leben würden. Auch das war ja noch nicht klar. Vielleicht würde man sie auch auf der Stelle töten oder zurück ins Land der Schatten jagen, wo ihr eigenes Volk sie töten würden.
Und wenn ihr Traum aufging? Wenn sie tatsächlich als Sonnenländer akzeptiert werden würden?
Würde das der Traum sein, den sie sich erhofften, oder einfach nur ein Alptraum?
Es war Morgengrauen, und Merkanto trieb die Gruppe immer noch unbeirrt vorwärts. So langsam machte sich die Müdigkeit bemerktbar, obwohl die frühen Sonnenstrahlen sie wieder vertrieben. Trotzdem reagierte Cary beinahe zu langsam, als Dayr die Ohren anlegte und schnaubte. Der Hirsch tänzelte.
„Vorsicht!“, schrie Cary aus vollem Hals. Dayrquinêl bäumte sich auf und schlug mit den Vorderhufen in die Luft, gleichzeitig wendete der Hirsch, und stieß wieder auf die Erde. Sein gesenktes Geweih deutete nun dorthin, von wo die Kinder der Sonne gekommen waren.
Die Gruppe lief zusammen. Eine Kuppel aus bläulichem Eis wuchs um die Kinder der Sonne nach oben und schloss sich über ihnen. Stella stand im Zentrum des Kegels – eigentlich war es eine Kugel, doch der Schutzwall nach unten war durch die Erde nicht zu sehen.
Blitze zuckten über das Eis, als Merkanto eine eigene Schutzkugel formte. Seine bewegte sich wie ein lebendiges Wesen und lag mal innerhalb, mal außerhalb der Eiskuppel.
Voller böser Vorahnungen hoben sie die Köpfe. Auf den vielen Bergkuppen rings um sie herum wuchsen weiße Reiter wie Pilze aus dem Boden. Die Sonnenstrahlen auf ihren magischen Pferden, mit Speeren in den Händen und glänzenden Rüstungen, erschienen wie aus dem Nichts, da man nicht sah, wie sie auf den Berg ritten. Es schien eher, als würden die Hügel rings um die Kinder der Sonne plötzlich Stacheln entwickeln.
Die Sonne erhob sich nun endgültig und flutete das kleine Tal mit ihrem Licht, kratzte an der Eisschicht der schützenden Kuppel mit ihrer Wärme.
„Das war eine Falle!“, flüsterte Merkanto, als er sah, dass man sie umzingelt hatte.