Mehrere Tage vergingen daraufhin in einem Taumel von Fortschritt und Niederlage. Kyle war ein guter Reiter, das gehörte zu dem ersten, was Sakura lernte. Er war ein ausgezeichneter Reiter, und zwar sowohl im Sattel wie auch am Boden, wenn er neben ihr ging, sie fütterte, ihren Stall ausmistete.
Kyle war ein wahrer Pferdemensch, und er verbrachte jeden Tag mehr Zeit mit Sakura.
Behutsam brachte er die Stute zurück aus der inneren Dunkelheit. Er brachte sie täglich nach draußen, obwohl sich Sakura am zweiten Tag sträubte, voller Furcht, erneut geritten zu werden – an diesem Tag ritt er sie nicht, doch während er sie durch den Wald führte, lag seine Hand auf ihrem Rücken, warm und beruhigend.
Einen Tag später ließ sie ihn erneut aufsitzen. Kyle ritt sie in einer Koppel im Kreis, ließ sie die verschiedensten Formen laufen, die den Menschen so viel bedeuteten. Sakura spürte, wie ihre Muskeln wieder an die vertrauten Positionen zurück glitten.
Dann sattelte er sie zum ersten Mal. Sakura bebte vor Angst, als sie komplett gezäumt nach draußen geführt wurde. Fast wollte sie keinen Schritt gehen, doch Kyle bewies ihr, dass er stärker war als sie. Er zog sie nach draußen, trotz allem Kraftaufwand immer noch sanft und liebevoll.
Sakura trottete geschlagen hinter ihm her. Sie kam ihren Alpträumen immer näher. Mehrmals wollte sie sich losreißen, jedes Mal hielt Kyle sie fest, mit der Hand und mit seinem Blick.
Schließlich gab sie auf.
Doch Kyle saß nicht wieder auf, sondern entließ sie nach einer Stunde wieder. Sakuras Überraschung war groß, und im dunklen Stall fand sie lange keinen Schlaf mehr. Gab es Hoffnung? Eines Tages würde Kyle sie reiten, samt Sattel und Trense. Würde sie das schaffen?
In dieser Nacht, nachdem sie zum ersten Mal seit langem einen Sattel getragen hatte, hörte Sakura Stimmen in der dunklen Stallgasse. Das waren Menschen, zwei, die sie nicht kannte. Sie rochen nach Zigaretten.
„Was ist eigentlich mit dem da?“, fragte der eine mit einer Stimme wie ein Reibeisen.
„Hmm. Sollte die nicht abgeholt werden?“, entgegnete der Andere, dessen Stimme etwas höher und sanfter war – eine Frau? Von diesem Menschen ging eine gewaltige Wolke von Parfumduft aus.
„Seltsam. Ich glaube, das war die bissige Stute. Warum ist sie noch hier?“, wunderte sich Reibeisen-Stimme.
Das Parfum seufzte. „Hat wohl wieder einer gepennt. Faule Säcke, alle miteinander.“
„Ich seh mal nach“, Reibeisens Schritte entfernten sich.
Wenig später kehrte er zurück. „Du wirst lachen, Rita. Da hat jemand versucht, die Mähre zu kaufen!“
„Echt? Wer?“, fragte Parfum.
Reibeisen schwieg eine Weile. „Kann den Namen nicht lesen. Ist zu dunkel.“
„Solange es nicht die Besitzerin war, ist es eh egal“, meinte Parfum und Sakura wich vor einer Wolke widerlichen Blumengeruchs zurück. Sie legte die Ohren an.
Parfum war an ihren Stall getreten und musterte sie offenbar. Obwohl Sakura den Menschen nicht erkennen konnte, hatte sie doch so ein Gefühl, ein Kribbeln, als wäre der Blick dieser Frau nicht eben freundlich.
„Das Mädchen will das Pferd tot sehen. Ist ein rachsüchtiges kleines Miststück – aber wer will's der armen Kleinen verdenken? Dieses Pferd ist so gut wie tot, und daran kann niemand mehr etwas ändern.“
Parfum ging, und Reibeisen folgte ihr. Sakura blieb alleine im Dunkeln zurück und senkte den Kopf.
Ihre Besitzerin – sprachen diese Menschen von Amelie? Sakura hatte sie seit jenem verhängnisvollen Tag nicht mehr gesehen. Stimmte es denn, dass Amelie sie sterben lassen wollte? Ihre Amelie, ihre wunderbare Reiterin? Es zerriss Sakura beinahe das Herz, aber sie konnte dem Mädchen auch nicht wirklich böse sein. Sie war selbst schuld.
Müde schloss sie die Augen. In Gestalt von Parfum und Reibeisen war die Wirklichkeit zurückgekehrt. Kyle hatte Sakuras Hoffnungen geweckt, aber es hatte keinen Zweck. Sie war kein Reitpferd mehr, sie war eine Gefahr. Kyle mochte sie vielleicht zähmen, aber am Ende gab es für Sakura keinen Weg zurück. Sie war verloren.