Amelie kam nicht wieder.
Sakura verbrachte einen vollen Tag alleine im Stall. Obwohl sie bereits lange Wochen so gestanden hatte, merkte sie jetzt erstmals, dass die Bewegung ihr fehlte. Umso erleichterter war sie, als Kyle am nächsten Tag erschien und sie schweigend aus ihrer Box holte.
Doch Kyle kam ihr seltsam niedergeschlagen vor. Während er sie striegelte und sattelte, sorgte sich Sakura darum, was sein Schweigen – insbesondere in Verbindung mit Amelies Zusammenbruch – für sie zu bedeuten hätte.
Dann, endlich, ging ihr auf, dass sie zu selbstsüchtig war. Nicht alles in dieser Welt bezog sich auf sie. Sie kam sich vor, als hätte sie die Augen ein weiteres Mal geöffnet und könnte jetzt mehr sehen als zuvor. Jedenfalls erkannte sie jetzt Kyles Gedanken, so klar, dass sie sich fragte, wie sie es vorher nicht hatte erkennen können.
Kyle war ein guter Reiter, und das bedeutete auch, dass er ein eigenes Pferd hatte. Die Reise zu Sakura kostete ihn Zeit, die Stunden, die er damit verbrachte, ihr zu helfen, hielten ihn von seinem eigenen Pferd fern. Natürlich war Kyle da niedergeschlagen. Er vermisste sein Pferd, ähnlich, wie Sakura ihre Reiterin vermisste, so schmerzlich vermisste. Sie wusste gar nicht, warum Kyle ihr überhaupt half, wo er doch ein eigenes Pferd hatte, sie konnte es sogar an ihm riechen. Ein Hengst, das roch sie.
Es war eine schreckliche Sache, wenn ein Pferd und sein Reiter, wenn sie ein derartig enges Band hatten, getrennt wurden. Eine solche Verbindung hatten Amelie und Sakura einmal gehabt, vor dem schrecklichen Tag. Diese Verbindung war nicht mehr zu retten, aber Kyle und seinem Pferd war etwas derartiges wohl kaum passiert, oder wenn doch, so hätte Kyle alle Fehler ausbügeln können. Sakura und ihre Reiterin hatten einander für immer verloren, doch sie wollte nicht, dass es Kyle genauso erging.
Trotzdem hatte er Geduld mit ihr. Er führte Sakura auf den Reitplatz und stieg auf ihren Rücken. Obwohl sie nervös war, gehorchte sie dem jungen Mann doch auf's Wort. Ähnlich wie bei ihrem ersten Ritt im Wald saß Kyle eine Weile einfach nur auf ihrem Rücken. Dann trieb er sie sanft an und Sakura begann, auf dem sandigen Platz im Kreis zu laufen. Sie spürte, wie Kyle sie so führte, dass ihre Muskeln zurück in ihre ursprünglichen Positionen glitten. Dann probierte er ein paar Übungen aus, die Sakura schon fast verdrängt hatte. Es waren schwierige Übungen, seitwärts laufen und dann im Schritt die Hufe in anderem Rhythmus setzen.
Sakura erfüllte die Aufgaben, so gut sie konnte. Schließlich stieg Kyle ab und gönnte ihr eine Pause, allerdings sah sie bald, dass es noch weiter gehen würde. Kyle holte die bunten Holzbalken, die zum Springen benutzt wurden. Er legte die Hindernisse zwar bloß auf die Erde, aber Sakuras Herz schlug dennoch schneller. Ein Sprung – bei einem Sprung war es gewesen …
Als würden sie den schicksalhaften Tag erneut durchleben, schmerzten ihre Beine. Sakura versuchte, vor Kyle zu flüchten, als er auf sie zu trat.
Sekunden später geriet ihr der verlockende Geruch einer Möhre in die Nase, und ehe sie sich versah, kaute sie zwar genüsslich, hatte aber Kyle auf ihrem Rücken und stand vor den Holzbalken.
Verräter!, dachte sie bei sich. Allerdings war es die Möhre wert gewesen.
Kyle ließ sie zuerst im Schritt über die Balken steigen. Er ließ ihr viel Zeit, und sie konnte vorsichtig selbst ertasten, wie hoch sie die Hufe nehmen musste. Erst, als sie sich sicher fühlte, wechselte er in den Trab und wiederholte die Übung so lange, bis Sakuras aufgepeitschter Geist sich beruhigte und das Springen zur Routine wurde. Dann erst ließ er sie galoppieren; bevor es ans Springen ging, ließ er sie jedoch viele Runden im Kreis rennen.
Sakura genoss die simple Geschwindigkeit, die Chance, ihre Müdigkeit abzuschütteln und in der Konzentration nachzulassen. Nach dieser Pause ging es wieder über Holz, erst im Trab, dann endlich im Galopp.
Obwohl die Sorge blieb, wie ein Geschwür im Magen, fand Sakura am Abend doch, dass sie einen unglaublichen Fortschritt erzielt hatte. Auch Kyle wirkte zufrieden, und seine Niedergeschlagenheit war verflogen.
Bevor er Sakura zurück in den Stall führte, blieb sie ein letztes Mal stehen und witterte. Etwas im Wind war seltsam, ein Geruch, den sie nicht erwartet hätte.
Erst viel später, schon mitten in der Nacht, als sie trotz ihrer Erschöpfung keinen Schlaf fand, ging ihr langsam auf, was der Geruch gewesen war. Sie hatte ihn nicht bemerkt, weil er die ganze Zeit da gewesen war, weil sie abgelenkt gewesen war und weil ihr der Geruch nicht fremd war.
Es war Amelies Geruch gewesen, der den ganzen Tag am Reitplatz zu riechen gewesen war. Sie war dort gewesen, und Sakura hatte sie nicht bemerkt!