Während Kyle damit beschäftigt war, Sakura zu striegeln, tauchte sie wie ein Geist in der Stallgasse auf: Amelie.
Kyle fuhr richtiggehend zusammen, als er um Sakura herum trat – unter ihrem Hals hindurch, wobei er sie geistesabwesend kraulte – und plötzlich vor Amelie stand. Sakura dagegen hatte ihre Reiterin bereits gerochen und war eher darüber erstaunt, dass es Kyle nicht genauso ergangen war.
Er rief Amelies Namen aus. Dann fragte er: „Was tust du hier?“
„Ich … hab euch gestern reiten sehen“, sagte Amelie zögernd, den Blick fest auf Sakura gerichtet. Sie kam rollend auf die Stute zu, die nicht anders konnte (und nicht anders gewollt hätte) als den Blick ihrer Reiterin gebannt zu erwidern. Amelie hatte eine Hand ausgestreckt und dann, ganz zaghaft, berührten ihre Finger Sakuras Hals, als wäre es zum ersten Mal.
Sakura schnaubte. Kyle schwieg.
„Das klingt jetzt sehr verrückt“, sagte Amelie mit einem nervösen Kichern, „aber mir ist gestern etwas klar geworden: Was du mir die ganze Zeit zeigen wolltest, aber ich glaube, ich konnte es nur alleine erkennen. Seit dem Unfall habe ich nicht mehr Sakura gesehen. Ich habe geglaubt, sie hätte sich in ein Ungeheuer verwandelt. Erst gestern habe ich gemerkt, dass das nicht stimmt. Es ist immer noch meine Sakura.“
Und dann, wie träumend, sah Amelie auf ihre Hand, als würde sie erst jetzt bemerken, dass sie das Pferd vor sich berührte. „Sie ist also doch kein Monster“, sagte sie zu sich selbst.
„Ich hatte dich nicht bemerkt“, sagte Kyle ruhig.
„Ich war im Gebüsch“, meinte Amelie und ließ ihre Hand auf Sakuras Hals ruhen, ein wenig zitternd. Sie wirkte, als müsste sie nach langer Zeit wieder lernen, wie man mit einem Pferd umging. Es war ein wenig furchterregend, genauso, als müsste wie wieder laufen oder sprechen lernen. Sie hatte etwas verlernt, was doch eigentlich ganz normal war.
Doch dann strichen Amelies Finger wieder über Sakuras Hals, unter ihre Mähne bis zum deren Ansatz, kreisten über die weichsten Stellen des hellen Fells. Sakura beobachtete ihre Reiterin dabei, die einen Ausdruck höchster Konzentration im Gesicht trug. Doch endlich schien die Angst von Amelie gewichen, die sonst immer da gewesen war, und mit jedem Herzschlag wich ein wenig mehr davon.
Kyle trat vorsichtig hinzu. „Weißt du … das Problem ist nicht etwa, dass sich Sakura verändert hätte. Es liegt auch nicht daran, dass du schwach wärst. Aber die Regel lautet, dass man nach einem schweren Unfall zurück auf's Pferd muss, und das haben deine Eltern nicht getan. Deswegen hast du noch Angst.“
Amelie schwieg eine Weile. Als sie sprach, war ihre Stimme belegt. „Sie wollten mich beschützen. Stattdessen haben sie mir das genommen, was ich am meisten wollte. Sie haben mir meine Sakura genommen!“
Amelie wollte ihre Hand zurück ziehen, doch Kyle legte seine eigene Hand auf Amelies und hielt sie fest: „Sie haben dir Sakura nicht weggenommen. Noch nicht. Es gibt einen Weg zurück.“
Amelie sah Kyle an. Sakura beobachtete die Beiden, eigentlich überzeugt, dass sie die komplizierten, unausgesprochenen Dinge nicht verstehen konnte, die zwischen diesen beiden Menschen vorgingen, doch dann stellte sie fest, dass sie es doch verstand: Dieses Wechselspiel aus Überzeugung und Hoffen.
„Zeig ihn mir“, verlangte Amelie schließlich, leise, fast flüsternd, ein Windhauch im Frühjahrsfrost.
Sakura spürte, wie sich auf ihrem Hals Kyles Finger um Amelies schlossen. „Das werde ich. Ich zeige euch beiden den Weg.“
Sakura fühlte eine Art Schauer. Der Weg zurück: Endlich kam er auf sie zu.
„Ich werde die erste Woche alle zwei Tage kommen, ich habe noch etwas zu erledigen“, erklärte Kyle, jetzt in geschäftigem Ton. „Wenn ich nicht da bin, musst du trotzdem in den Stall kommen. Striegel Sakura, führ sie, wenn möglich, ein wenig nach Draußen. Rede mit ihr. In einer Woche komme ich dann täglich, und du auch. Das hier wird ein Vollzeitjob für uns beide.“
Sakura spürte, wie Amelies Selbstsicherheit ins Wanken geriet, wie ihre Angst wiederkehrte. Kyle spürte es auch und kam dem zuvor.
„Jetzt hol das Zaumzeug.“
Amelies rollte in ihrem Metallding davon und Sakura sah ihr nach. Ihr Herz schlug schnell, aber nicht vor Angst. Sie spürte, wie Dinge geschahen, großartige Dinge.
Der Weg zurück.
Sie war also doch kein Monster.