Ehe Sakura sich versah, trabte sie auch schon durch einen abgezäunten Pfad, am Rand einer lärmenden Menschenmenge vorbei. Amelie saß aufrecht in dem Sattel, den Kyle ihr verschafft hatte. Sie lenkte Sakura durch die Windungen des Pfades, und so erreichten sie einen kleinen Vorplatz, auf dem es von Pferden und ihren Reitern nur so wimmelte.
Sakura ließ den Blick über die schnaubenden, wiehernden Pferde gleiten. Es verwunderte sie, wie ähnlich sich alle Pferde waren. In ihren Augen flammte Ehrgeiz, der Wille, zu siegen.
Nur ganz selten sah Sakura Reiter, die mit ihren Pferden sprachen, ihre Tiere mehr als nur beiläufig streichelten. Zwar hatten die Paare aus Pferd und Reiter immer ein enges Band aufgebaut, doch war es ein Band aus Ehrgeiz, keines aus Freundschaft.
Sakura mochte die anderen Pferde nicht. Sie war erleichtert, dass sich Amelie nicht mit den anderen Reitern aufhielt, sondern ihre Stute direkt zu einer der Metallboxen führte, in denen die Pferde zu warten hatten.
Hinter ihnen redeten die Reiter aufgeregt, vorne schwatzte die Menge, aber in der Box selbst wurden die Geräusche ausgeschlossen, abgedämpft. Sakura sah nach vorne, wo sich eine weite Wiese erstreckte, mit Hindernissen ausgestattet, von bunten Fahnen eingegrenzt.
Nach und nach traten auch die anderen Pferde in die Box, ihre Reiter saßen auf. Sakura lauschte auf Amelie, aber die saß im Sattel und sah starr auf die Strecke.
Sakura spürte, wie nervös Amelie war.
Obwohl alle Pferde bereit waren, geschah noch eine Zeitlang nichts. Ein Mensch redete in ein Ding, das seine Stimme laut und verzerrt über den Platz hallen ließ. Sakura konnte die Worte nicht mehr verstehen, aber die Stimme klang unaufrichtig.
Dann kam noch etwas, wo die Reiter der Reihe nach die Hände hoben und winkten und die Menge jedes Mal toste. Auch Amelie winkte, aber bei ihr war der Lärm leiser, was Sakura beruhigte.
Dann kehrte eine Art Stille ein, obwohl die Menschenmenge immer noch redete. Es gab drei Signale, während derer Amelie sich anspannte.
Sakura verstand: Es ging los.
Ein lauter Knall ertönte und vor Sakura öffnete sich die Box. Sie sprengte nach vorne, durch den Knall erschreckt. Amelie hielt sich am Sattel fest und beugte sich weit vor.
Auch ohne die Signale von Amelies Beinen zu erhalten, wusste Sakura, was ihre Reiterin erwartete: Den schnellsten Galopp, den ihre Stute nur rennen konnte. Also warf sich Sakura nach vorne, ganz so, wie sie es in den letzten Wochen mit Kyle trainiert hatten.
Sie schäumte, aber fast sofort wurde ihr das Rennen vertraut. Ihre Muskeln streckten sich im richtigen Rhythmus, Amelies stoßweises Atem trieb Sakura an.
Gemeinsam mit allen anderen Pferden ging es auf die Wiesen hinaus, den Wind in der Mähne. Sakura suchte nach dem ersten Hindernis und fand es: Ein breiter Graben voller Schlamm. Sie setzte darüber hinweg, hörte neben und hinter sich das Donnern anderer Hufe.
Vor ihr waren nur vier andere Pferde. Sakura heftete den Blick auf die Hinterhufe der vor ihr Laufenden. Der Ehrgeiz hatte sie gepackt, so wie jedes andere Pferd auch. Es war wie ein Fieber, das um sich griff.
Das Donnern der Hufe wurde zu einem wilden Herzschlag. Sakura flog über einen Baumstamm hinweg, der quer auf dem Pfad lag. Dann führte der Weg auf ein Stoppelfeld. Die Pferde wurden von dem ungewohnten Untergrund ausgebremst. Sakura tänzelte über die trockenen Halme, die in ihre Hufe stechen wollten. Sie verringerte ihr Tempo kaum und holte zu dem Pferd direkt vor ihr auf. Es war ein grauer Hengst mit schwarzer Mähne, der ihr einen verwunderten Blick zuwarf, als Sakura ihn überholte.
Hinter dem Stoppelfeld ging es einen Hang hinauf, und auch hier glänzte Sakura. Sie überholte zwei weitere Pferde bis sie den Hang überschritten hatte. Dahinter senkte sich das Gelände einem aufgewühlten Felsgrund voller Steine entgegen. Darüber preschte ein anderes Pferd, ein schlanker, schwarzer Hengst, so schnell wie Sakura, wenn nicht sogar schneller. Das Pferd hatte alle anderen weit hinter sich gelassen. Rocket, auf dem Rücken Viktoria.
Während Sakura noch die Kuppe des Hügels überwand, warf der Hengst einen Blick zurück. Aus seinen hochmütigen Augen begegnete Sakura solch ein brennender Hass, dass sie ins Stolpern geriet.
„Sakura“, sagte Amelie über dem keuchenden Atem. „Sakura, weiter.“
Sakura riss sich zusammen und stürzte sich den Hang herunter, im Trab, denn der Galopp wäre zu riskant gewesen. Sie sah Rocket vor sich über das Feld rennen, schnell, schwarz und schlank.
Auch Viktoria sah zurück, und auf Sakuras Rücken zuckte Amelie zusammen. Aber Sakura legte nur die Ohren an und fiel am Fuß des Hanges wieder in den Galopp.
Sie hatte keine Angst vor Rocket. Und auch Amelie würde keine Angst vor Viktoria haben. Schnaubend und schnaufend rannte sie weiter.