Es waren Geräusche, die nie zuvor in Takjins kleinem Heimatdorf erklungen waren.
Birkengrund war ein ereignisloses Örtchen. Allein bis zur großen Waldstraße war es ein halber Tagesmarsch, die Festung von Hühnertal war gerade noch auf der Kuppe eines niedrigen Berges im Wald zu erkennen. Es schien, als wäre Birkengrund von der ganzen Welt abgeschieden, dieses kleine Dörfchen weniger Hütten, die sich an den Rand des großen Sees schmiegten.
Nun ertönte Lärm im Dorf: Das Rufen fremder, rauer Männerstimmen, Schritte, das Klirren von Waffen. Takjin hatte von jeher einen leichten Schlaf gehabt, also fuhr er mit plötzlichem Schrecken auf, heraus aus einem Traum, der ihm schon entglitt, ein Traum von Gesichtern, Wesen, Orten und Worten …
Er schob den Traum beiseite, schwang sich aus dem Bett und trat zum Fenster seiner kleinen Hütte. Was er draußen sah, ließ ihn seinen Atem anhalten: Soldaten auf dem Marktplatz, Männer in grünen Uniformen, mit Speeren und Schwertern fuchtelnd.
Was suchten Soldaten in Birkengrund? Sie waren schon einmal hier gewesen, bei Kriegsbeginn, und hatten alle kampffähigen Männer mitgenommen.
Warum waren sie zurückgekehrt?
Takjins Herz schien zu erfrieren, als er sah, dass die Soldaten mehrere alte Männer aus ihren Hütten zerrten und in unordentliche Reihen zwangen. Desgleichen verfuhren sie mit einigen Jungen, fünfzehn, sechzehn Jahre alt, nicht älter als Takjin.
Er starrte weiter auf die Szene, im Begriff, zu verstehen: Die Soldaten waren zurückgekehrt. Und Takjin war vierzehn, was ihn rein technisch betrachtet in die Lage versetzte, ein Schwert zu schwingen. Seit er elf war, lebte er allein in dieser Hütte, dessen überdrüssig, von einem Haushalt zum nächsten gereicht zu werden wie ein unerwünschtes Haustier. Auch das würde die Soldaten überzeugen, ihn für waffenfähig zu halten. Sie rekrutierten neue Kämpfer. Takjin würde einer dieser Kämpfer sein!
Er sprang vom Fenster zurück, gerade, als einer der Soldaten einen Blick herüber warf. Im Halbdunkel seiner Hütte vor jedem Blick verborgen sah Takjin, wie der Soldat sich an einen der neuen Rekruten wandte. Der alte Fischer Joren hörte sich die Frage des Soldaten an und betrachtete Takjins Häuschen am Dorfrand – die Hütte einer Kräuterfrau, die vor vielen Wintern gestorben war – aus seinen traurigen, runzligen, von Altersflecken umrahmten Augen. Dann zuckte er die Schultern, während er dem Soldaten Antwort gab.
Takjin wollte den Inhalt dieser Antwort nicht erraten. Er wusste, dass ihm wenig Zeit blieb.
Er öffnete die Tür und stand draußen, nichts weiter am Leib als die Lederhose, in der er geschlafen hatte. Seine Haare waren noch zerzaust, die Augen verklebt, seine Bewegungen ungeschickt und seine Gedanken verwirrt. Er stand auf dem Kiesweg, die Steine schnitten kalt in seine bloßen Füße. Er hörte die Schritte des Soldaten näherkommen, konnte und wollte sich nicht umdrehen.
Es ist ein Traum!, sagte er sich im Stillen. Nur ein böser Traum, aus dem er erwachen würde.
Seine Hand fand wie von selbst den Griff des Holzschwertes, das neben der Tür lehnte. Takjin warf einen verwirrten, schlaftrunkenen Blick in seine Hütte, die Hütte, die leer gestanden hatte, bis Takjin sie vor drei Jahren bezogen hatte.
Er sah sein Bett, seine kleine Truhe mit Kleidung und den winzigen Schrank mit ein wenig Essen, den Ofen, der ihn im Winter wärmte, den zerschlissenen Teppich auf dem Boden. Das hier war sein Zuhause.
„Hey, Junge! Wie alt bist du?“, der Soldat war näher gekommen. „Hast du mehr als zwölf Sommer gesehen? Dann kannst du dir etwas Gold verdienen.“
Der Soldat blieb stehen. Takjin wirbelte herum, als das Geräusch der Eisenschuhe auf dem Kies plötzlich stoppte, sah den jungen Soldaten an, dem ein Auge fehlte. Ein grässlicher Verband verdeckte die Kopfseite, doch auf dem Stoff prangte ein brauner Fleck und Takjin nahm den Geruch war, den fauligen Gestank einer entzündeten und eitrigen Wunde.
„Ein schönes Schwert hast du da. So eines hatte ich auch mal“, sagte der Soldat. Er konnte Takjins Waffe sehen, das Schwert aus Tannenholz und Haifischzähnen. Takjin hatte es unbewusst vor sich gestreckt, die Spitze nach unten zeigend. Das Schwert hing ungelenk in seiner Hand, nutzlos.
„Willst du mal mein Eisenschwert halten?“, fragte der einäugige Soldat und tastete nach seiner Waffe. Eine Geste ohne jede Bedrohlichkeit, scheinbar freundlich. Takjin wusste, dass es ein Vertrag mit dem Teufel wäre, die Waffe zu berühren. Wie eine Fliege, die den Spinnenfaden berühren will, weil er so glitzert.
„Sie locken dich mit Gold und Stahl“, hatte Dara, die Frau des Schmieds immer gesagt. „Aber sobald du ihre Geschenke annimmst, bist du ihr Rekrut. Sie stecken dich in eine Uniform und schicken dich fort in den Krieg. Der Krieg ist wie der Nether. Du wirst nicht zurückkehren.“
Takjin machte einen Schritt nach hinten. Sein Herz raste, seine Gedanken rasten noch mehr. Er konnte nicht klar denken.
„Du brauchst keine Angst zu haben“, sagte der Soldat freundlich. „Ich tue dir nichts. Wie heißt du?“
Takjin brachte keinen Laut über die Lippen. Er sah, dass andere Soldaten zu ihnen herüber kamen. Wie Wölfe, die ein verwundetes Schaf riechen. Sie kreisten ihn ein, wollten ihn umzingeln … So viele Männer hatten das Dorf verlassen und waren nicht zurückgekehrt. Geblieben warne nur die Alten, die Gebrechlichen, die Ungeeigneten - und einige, die mit grausamen Verletzungen heimgekehrt waren.
„Nein!“, schrie er und riss sich endlich los. Er machte auf dem Absatz kehrt und rannte, einfach in den Wald hinein. Er hörte die Soldaten fluchen, hörte ihre Eisenstiefel, als sie ebenfalls losliefen.
Dornenranken, Äste und Steine, Zweige und Nüsse bohrten sich in Takjins nackte Füße, als er flüchtete. Er hörte die Soldaten hinter sich durch das Gebüsch brechen. Er wusste, dass sie ihm folgten. Und wenn sie ihn fingen, wäre alles zu spät. Er würde in den Krieg ziehen und sterben, so wie Unzählige vor ihm.
Takjin wollte nicht sterben. Also rannte er, was seine schmerzenden Sohlen und müden Beine hergaben, er sprang über umgefallene Birkenstämme, sprintete durch Felder von Brennnesseln, durch Gräben schlammiger Erde, er lief durch Farne, die größer waren als er, und überquerte kleine Lichtungen im Wald.
Er kehrte seiner Hütte am Waldrand und den Häusern von Birkengrund den Rücken zu. Er rannte wie ein aufgescheuchtes Reh, das Spielzeugschwert immer noch in der Faust, seine einzige Waffe.
Takjin kannte die Wälder um Birkengrund herum. Er fand schnell einen verborgenen Pfad in das trügerische Dickicht hinein, kroch unter Stechginsterbüschen und Eibenbäumen hindurch, während das Blut in seinen Ohren rauschte und sein keuchender Atem winzige Erdkrümel über den Boden springen ließen.
Er konnte den nassen Morast förmlich schmecken, während der Dreck seine Ellbogen und Knie verschmierte. Hinter ihm fluchten die Soldaten lauter, als die Dornenranken nach ihren Rüstungen und Mänteln griffen.
Der Wald war Takjins Spielplatz gewesen, eine Heimat für den Waisen ohne Eltern. Jeder im Dorf hatte sich um ihn gekümmert, aber niemand hatte sich wirklich verantwortlich gefühlt. Und so war Takjin wild geblieben, ein wildes Kind.
Er kroch durch das Gebüsch, dann schlug er einen Haken, als die Stimmen hinter ihm leiser wurden. Die Soldaten hackten sich durch das Gebüsch, doch sie würden Zeit brauchen. Takjin kletterte über Steine, um seine Spuren zu verwischen, und rettete sich dann in das Geäst eines alten Baumes.
Er wartete. Er wartete lange, obwohl sein Magen zu knurren begann, obwohl er fror, nur mit einer Hose bekleidet, wie er war. Er hörte, wie die Soldaten den Wald durchkämmten, immer und immer kamen sie wieder. Takjin wartete in seinem Versteck, auf einem breiten Ast hockend wie eine Eule, bis die Nacht hereinbrach und die Soldaten ihre Suche aufgeben mussten. Die Dunkelheit bot Takjin die Deckung, die er brauchte.
Und so kletterte er blind, nur dem Gespür nach, aus seinem Baum und schlich über die kalte, schlammige Erde zurück zum Dorf, die Haut schwarz verschmiert mit getrocknetem Matsch.
Er glaubte, nun in Sicherheit zu sein.