Es war bitterlich kalt.
Takjin lief bis in den Morgen hinein, ohne auf eine der zahlreichen Gefahren der Wälder zu stoßen. Erschöpft schleppte er sich weiter, bis er vor Müdigkeit kaum noch einen Fuß vor den anderen setzen konnte. Mit einem Mal entwickelte sich die leichte Aufgabe des Gehens als ungemein schwer und kompliziert, so als hätte Takjin es niemals gelernt. Dabei hatte er die Geschichten gehört, wie alle Frauen des Dorfes eine lange Schlange gebildet hatten, ein Spalier, durch das der kleinkindliche Takjin damals laufen sollte, zwischen ihnen allen hindurch, bis er schließlich zu Gehen gelernt hatte.
Eine überwältigende Traurigkeit überkam ihn, dicht gefolgt von dem leeren Gefühl, das der Verrat in seinem Herzen hinterlassen hatte. Sie hatten ihn einfach so an die Soldaten verraten, ohne überhaupt darüber nachzudenken, dass es sein Todesurteil gewesen wäre – oder schlimmer noch: In dem Wissen, dass sie damit Takjins Tod bewirken würden.
Er sank unter einem Baum zusammen, von dessen Ästen kalter Regen tropfte. Inzwischen regnete es nicht mehr, doch die Bäume und Pflanzen waren noch durchnässt, ihr stetiges Tropfkonzert erfüllte den Wald. Takjin zog die Knie vor die Brust und schlang die Arme um die Schienbeine, dann zerrte er die Decke über sich, bis nur noch seine Zehen und seine Nasenspitze aus der groben Wolle herausragten.
Er konnte nicht zurück. Alles, was er besaß, war die Decke, durch die der Regen mühelos hindurch drang. Die Decke und sein Schwert aus Holz mit den Haifischzähnen daran. Alles andere, die ganze Einrichtung seiner Hütte und sein kompletter Besitz, waren unerreichbar weit fort.
Takjin hatte alles verloren. Er weinte heiße Tränen in seine Decke.
Irgendwann schreckte er aus einem zusammenhangslosen Albtraum auf. Die Traumbilder verblassten sofort, doch es blieb das unbestimmte Gefühl einer Bedrohung. Takjins Herz raste, seine Finger zitterten. Blind sah er in die Nacht hinaus, atmete keuchend durch den halb geöffneten Mund.
Er schmeckte es in der regenfeuchten Luft: Eine feine Note nach Moos und nassem Gras. Dann hörte er die Schritte.
Entsetzt drehte Takjin sich um und griff nach seinem Schwert, das sich in der Decke verhakte. Aus dem Schatten der Bäume hinter ihm kam ein groteskes Wesen, das er nur aus den Geschichten der Jäger kannte: Es war schmal und schlank, bestand im Grunde nur aus einem Hals, auf dem ein kleiner Kopf mit einer jammernden Grimasse von einem Gesicht saß. Der Körper war so schlank wie der Hals, vier winzige Pfoten trugen den Creeper vorwärts. Takjin saß am Boden, vor Schreck wie gelähmt. Die Decke hatte er sich im Schlaf um die Beine gewickelt, er war gefesselt. Der Creeper kam näher, blähte sich auf und zischte, während seine grüne Haut immer heller wurde, als er sich ausdehnte.
Takjin warf sich im letzten Moment zurück und zerrte die Decke über sein Gesicht. Der schwere Stoff schützte ihn vor der Druckwelle der Explosion, trotzdem wurde der Junge durch die Luft gewirbelt und krachte in einen Baum. Er hörte ein verdächtiges Knarzen, im nächsten Moment schlugen Äste auf ihn ein. Takjin rollte sich zusammen und riss die Hände vor das Gesicht.
Als alle Geräusche verstummten, wagte er es, sich aufzurichten. Er fand sich in einem Gewirr aus Ästen und Blättern wieder, die Krone eines Baumes, den der Angriff des Creepers gefällt hatte. Der Stamm hatte Takjin nur knapp verfehlt.
Langsam richtete er sich auf und betrachtete seine Arme. Sie waren von Kratzern übersät, ebenso sein Bauch und die Hose. Zum Glück fand er sein Schwert bald wieder und machte sich im Stillen Vorwürfe, dass er nicht wenigstens versucht hatte, es einzusetzen. Er kniete sich hin und befreite das Schwert aus dem Stoff der Decke und noch einem anderen, grünen Fetzen: Takjin hatte völlig vergessen, dass sich noch ein Kleidungsstück um den Griff gewickelt hatte, nun entwirrte er ein hellgrünes, langärmeliges Hemd. Es war feucht und dreckig, und als Takjin es überstreifte, wurde ihm für einen Moment eiskalt, bis sich seine Haut an den klatschnassen Stoff gewöhnt hatte.
Die Decke allerdings bestand nur noch aus Fetzen, die mit den Überbleibseln des Creepers eine unheilige, unheilvolle Verbindung eingegangen waren. Der größte Fetzen würde vielleicht noch als Stoff für einen Handschuh reichen, doch er war so stark mit Creeperblut verklebt, dass Takjin ihn liegen ließ. Ernüchtert musste der Junge feststellen, dass der Wald für ihn ein ebensolches Todesurteil war wie die Armee. Nun ging gerade die Sonne auf; dass er die Nacht überlebt hatte, schuldete Takjin jedoch einzig und allein seinem unverschämten Glück. Er blickte an sich herab. Alles, was ihm geblieben war, waren eine ärmliche Hose, ein durchnässtes Hemd und ein Holzschwert.
Für einen Moment wollte ihn der Mut verlassen. Er würde in der nächsten Nacht einen Ort brauchen, um sich zu verstecken; ohne Rüstung, Waffen und vor allem Essen würde er jedoch nicht sehr lange überleben. Takjin sah sich um und bemerkte die tiefen Schatten unter manchen der Bäume. Kreaturen der Nacht, die im Sonnenlicht brannten, konnten nah der Stämme trotzdem überleben … und Takjin wusste nicht, in welcher Richtung sicherere Lande lagen. Wiesen wären vielleicht ein guter Anfang, weite, ebene Flächen, wo er jeden Angreifer kommen sehen würde.
Er packte das Schwert fester und entschied, dass er erst aufgeben würde, wenn er tot war. Er war nicht weggerannt, um in diesem Wald sein Ende zu finden. Entschlossen – allerdings auch sehr viel wachsamer als zuvor – ging er los.
Takjins Kindheit war behütet und geschützt gewesen. Birkengrund war ein kleines, entlegenes Dörfchen. Generationen von Jägern hatten die umliegenden Wälder gesichert, indem sie sie mit Fackeln ausleuchteten, Höhlen verschlossen und trotzdem jede Nacht den Kampf gegen die Monster der Dunkelheit aufnahmen. Takjin hatte Geschichten von Zombies und Skeletten, Creepern und Endermännern, Spinnen und Hexen gehört, doch begegnet war er ihnen nie. Wie alle Jungen hatte er sich vorgestellt, einmal ein Jäger zu werden und gegen die Monster zu kämpfen und er hatte alles gelernt, was es zu erfahren gab. Doch ein Kampf im Spiel gegen Nachbarsjungen, deren Stärken und Schwächen er kannte – das bereitete ihn noch lange nicht darauf vor, eines Tages mutterseelenallein durch das Unterholz zu streifen, wenn in jedem Schatten etwas lauern konnte, das ihn als delikate Mahlzeit ansah.
Der Morgen verging und Takjin begegnete lediglich ein paar Riesenspinnen. Die Monster, groß wie ein Mensch, waren zwar furchteinflößend, am Tage aber auch vollkommen harmlos. Die Jäger bezeichneten sie als zweigeteilte Seelen, Werwesen, die im Schein des Vollmondes jagten und im Tageslicht so zahm wie Hunde waren. Andere, bösere Zungen sagten auch, dass die Spinnen zu feige seien, um auch tagsüber zu ihrer grausamen Natur zu stehen.
Takjin kümmerte sich nicht darum, was die Wahrheit war: Er ließ die Spinnen in Frieden und war nur dankbar, dass ihn nicht noch ein Creeper heimsuchte. Diese schrecklichsten aller Monster waren selbst dem Licht gegenüber unempfindlich: Lautlos, schnell und tödlich, intelligent und unaufhaltsam.
Er lief vor allem, um die Einsamkeit zu verdrängen, die von ihm Besitz ergreifen wollte. Jahrelang war er Kind des ganzen Dorfes gewesen, hatte alle Frauen seine Mütter und alle Männer seine Väter nennen können – plötzlich war er ein Niemandskind, ohne Familie, ohne Freunde, mit niemandem, der auf ihn aufpasste. Der Schock darüber schmerzte Takjin so sehr, dass er kaum daran denken konnte – würde er es tun, würde er vermutlich an dem Kloß in seinem Hals ersticken. Es war ungerecht, grausam und mörderisch, dass er ohne Vorwarnung von allen verlassen worden war. Das war zu viel, als dass ein Junge es hätte ertragen können und so dachte er einfach nicht daran und kümmerte sich nur um den nächsten Schritt, um das nächste Stückchen dunkleren Waldes.
Er wählte einen Weg, der ihn bergab führte, da er hoffte, so auf Wiesen zu treffen. Am Nachmittag allerdings musste er einsehen, dass er sich getäuscht hatte. Keine Wiesen lagen vor ihm, sondern die Sümpfe vor den Wellen des Ozeans, aus denen auch die Haizähne an seiner Waffe stammten. Der faulige Geruch schlug ihm entgegen, als Takjin aus dem Wald heraustrat. Vor ihm erstreckte sich der dunkle Sumpf, bestückt mit niedrigen, dunkelgrünen Bäumen und bevölkert von Krokodilen und Komodowaranen und von Mythen über trügerische Pfützen und Hexenhäusern.
Takjin hielt inne. Vor ihm befand sich eine der berüchtigsten Gegenden, die er kannte. Hinter ihm lag der Wald, in dem er bereits angegriffen worden war. Unsicher verharrte er und versuchte abzuwägen, welcher Weg weniger Risiken bot. Klar, der Sumpf war voller gefährlicher Tiere, doch andererseits war es eine flachere Landschaft – wenn er es in einen der Bäume schaffte, wäre er vielleicht besser dran als im Wald, wo die Bäume gefährlich nah beisammen standen und ihn viele Monster auch über die Äste erreichen könnten.
Die Zeit für eine Entscheidung drängte, denn die Sonne stand bereits gefährlich tief. Nach einem letzten Blick auf die lauernden Krokodile entschied Takjin jedoch, dass er sich lieber in das Geäst einer Birke rettete.
Wie bereits einen Tag zuvor, als die Soldaten ihn gesucht hatten, kletterte Takjin in einen Baum hinein und suchte sich einen bequemen Platz auf den höheren Ästen.
Die Baumkrone schwankte im Wind, die Blätter raschelten. Es klang beinahe wie das Prasseln eines Lagerfeuers, wenn die Männer und Frauen auf dem Dorfplatz zusammenkamen, um Geschichten zu erzählen. Mit solchen und ähnlichen wehmütigen Gedanken von Gemeinsamkeit und Wärme schlief Takjin ein, doch es sollte nicht sein, dass er lange schlief. Wieder und wieder weckte die unerbittliche Kälte ihn auf, die ihm in Mark und Bein drang. Und seine Hilflosigkeit lockte schließlich auch die ersten Räuber an.