„Bist du wach, alter Freund?“
„Ja, mein König.“ Merin lächelte, denn er war seit Sonnenaufgang wach. So hatte er auch mitbekommen, wie der König seit Stunden durch das Schloss stromerte und darauf wartete, dass Merin in seiner Unterkunft in der Feste am Berghang aufwachte.
Jetzt trat Chirogan ein und musterte Merin, der eben die letzten Aufzeichnungen abschloss.
„Du hast mich warten lassen!“
„Ich habe eine faire Balance zwischen meinem König und seinen Finanzen suchen müssen, die beide nach meiner Zeit verlangten“, antwortete Merin. Er liebte die höfische Sprache. Ebenso sehr, wie Chirogan sie ablehnte.
„Lass uns Sturmtänzerin holen!“, drängte Chirogan.
„Sofort. Ich werde nur kurz Wildfang holen.“
„Oh nein! Du wirst laufen. Alles andere wäre ungerecht.“
„Was?“, fragte Merin verwirrt.
Chirogan grinste breit. „Ich fordere dich zu einem Wettrennen mit anschließendem Wettreiten heraus!“
Merin war einen Moment sprachlos.
„Nein!“, sagte er dann. „Nein, nein, nein, ich werde auf keinen Fall ...“
„Um der alten Zeiten willen!“, verlange Chirogan. „Wir laufen bis zum Stall. Dann nehme ich Sturmtänzerin und du den Esel. Immerhin rennst du schneller als ich!“
„Majestät, ich bitte Euch ...“
„Keine Diskussion!“, sagte Chirogan fest und fasste Merin am Ellbogen. „Und kein 'Majestät'. Komm. Oder hast du Angst, Waldläufer?“
„Ihr seid der König, Chiro. Ihr solltet nicht ...“
„Es ist mir aber egal, was ich sollte und was nicht“, meinte Chirogan plötzlich heftiger. „Ich will aus diesem Schloss heraus und wenigstens einige Stunden glauben, dass ich kein König bin.“
Merin seufzte. Irgendwo konnte er seinen Freund verstehen. Er gab den Widerstand auf und ließ sich über die Brücke und nach draußen an den Waldrand ziehen, der nah an den Ausläufern der Kluft lag. Nun, es gab ja noch Sturmtänzerin, die auf Chirogan aufpassen würde.
„Ab hier“, sagte Chirogan und zeichnete eine Linie in den Dreck. „Bis zu den Ställen oben im Schloss. Wer zu spät kommt, darf die Latrinen putzen!“
Merin lachte bei der Vorstellung, den König bei den Reinigungsarbeiten zu sehen. Bis ihm einfiel, dass er den Esel hatte.
„Abkürzungen sind erlaubt?“ Der Wald wäre eine kleine Abkürzung, wenigstens für einen Läufer. Für einen Reiter standen die Bäume zu dicht beisammen.
Chirogan setzte den Fuß an die Linie. „Natürlich.“
Merin setzte die Fußspitze neben Chirogans. „Eins ... zwei ... drei!“
Sie rannten los.
Der Wind rauschte in Merins Ohren. Er hatte unterschätzt, wie schnell er noch war und geriet für ein paar Schritte tatsächlich in Angst. Dann aber fand er zu seinem Rhythmus und flog dahin, in einer Geschwindigkeit, die er notfalls lange halten konnte – oder immerhin doch lang genug, um die Ställe zu erreichen und noch reiten zu können.
Der König stürmte rücksichtsloser vor, brach durch das Unterholz, das Merin umrundete, und sprang über Baumstämme, die der ehemalige Waldläufer mied, da sie verfault sein könnten.
Doch Chirogan hielt sich noch in Merins Nähe. Sie mussten eine Steigung überwinden, eine kleine Klippe, um dann bergab auf die Wiesen und zu den Ställen zu gelangen. Und nur Merin kannte den Wald so gut, dass er die richtige Stelle sofort fand, wo die Klippe zwar steil, aber nicht bröckelig war.
Er kletterte als erster hinauf und Chirogan folgte ihm auf den Fuß. Merin war erstaunt, wie leicht es ihm noch fiel. Fünf Jahre als Berater des Königs wurden verdrängt, als sein Körper sich an die vertrauten Bewegungen und Vorsprünge im Stein erinnerte. Leichtfüßig erreichte er die Klippe – und blieb stehen.
„Was tut du da?“, rief Chirogan, der erst die Hälfte überwunden hatte. „Nun lauf schon!“
„Majestät“, sagte Merin. „Und wenn du stürzt?“
Er konnte Chiro nicht an dieser Klippe zurück lassen. Denn falls der König stürzte und sich verletzte, würde er alleine in einem Wald liegen, den niemals jemand betrat – kein Jäger, kein Waldläufer, kein Beerensammler, kein Förster, ja, nicht einmal ein Bauer, der sein Vieh über einen kürzeren Weg treiben wollte, solange es noch keine Straßen gab – denn viele fürchteten sich noch vor den Geschichten, die man sich über den Namenlosen Wald erzählte.
Merin und Chiro hatten den Wald Großvaters Bart getauften, denn so erschien es aus der Ferne, wo ihre Hütte gestanden hatte: Die Baumgrenze wand sich den Berg hinab, dessen Kuppe damals kahl wie der Kopf eines alten Mannes gewesen war, und sein grünes Barthaar, durchsetzt mit dem dunkleren Laub von Birken, floss über Hügel und durch Täler, bis der Wald so abrupt endete, als würden jedes Jahr fleißige Förster ihn stutzen. Jetzt freilich war der Großvaterberg mit einer Burg gekrönt worden, Chirogans Festung. Sein Blick über das Land war schon damals majestätisch gewesen, jetzt ließ es sich nicht mehr bestreiten: Auf der Glatze hatte die Burg des Königs gefehlt.
Merin beugte sich herab und zog Chiro das letzte Stück nach oben, als dieser, keuchend und glücklich, den oberen Teil der Klippe erreichte.
Sie rannten nicht sofort weiter.
„Du bist sorgenvoll, alter Freund“, klagte Chirogan. „Früher warst du es nicht.“
„Früher waren wir beide jung“, entgegnete Merin. Und du warst kein König, ich nur ein Waldläufer, setzte er in Gedanken hinzu. Seitdem hatte er Dinge gesehen. Es war Schreckliches darunter gewesen. Ihm war irgendwann während ihrer Abenteuer aufgegangen, wie schnell der Tod doch kommen könnte – oder jedes andere Unglück.
„Nun, Euer Großmut gibt mir einen Vorsprung. Sturmtänzerin wird Euren Esel abhängen, Ihr werdet sehen. Dann wird auch das hier meinen Sieg nicht abmildern.“ Chirogan lachte und lief los.
Merin folgte dem Jüngeren wie früher und stellte fest, dass er tatsächlich nicht mehr sorglos durch den Wald springen konnte, um nach wilden Tieren zu suchen – es gab schon lange keine mehr.
Sie eilten durch den Wald. Merin, der jetzt wusste, dass kein gefährliches Terrain mehr folgte, wurde schneller und überholte Chirogan. Der König hatte Recht – wenn er siegen wollte, müsste er die Koppeln schneller erreichen. Dann bestand wenigstens die kleine Chance, mehr als nur Sturmtänzerins Staubwolke zu sehen. Merin rannte wie früher, schnell und ausdauernd, sprang über die Unebenheiten des Waldes hinweg wie ein Hirsch.
Dies war sein Wald, seine Heimat. Wäre er nicht Berater geworden, so wäre es seine Aufgabe, die Bäume zu stutzen und Tiere hier anzusiedeln. Großvaters Bart mochte ein kleiner Wald sein, umgeben von Wiesen, auf denen die Stadt nun wuchs, aber es war trotz allem Merins Wald.
Er hängte Chirogan ab, erreichte die Ausläufer des Waldes und sprintete über die Weiden. Bald erreichte er die Koppel, auf der Sturmtänzerin und Capricorn Seite an Seite standen. Keines der Tiere war gesattelt, aber Merin fand schnell das prächtige, mit Gold und dem Blau des Königs verzierte Geschirr, das Sturmtänzerin tragen würde. Daneben lag eine grobe Satteldecke, zwei Satteltaschen und ein einfaches Halfter. Eilig zäumte Merin den Esel, der alles stoisch über sich ergehen ließ.
Was war das doch für ein Hohn, dachte er bei sich, als er Capricorn aus der Koppel führte. Was mochten die Leute denken, die den Berater des Königs auf einem Esel vorbeireiten sahen?
Am Waldrand, so eben noch in Sicht, tauchte eine Gestalt auf. Merin erkannte Chirogans blauen Waffenrock und schwang sich auf den Esel. Er winkte seinem Freund und der winkte zurück. Ihm war offenbar die Luft ausgegangen, Merins einziger Vorsprung. Er gab Capricorn die Fersen und ritt los.
Der Esel war deutlich langsamer als ein Pferd, teilweise schon bockig. Merin, der stets ein gutes Verhältnis zu Tieren gehabt hatte, spornte den grauen Esel an und brachte ihn erst in einen holperigen Trab und dann in einen Galopp, der langsamer als der Trab war. Zähneknirschend ließ er das Tier einen Gang zurück fallen und sah, wie die Weiden, Koppeln und Ställe quälend langsam zurück fielen. Er hopste unelegant auf dem groben Sattel herum, als wäre er noch keinen Tag seines Lebens geritten. Capricorn schnaufte und verdrehte die langen Ohren im Rennen. Als Merin zum letzten Mal zurück sah, erreichte Chirogan soeben die Koppel.
Nun würde er Sturmtänzerin satteln und ihm dann folgen. Mit einem lauten Ruf trieb Merin den Esel an.
Es blieben noch knapp zwei Meilen vor ihm und er wollte seine Niederlage wenigstens nicht zu schlimm gestalten. Über den geraden Hals des Esels gebeugt richtete er seinen Blick auf den Horizont. Sie umrundeten Großvaters Bart und dann lag das hügelige Land vor ihnen, über das Chirogans Burg dereinst wachen würde.
Wieder einmal ritt Merin über die Brücke, die noch schmal und ohne Geländer war. Bei starkem Wind schwankte sie bedrohlich, und der Wind frischte auf. Als Merin zurück sah, konnte er noch keine Spur von Chirogan sehen – doch möglicherweise war der junge König nur hinter einem Hügel und näherte sich im schärfsten Galopp.
Merin trieb den Esel über die Brücke und durch die Festung, in deren Keller auch sein Gemach war – sowie ein verborgener See im Berg, den man durch einen Geheimgang betreten konnte, und der geheime Pfad, der durch den Berg zu Chirogans Burg führte. Ein Gang, den ein mutiger Mann alleine gehen konnte, um den König zu warnen – oder ein feiger Mann, um dem Thronsaal zu entfliehen. Merin hatte unzählige Geheimgänge in den Palast einbauen lassen.
Merin nahm jedoch die breite Straße. Die Hufe des Esels klapperten laut, besonders in dem Tunnel durch den Berg. Merin glaubte, dass Chirogan ihn jeden Augenblick überholen musste.
Dann erreichte er den Teil des Weges, der außen am Berg entlang führte und wenig später trottete der Esel durch die Pforten, in denen noch die Türen fehlten.
Merin ritt zum Stall. Chirogan musste ihn überholt haben. Seine Worte von einer Abkürzung fielen dem Waldläufer wieder ein. War Chirogan etwa durch den Wald geritten? Vermutlich saß er schon im Thronsaal und lachte vor sich hin.
Merin trieb den Esel in den Stall und stellte ihn in die kleinste der drei Boxen. Wildfang schnaubte ihn freundlich an und fragte sich wohl, wann es den nächsten Ausritt geben würde.
Die dritte Box, wo das königliche Ross stehen sollte, war leer.
Das Entsetzen griff mit kalten Händen nach Merins Herz. Er lief durch den Ring des Unteren Palastes und traf niemanden an, nicht einmal eine Wache oder einen Baumeister. Dann kletterte er zu dem Fundament des Thronsaales, das kaum zu erreichen war.
Auch hier war Chirogan nicht. Voller Sorgen lief Merin den breiten Weg wieder nach unten. Reagierte er über? War er vielleicht tatsächlich schneller als Chiro gewesen?
Er sprang über die breiten Stufen.
„Majestät!“, rief er laut. Falls Chirogan geritten käme, würde er um die Kurve preschen und Merin vielleicht zu spät sehen. Doch auch der Tunnel durch den Berg war menschenleer.
Merin lief den Tunnel hinab, die trockene Luft des Berges im Mund. „Mylord! Majestät!“
Ein Teil seines Kopfes hoffte, dass niemand ihn so sah. Das Volk würde in Panik geraten oder aber über den dummen Merin lachen, und beides wollte er nicht. Schon allein, weil dann Chirogans junge Herrschaft ins Schwanken geraten könnte.
Bis zur unteren Feste begegnete Merin keiner Menschenseele. Dort, wo die Feste der Krone wachsen würde, zeigten sich die ersten Arbeiter und sahen ihm mit Missfallen zu, als er über die zitternde Brücke hastete. Der Wind frischte auf und brachte den kühlen Geruch von Schnee mit sich.
Merin drosselte seine eiligen Schritte und gab sich alle Mühe, einen Rest von Würde zu bewahren, solange ihn die Arbeiter beobachteten.
Dann stand er vor der unfertigen Burg und sah auf das Land. Der Wald zur Linken, dann das weite Grasland mit den Schluchten.
Wo war Chirogan? Der Wald war zu eng für ein Pferd, aber möglicherweise hatte es der König in seinem Leichtsinn versucht, trotz der Klippe. Aber wenn Merin durch den Wald lief, mochte der König sich über die Wiesen nähern und sie würden einander verpassen.
Mit einem Fluch entschied sich Merin dafür, den Waldrand zu nehmen. Immer wieder huschte er zurück und spähte auf die weiten Wiesen, deren Gräser sich unter dem auffrischenden Wind beugten wie trauernde Witwen. Der Krieg war noch im Land, dachte Merin bei sich. Der Krieg und die Unsicherheit.
„Majestät!“, rief er in den schweigenden Wald hinein. Kein Ruf antwortete. Nur die Bäume rauschten laut und drängten Merin zu größerer Eile. Er schwankte zwischen Wald und Wiesen hin und her, aber nirgendwo zeigte sich das weiße Ross, noch sein Reiter.
Merin hoffte plötzlich, dass Chirogan sich nur einen Streich erlaubte. Einen kindischen Jungenstreich, für den er ihn hassen konnte. Keuchend rannte er durch den Wald. Als er dessen Ende erreichte, begann es wieder zu regnen. Dicke Tropfen fielen auf den Kopf des Beraters.
Er lief über die hügeligen Wiesen, sprang auf jeden höheren Punkt und hielt Ausschau.
„Majestät!“, rief er laut, kümmerte sich nicht mehr darum, wer ihn sah und hörte. „Chirogan!“
Dann lagen die Koppeln vor ihm, die Ställe. Alle Fenster und Türen waren geschlossen, um die wertvollen Pferde vor dem Wetter zu schützen. Merin machte einen Umweg durch die Gassen. Nur für den Fall, nur für den Fall.
Er konnte es nicht lange hinauszögern, die Koppel der verkauften Pferde zu betreten.
Da stand sie, Sturmtänzerin. Gesattelt in prächtiges Blau und edles Gold, weiß und rein wie frisch gefallener Schnee – und alleine.
Merin lief zu ihr und streckte die Hand nach ihr aus. Kein Zweifel, das war sie. Ihr Fell war ein wenig struppig. Sie trug den Sattel schon eine ganze Weile. Freundlich knabberte sie an Merins Ärmel und fuhr zurück, als er aus voller Kehle schrie.
„Chirogan!“