Aleé war sehr glücklich und sehr nervös, als sie Menakurr über die gewundene Treppe folgte, hinauf auf die Brücke und durch die Tunnel der K'chtarr-Berge. Der ältere Zwerg schritt zügig voraus und Aleé musste sich beeilen, um mit ihm Schritt halten zu können. Ein dichtes Büschel Haare, ein halbierter Pony, fiel über ihr Auge. Die kecke Frisur gehörte zur neuen Mode, die von jüngeren Zwergen wie Aleé begeistert aufgenommen wurde. Menakurr, der fast doppelt so alt war, besaß eine traditioneller Frisur, die in erster Linie von einem gehörnten Helm dominiert wurde. Darunter bauschten sich seine rötlichblonden Haare, standen zu den Seiten ab und streckten sich auch bis zum Rücken. Die Frisur erinnerte an das gesträubte Fell einer Katze, aber Aleé kannte keine schöneren Haare im ganzen Zwergenreich.
Sie war außer Atem, als sie endlich zu Menakurr aufschloss, nicht nur wegen des Laufschritts, den der Ältere unwillkürlich vorgab. Plötzlich schien alles schief zu sitzen: Die Schulterplatte auf der linken Schulter, der kurze Brustpanzer, der wirklich nur die Brust umschloss, und der schwere Lederrock über der langen Hose. Aleé zupfte im Laufen ihre Kleidung zurecht und überlegte, ob sie vielleicht etwas sagen sollte. Man hatte Menakurr und sie ausgewählt, die verfallene Ostmine zu besuchen und festzustellen, ob man den Betrieb dort wieder aufnehmen konnte – eine Woche würden sie sicherlich mit dieser Aufgabe zubringen, und das war hoffentlich genug Zeit, um einander kennenzulernen. Aleé fühlte sich unglaublich schüchtern und unglaublich jung. Was sollte sie bloß zu Menakurr sagen?
Während sie fieberhaft überlegte, ließ sie den Blick über die Tunnelwände schweifen und dann über die karge Landschaft der K'chtarr-Berge, als ihre gerade Straße aus dem Tunnel heraus führte und sich als Brücke über einem tiefen, zerklüfteten Tal spannte. Die majestätischen, grauen Berge mit ihren in den Wolken verschwindenden, schneebedeckten Gipfel boten einen wahrlich atemberaubenden Anblick. Der singende Klippenwind fuhr über die scharfen Kanten der Berge und rief ein unheimliches, wunderschönes Heulen hervor, von dem einem bei einem Gewitter das Blut in den Adern gefrieren konnte. Das war die wilde, gefährliche Musik der Berge, die jedes Zwerges Herz höher schlagen ließ – wenn der Zwerg sich nicht gerade fragte, wie man diesen Bergen genug Metall abtrotzen konnte, um weiterhin zu überleben. Denn das war das Problem der Zwerge von K'chtarr: Die Minen waren erschöpft, gleichzeitig wurde der Handel mit Ellynoi immer teurer. Für Ackerbau waren die Berge zu karg und der Boden zu sauer – die Krise bedrohte das Leben von hunderten von Zwergen.
Aleé stockte und hielt an. Ihr schweifendes Auge hatte etwas bemerkt, das nicht in die grau-weiße Berglandschaft passen wollte. Ihr Blick glitt zurück. Da, im Tal, neben dem Fuß des mächtigen Brückenpfeilers der großen Handelsstraße, befand sich ein roter Farbklecks.
„Menakurr!“, rief sie aufgeregt und deutete. Der ältere Zwerg hielt an, drehte um und stellte sich dicht neben sie, um zu schauen. Er kniff die sanften, braunen Augen spähend zusammen.
„Da liegt jemand“, stellte er fest und griff nach einem Fernglas. „Ein Mensch!“
Aleé stockte der Atem. „Ein Eindringling? Ein Spion?“
„Das werden wir sehen.“ Menakurr ging ein Stück zurück, wo neben der Öffnung des Tunnels ein schmales, gewundenes Treppchen abging, eine Wartungssteige, die hinunter in das Tal führte. Menakurr kletterte voraus. Aleé zögerte einen Moment und betastete nervös den Griff des Messers im Gürtel und den der Axt auf dem Rücken. Dann folgte sie Menakurr.
Im Tal besann sich Aleé darauf, dass sie die Kriegerin von ihnen beiden war. Während ihre schweren Eisenstiefel über das lockere Geröll rutschten, drängte sie sich also vor Menakurr und zückte die kurze Eisenaxt, eine echte Lincoln, ihr ganzer Stolz, belegt mit Zaubern, deren Wirkung längst vergessen waren.
Menakurr folgte ihr auf den Schritt, doch seine einzige Waffe war eine Spitzhacke, die er noch auf dem Rücken trug. Der dicke Brückenpfeiler wuchs vor ihnen in die Höhe. Der Schatten der breiten Handelsstraße fiel auf die beiden Zwerge. Der Spion, wenn es denn einer war, hatte sein Lager geschickt gewählt. Von der Hauptstraße aus konnte man nicht sehen, was darunter lag, und dass Menakurr und Aleé auf der deutlich schmaleren Oststraße unterwegs gewesen waren, war ein großer Zufall – die Straße wurde zwar noch instand gehalten, aber selten benutzt.
Während sie sich dem steinernen Fuß näherte, hoffte Aleé plötzlich, dass der rote Fleck, der ihr von oben aufgefallen war, kein Blut war. Dann bog sie um die letzte Felsnadel und stellte fest, dass das Rot von einem kurzen Samtmantel stammte.
Der Träges des Mantels fuhr herum, als er die schweren Schritte hörte, und zog in einer einzigen, fließenden Bewegung ein langes, schmales Schwert. Aleé schob automatisch die gepanzerte linke Schulter nach vorne und packte die Lincoln mit beiden Händen, während sie die einschneidige Waffe musterte. Ein Katana – deren Träger konnten meist auch mit der Klinge umgehen.
Der Mensch machte allerdings einen Schritt zurück. „Ich will nichts Böses!“
Aleé horchte auf, blieb aber in Verteidigungshaltung. Jetzt, aus der Nähe, merkte sie, dass der Mensch nicht halb so groß war, wie sie geglaubt hatte. Er war vielleicht einen Kopf größer als sie, nur der schlankere Körperbau und das glatt rasierte Kinn unterschieden ihn groß von einem Zwerg. Nachdem Aleé viele Geschichten über die Menschen gehört hatte, war der erste, dem sie leibhaftig gegenüberstand, eine Enttäuschung.
„Dann sag uns, was du hier willst.“ Menakurr hatte das Reden übernommen, was Aleé nur recht war.
Der Mensch senkte die Waffe und steckte sie nach einigem Zögern ein. Jetzt entspannte sich auch Aleé, aber sie behielt die Axt in der Hand.
„Ich bin auf der Flucht“, erklärte der Mensch zögernd und sah zur Seite, wo ein weißgeschecktes Pferd an eine Zacke des Pfeilers gebunden war. Aleé betrachtete das Tier neugierig. Auch Pferde waren in den Geschichten immer als groß beschrieben worden, doch das Tier hier war beinahe klein genug, dass sogar ein Zwerg darauf reiten könnte – wenn die Gesetze das nur erlaubt hätten!
„Ein Mörder, wie?“, fragte Menakurr misstrauisch.
„Keineswegs!“, entgegnete der Mensch entsetzt und wich gegen den Pfeiler zurück, den bleichen Blick auf Aleés Axt gerichtet. „Ich … ich habe mein Pony Staubwind genannt und deswegen wollen die Reiter mich hinrichten.“
„Wegen eines Namens?!“, entfuhr es Aleé und sie warf dem Pferd einen längeren Blick zu. Es war also ein Pony – Ponys sollten kleiner als Pferde sein, das mochte des Rätsels Lösung sein.
Der junge Mensch nickte. „Es ist Gesetz, dass ein Windname nur einem Pferd von edler Herkunft zusteht.“
„Gesetz“, brummte Menakurr in seinen breiten Schnurrbart. „Eher religiöser Nonsense. Ich habe die Reiter schon immer für eine Bande aufgeblasener Silberfische gehalten!“
Aleé steckte die Axt weg. Menakurr kannte sich mit Menschen und deren Gesetzen aus. Offenbar stimmte die Geschichte des Jungen.
„Die Reiter sind mehr als nur das“, sagte der Mensch verschnupft, aber seine Stimme klang jung genug, dass er noch ein Kind sein könnte.
„Ja, Fanatiker und Tyrannen“, schnaubte Menakurr und fügte heftiger hinzu, als der Mensch offenbar widersprechen wollte: „Sie haben dich verbannt, oder nicht?“
„Schon ...“, gab der Junge zu. Dann sah er auf. „Ich heiße Artreis, ich bin ein Reiter. Und das hier ist Staubwind.“
Menakurr schüttelte angesichts dieser Vorstellung den Kopf. „Menakurr“, sagte er dann.
„Und ich bin Aleé“, fügte Aleé hinzu und lächelte freundlich, bevor sie fragend zu Menakurr sah. Was sollten sie jetzt tun?
„Hast du 'ne Bleibe, Junge?“, fragte Menakurr in seinem üblichen, ruppigen Ton.
Artreis schüttelte den Kopf und hob seinen Mantel mit spitzen Fingern an. „Ich habe nur das hier.“
Nur die Kleider am Leib, verstand Aleé. Und das Pferd. Der Mensch besaß nicht einmal Taschen für Proviant.
„Und bist du bereit, für ein bisschen Essen und ein Dach über'm Kopf zu arbeiten?“
Artreis sah auf wie ein Durstiger in der Wüste, der eine Oase erblickt. „Ja. Ja, ich tue alles!“
Menakurr schnaubte. „Zu solchen Aussagen würd ich dir nicht raten. Aber komm mal mit, Junge. Vielleicht können wir dir helfen.“
Artreis machte große, hoffnungsvolle Augen. Eilig band er Staubwind los und folgte ihnen durch das Tal. Menakurr ging diesmal voraus, doch er führte sie nicht zu dem steilen Aufstieg – der war zu gefährlich für ein Pferd (oder Pony). Nein, sie schlugen einen größeren Umweg ein und suchten einen breiten Aufstieg zur Oststraße. Während die Zwerge gingen, fielen der erschöpfte Reiter und sein Ross zurück.
„Warum tust du das?“, wollte Aleé wissen, als sie zu Menakurr aufgeholt hatte.
„Sagen wir einfach, ich habe ein weiches Herz für Außenseiter“, meinte der Zwerg mit erstaunlicher Offenheit. Aleé erinnerte sich plötzlich an einen Vorfall, der vor einigen Jahren für reichlich Wirbel gesorgt hatte. Da sie schon länger in Menakurr verliebt war, wusste sie natürlich davon.
„Lanzelot?“, fragte sie.
Der ältere Zwerg zuckte zusammen. „Ja. Deswegen wohl auch.“