Takjin stand verwundert auf und stellte fest, dass wirklich alle Schmerzen verschwunden waren. Er begutachtete seinen Arm, doch von der Bisswunde waren nur einige blasse Narben geblieben, die ebensogut von einer frühkindlichen Bekanntschaft mit einem Dornenstrauch stammen könnten. Lächerlich winzige Wunden jedenfalls im Vergleich mit dem Wolfsangriff.
Auch die Pfeilwunde war verheilt. Ein knotiger Narbenpunkt zeigte an, wo die Spitze aus Feuerstein eingedrungen war.
Takjin tastete sich ungläubig ab, doch es stellte sich nicht als Täuschung heraus. Der Heiltrank hatte wahre Wunder gewirkt.
Erst jetzt merkte er, dass die zahlreichen anderen Tränke noch auf dem Boden verteilt lagen. Eilig sammelte Takjin sie ein und verpackte sie ordentlich in dem Beutel, in dem er sie gefunden hatte.
Zum zweiten Mal sah er sich in dem winzigen, runden Räumchen um, das nach oben hin offen war. Irgendjemand hatte diesen Ort gefunden und durch die Falltür gesichert. Irgendjemand musste die Kiste voller Schätze hier abgestellt haben. Takjin schluckte und fragte sich, ob jemand hier oder in der Nähe wohnte. Was sollte er tun, wenn der Besitzer zurück kam? Immerhin hatte er einen womöglich kostbaren Trank gestohlen. Oder sollte er fliehen und sich erneut der unbarmherzigen Wildnis stellen?
Der Heilungsprozess hatte ihn den ganzen Tag oder noch länger gekostet, jedenfalls war die Nacht herein gezogen. Ohne das Tageslicht, das in das winzige Tal einfiel, war es dunkel, allerdings nicht vollkommen dunkel. Ein bläulicher, düsterer Lichtschimmer erhellte die Höhle. Takjin erinnerte sich, dass ihm das unnatürliche Licht auch schon vorher aufgefallen war. Nun stellte er fest, dass die Truhe der Ursprung des Leuchtens zu sein schien.
Die Tränke im Arm trat er langsam auf die Kiste zu und hob den Deckel an. Er wollte die Tränke zurücklegen, als ihm etwas ins Auge fiel, das zuvor nicht in der Truhe gewesen war – da war er sich ziemlich sicher. Auf den ganzen Büchern und Schriftrollen lag ein Zettel, der allein deshalb ins Auge fiel, weil das Papier neu und glänzend war. Darauf stand ein kurzer Text in einer nahezu unlesbaren Handschrift.
Takjin legte die Tränke ab und nahm den Zettel. Im Schimmer der Kiste versuchte er, die Schrift zu entziffern. Ein Schauer lief über seinen Rücken, als er merkte, dass die Tinte noch frisch war.
Dieb, der du meine Kiste gefunden hast: Sei gewarnt, dass sich unter den Tränken einige mächtige Mittel befinden, deren Wirkung dich Verstand und Leben kosten kann. Wenn du diese Nachricht findest (und lesen kannst), bist du gut beraten, die Tränke SOFORT zurückzubringen und AUF KEINEN FALL zu trinken!
Takjin las die Nachricht ein zweites Mal. Das war doch zweifellos eine Reaktion darauf, dass er die Tränke genommen hatte. Doch wieso hatte der Unbekannte die Botschaft in die Kiste gelegt, statt Takjin zu wecken? Und überhaupt, wieso hatte der Fremde die Tränke nicht einfach selbst in die Truhe gelegt und Takjin vor die Tür geworfen?
Den Zettel in der Hand trat Takjin zwei Schritte zurück und sah sich die Kiste noch einmal genauer an. Sie war aus einem schwarzen, glatten Material und verströmte diesen purpurnen, unheimlichen Glanz, fast wie … fast wie ein Endermann.
Mit einem Mal schien es in der kleinen Höhle winterlich kalt zu werden. Takjin schluckte. Es handelte sich um eine magische Kiste. Vermutlich besaß sie irgendwo auf der Welt ein Gegenstück in der Wohnung desjenigen, der die Botschaft verfasst hatte, samt den dunklen Flecken und Rissen im Papier, wo der wütende Schreiber die Feder zu fest aufgedrückt hatte. Es gab sogar einen tiefschwarzen Fleck, wo die Feder offenbar zerbrochen war.
Takjin war mit einem Mal froh, dass er wenigsten den Großteil der Tränke hatte zurücklegen können. Doch ansonsten saß er in einer Zwickmühle, denn ein Trank fehlte und er wusste nicht, wie bald der Besitzer der Kiste hier ankommen würde.
Da draußen Nacht herrschte, blieb Takjin keine Wahl, als in dem kleinen Tal auszuharren. Nach einer Weile näherte er sich wieder der Kiste, denn Nichtstun würde ihm kaum helfen, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen.
Er durchwühlte die magische Truhe, bis er tatsächlich eine Schreibfeder und ein Tintenfässchen fand. Eilig entkorkte er das Fässchen und tauchte die Feder ein, während er versuchte, sich an die Form der Buchstaben zu erinnern. Dann beugte er sich über den Zettel und schrieb konzentriert und langsam, formte jeden Buchstaben wie ein kleines Kunstwerk und als könnte ihn der kleinste Fehler den Kopf kosten:
Entschuldigung, ich wollte nicht stehlen. Aber ich wahr verzweifelt. Mein Name ist Takjin. Ich habe mich verwirrt. Bitte, ich brauche Hilfe. Draußen sind Monster, ich hahbe nur ein Schwert.
Takjin hielt den Zettel vor sich, der nun reichlich zerknittert war. Er war mit seiner Leistung zufrieden. Er hatte das Schreiben nicht verlernt, obwohl bereits vier Jahre vergangen waren, seit er es beigebracht bekommen hatte.
Nun faltete er den Zettel zusammen und steckte ihn in die Truhe. Er fragte sich, ab wann er mit einer Antwort rechnen konnte. Würde die Botschaft den Unbekannten sofort erreichen? Und wie oft sah dieser in das Gegenstück der Kiste? War es vielleicht nur Zufall gewesen, dass der Diebstahl bemerkt worden war? Takjin wusste, dass er nicht ewig in der kleinen Höhle ausharren konnte, nicht ohne Essen und Trinken. Wieder und wieder sah er in die Kiste, doch nichts änderte sich. Schließlich stellte Takjin sich darauf ein, dass er die Höhle wenigstens für kurze Zeit verlassen würde, sobald es Tag war. Vielleicht konnte er etwas jagen oder fand sogar einen besseren Unterschlupf als die offene Höhle, durch deren Decke theoretisch jederzeit etwas herabstürzen könnte.
Als die ersten Sonnenstrahlen durch die Öffnung der Decke drangen, packte Takjin sein Schwert fester und wagte sich die Strickleiter hinauf. Misstrauisch spähte er durch die halb geöffnete Falltür. Vor ihm befand sich ein Dickicht aus Sumpfbäumen, doch nichts rührte sich. Nach einer Weile kletterte er nach draußen und schlich aus dem Schatten der Bäume heraus. Ein ebenes Stück Sumpfland lag vor ihm, bevölkert von Komododrachen und Krokodilen, dazwischen sammelten sich hier und da Gruppen von Vögeln oder Sumpfenten an.
Takjin wagte sich, das Schwert fest in der Hand, etwas weiter vor. Plötzlich erklang eine Art Knurren direkt neben ihm. Er bemerkte eine Bewegung aus dem Augenwinkel, als ihn ein Krokodil ansprang, das Takjin überhaupt nicht gesehen hatte.
Mit einem schnellen Satz konnte er den zuschnappenden Kiefern entkommen und hieb mit dem Schwert zu. Das Krokodil fauchte und schüttelte den Kopf. Dann sprang es erneut. Takjin war jedoch bereits auf dem Weg zur Höhle. Er riss die Falltür auf und stürzte sich die Leiter herunter. Es krachte, als das Krokodil in die Tür rannte.
Der Junge kauerte auf dem Steinboden. Sein Herz raste und Adrenalin flutete durch seine Adern. Dann rappelte er sich auf und hob erneut das Schwert. Er fuhr zusammen, als er das gelbäugige Tier über sich erblickte. Blut lief über die Schnauze des Krokodils. Mit einem tiefen Grollen und über den Stein schabenden Krallen versuchte das Reptil, Takjin zu folgen. Takjin sprang vor und stach nach oben.
Das Holzschwert traf das Kinn des Krokodils und durchschlug dessen Schädel. Takjin stolperte zurück. Sein Herzschlag wollte sich kaum beruhigen.
Doch das Reptil war tot. Regungslos lag der Körper vor der Falltür, bis Takjin sich endlich überwand, die Strickleiter hinauf kletterte und den Kadaver in die Höhle zerrte. Dort häutete er das Tier ungeschickt, mit den Bewegungen, die er beim Schlachter beobachtet hatte. Eine kurze Kostprobe enttäuschte seine Hoffnungen, dass Krokodilfleisch vielleicht genießbar sei. Das Fleisch schmeckte so ungewohnt, dass Takjin es sofort wieder ausspuckte und dann aus der Höhle warf. So verzweifelt war er nun noch lange nicht.
Was ihm blieb, war ein Haufen Krokodilsleder. Daraus, so hoffte Takjin, könnte er sich vielleicht etwas bauen, das einer Rüstung ähnelte.
Er trocknete das Leder auf dem Steinboden und machte sich dann daraus zwei Beinschienen – zu mehr reichte die Ausbeute an gutem Leder nicht. Die Schienen konnte er mit Streifen von der zerfetzen Decke an seine Beine binden. Er war eben damit fertig, als die Kiste ein seltsames Geräusch von sich gab, eine Art „Wupp“.
Takjin stand auf und näherte sich der Truhe langsam, als könne sie jederzeit aufspringen und ihn angreifen. Als er den Deckel anhob, lag ein neuer Zettel auf dem Haufen aus Tränken und Büchern.
Diesmal war der Text länger. Takjin stöhnte unwillig, dann machte er sich an das mühevolle Entziffern.
Hallo Takjin.
Bitte verzeih mir meine harschen Worte. Ich konnte nicht ahnen, dass ich es mit einem derart verzweifelten und ehrlichen jungen Mann zu tun habe. Deine Antwort zeugt von deinem Mut, dich jedem Problem zu stellen. Es tut mir leid, dass ich dich für einen gemeinen Dieb gehalten habe.
In der Truhe findest du ein paar Möhren und Fleisch. Mehr kann ich leider nicht erübrigen, jedenfalls nicht im Moment. Ich hoffe, dass es dir für's Erste hilft, zu überleben.
Damit ich dir mehr zusenden kann, muss ich leider zuvor deine Hilfe in Anspruch nehmen. Es ist so, dass ich mich in einer sehr misslichen Lage befinde und dringend Hasenpfoten und Zucker brauche, aber nicht die Freiheit habe, etwas zu sammeln. Wenn du mir beides besorgen könntest, stünde ich nicht nur tief in deiner Schuld, sondern wäre auch fähig, dir weitere Hilfe zuzusichern.
Ach, wie unhöflich. Mein Name ist Dokarestmus. Ich bin nichts weiter als ein alter Narr, dem von seiner Jugend nur die Neugier geblieben ist. Manche halten mich für einen Magier und Unglücksbringer, deswegen muss ich dich, Takjin, bitten, mir zu helfen. Bring mir Hasenpfoten und Zuckerrohr, wenn du es irgendwie schaffst. Nutze ruhig die beiden Tränke der Unsichtbarkeit, die du im Beutel findest – von denen habe ich mehr als genug und sie sollten es dir ermöglichen, unerkannt zwischen den Monstern zu wandeln.
Meine besten Wünsche,
Dokarestmus von Soregrat