Merin packte Piernan beim Kragen. Er war so außer sich, dass er den kräftigen Mann ein Stück vom Boden hoch hob.
„Ihr müsst ihn doch gesehen haben! Er ist Euer König!“
„B-bitte!“, stotterte Piernan. „Wir haben die Koppel absichtlich so gebaut, dass man sie gut sehen kann, aber keiner hat sie ununterbrochen im Blick!“ Schweißtropfen schimmerten auf seiner Glatze.
„Er war direkt hinter mir!“, fuhr Merin den Mann an, obwohl er wusste, dass er im Grunde sich selbst diese Vorwürfe machte.
„Ich ... ich kann die anderen fragen!“, bot Piernan an. Obwohl sein Stall der größte war, gab es noch andere Pferdebesitzer im Viertel, die sich im Gegensatz zu Piernan auf die Zucht von ein oder zwei Rassen spezialisiert hatten.
„Fragt sie! Und dann kommt Ihr zum Schloss und erzählt mir alles!“
„Was habt Ihr vor, Mylord?“, fragte Piernan, als er abgesetzt wurde.
Merin antwortete nicht, sondern stürmte aus dem Verwaltungsgebäude, das mitten zwischen den Ställen stand. Er konnte nicht länger untätig abwarten. Eilig lief er zu der Koppel mit Sturmtänzerin.
Er würde Chirogan finden!
Die weiße Stute tänzelte, als er sich in ihren Sattel schwang. Ihr Schritt war wunderbar leicht, aber Merin achtete kaum darauf. Niemand musste ihm das Gatter öffnen, denn die Stute, die seine Ungeduld spürte, sprang einfach darüber hinweg.
Zum dritten Mal in kurzer Folge galoppierte Merin über die Wiesen. Sturmtänzerin war schnell und reagierte auf sein leisestes Zeichen. Er hetzte sie hier- und dorthin, im Zickzack, im Kreis, auf der Suche nach Spuren. Doch wenn Chirogan hier gewesen war, so hatte der Regen alle Spuren verwischt. Merin ritt zum Waldrand. Er erinnerte sich noch daran, an welcher Stelle Chirogan herausgerannt war. Selbst dort entdeckte er keine Fußspuren mehr.
Er fluchte und trieb Sturmtänzerin auf das Schloss zu, dann auf einen höheren Hügel. Er richtete sich in den Steigbügeln auf und sah sich um.
Während er suchend den Kopf hin und her wandte, entdeckte er endlich etwas, das nicht in das friedliche Bild gehörte. Bauern zogen ihre Karren durch den Regen, ein Schäfer trieb mehrere wilde Schafe zu einem behelfsmäßigen Gatter, aus dem heraus die Tiere später verteilt werden würden - und eine Gruppe von sieben Berittenen ohne das Blau des Königs zeigte sich auf einer entfernten Hügelkuppe.
Merin starrte die Fremden an, die kein Wappen trugen, jedoch dunkle, abgenutzte Rüstungen. Sie hielten Speere und Schwerter gezückt.
Sturmtänzerin schnaubte und wich zurück. Einer der sieben Reiter, vielleicht ihr Anführer, hob sein Schwert und deutete auf Merin.
Einer der Reiter zückte einen Bogen. Starr sah Merin zu, wie der erste Pfeile flog, unglaublich weit, und er riss sich erst zusammen, als die Spitze sich nur wenige Schritte vor Sturmtänzerin in den Schlamm bohrten.
Er gab dem Pferd des Königs die Sporen und sie hetzte los, so schnell, als besäßen ihre Hufe Flügel. Merin bückte sich über ihren Hals, der Regen schlug ihm hart ins Gesicht. Er hörte das ferne Donnern, als die fremden Reiter sich der Jagd anschlossen.
Sturmtänzerin flog durch das Gras, weiß und schnell wie ein Schneesturm. Merin brauchte eine Weile, um zu merken, dass sie vom Weg abgekommen war. Er lenkte sie wieder nach Norden. Ihre Hufe rissen den weichen Erdboden auf, während sie galoppierte. Als Merin über die Schulter sah, blieben die Verfolger zurück, doch sie gaben noch nicht auf. Weitere Pfeile flogen. Sie versuchten, ihm den Weg abzuschneiden, denn dadurch, dass er einen Bogen ritt, geriet er wieder in Reichweite.
Er betete, dass Sturmtänzerin ausdauernd sein würde, und richtete den Blick auf den Horizont, ungeachtet der harten Tropfen, die sein Gesicht trafen.
Zu spät erinnerte er sich an die Kluft. Sturmtänzerins Hufe donnerten über die Erde und die Rufe der Verfolger wurden lauter. Merins Herz raste, als er wieder zurück sah. Die anderen Reiter holten auf! Das musste ein übler Zauber sein, kein Pferd konnte so schnell sein wie Sturmtänzerin.
Die Kluft rückte näher. Merin blieb keine Zeit, darum herum zu reiten. Die Pfeile regneten zu beiden Seiten herab, es war großes Glück, dass er noch nicht getroffen war.
Sturmtänzerin schnaubte und scheute, als er sie auf die Schlucht zuritt. Merin trieb sie mit harten Fersen an. Ein Pferd für seinen König fürwahr – selbst bei einer Hetzjagd weigerte sie sich, über den tiefen Graben zu springen! Doch sie würden Schwung brauchen, die Kluft war breit. Er wusste durchaus, dass sie beide sterben konnten, doch in jenem Moment beherrschte ihn die Angst vor den Verfolgern. Es gab keinen anderen Weg. Und Herobrine sollte ihn holen, wenn er sich jetzt umbringen ließ und Chirogan nicht wiederfand.
Sturmtänzerin ergab sich schließlich seiner Forderung. Mit langen Sätzen galoppierte sie der Schlucht entgegen, den Hals gekrümmt und die Hufe weit ausgreifend. Dann setzte sie die Vorderhufe an den Rand der Schlucht, zog die Hinterbeine nach und stieß sich ab.
Merin blieb das Herz stehen. Im Flug sah er den Grund der Schlucht unter sich liegen, so tief unten, dass er feurige Lava darin sah. Er hörte wie aus weiter Ferne Chirogan, der mit ihm stritt.
„Wir werden Brücken bauen müssen!“, hatte der junge König damals gesagt.
„Das hat Zeit, Chiro. Wir haben den Hafen ausgebaut und die Versorgung gesichert, nun lass uns mit dem Palast beginnen! Was ist ein Königreich ohne ein Schloss?“, erklang Merins eigene Stimme aus der Vergangenheit.
Er hätte sich selbst ohrfeigen können, doch in diesem Moment landete Sturmtänzerin sicher auf der anderen Seite der Kluft. Wiehernd bremsten die Pferde der grauen Ritter.
Vielleicht hatte er damals doch die richtige Entscheidung getroffen.
Beinahe von selbst erkletterte Sturmtänzerin die Anhöhe und rauschte durch die Baustelle, wo die Feste der Krone entstehen würde. Merin lenkte sie gegen ihren Widerstand auf die unsichere Brücke. Während sie rannte, griff er sich aus dem Sattel heraus die Metallstange, die ein junger Bursche zu den Arbeitern trug. Auf der Brücke schlug er damit gegen die Halteseile.
Mehrere Arbeiter schrien laut auf. Krachend brach die Brücke hinter Sturmtänzerin zusammen. Die weiße Stute rettete sie beide im letzten Moment auf die Festung des Königs, die Arbeiter sprangen entsetzt in die Burg.
Schnaufend und schnaubend stand sie da und schüttelte den Regen aus ihrer Mähne. Merin ließ ihr den Moment. Das Metall entglitt seinen zitternden Fingern und bei dem Klappern schnaubte Sturmtänzerin nervös. Ihnen beiden saß die Angst noch im Nacken. Die Verfolger waren hinter der Kluft zurückgeblieben, doch vielleicht würden sie auch zum Palast kommen. Er gab den Arbeitern Anweisung, die Brücke nicht zu reparieren und niemanden passieren zu lassen und wendete Sturmtänzerin dann, ohne sich um die verwirrten und ungläubigen Blicke zu kümmern.
Er ließ sie langsam weiter gehen, durch den Berg, über die Straße am Rand des Berges und in den Unteren Palast. Immer noch fehlte jede Spur von Chiro. Draußen donnerte es, während Merin Sturmtänzerin abstellte und trocken rieb. Dann bürstete er auch Capricorn und Wildfang, denn er musste nachdenken.
Chirogan war am hellen Tag verschwunden, unter den Augen der Pferdebesitzer. Eigentlich unmöglich – es sein denn, die Augen der Männer bei den Ställen wären durch Gold geblendet gewesen.
Merin verfolgte den Gedanken. Piernan hatte gewusst, dass der König kommen würde. Merin war so töricht gewesen, dies anzudeuten. Und Piernan hätte auch sehen können, wann Merin fort und Chirogan alleine wäre. Und als Merin zurückkam und Chiro suchte, hetzte ihm Piernan die unheimlichen Ritter ohne Wappen auf den Hals.
Mochte das des Rätsels Lösung sein? Merin war fertig und trat an den Ausgang des Palastes. Vor ihm, nur eine dünne, goldgetönte Fensterscheibe entfernt und sehr weit unten, erstreckte sich Großvaters Bart. Die Ställe waren nicht zu sehen, aber Merin richtete den gedanklichen Blick auf sie.
Würde Piernan jetzt fliehen? Seine Gedanken drehten sich im Kreis. Er musste den Mann befragen, aber war es nicht ein Risiko, jetzt den Palast zu verlassen?
Er ging in den Stall, von dem aus man die Feste des Königs und die Feste der Krone sehen konnte. Ihm stellen sich die Nackenhaare auf: Vor der eingestürzten Brücke standen nun keine Arbeiter mehr, sondern eine Gruppe Reiter in grauer Rüstung. Einer von den sieben sah zum Palast hinauf.
Sie wussten, wo Merin sich aufhielt. Er ballte die Hände zu Fäusten. Nein, es war nicht klug, hier zu bleiben. Und noch unklüger wäre es, durch den Vordereingang zu gehen.
Er versicherte sich, dass die drei Reittiere genug zu Fressen hatten, dann holte er eine Fackel.
Merin war schon immer misstrauisch gewesen. Fast das Erste, war er an dem Palast hatte bauen lassen, war ein Geheimgang. Durch den Berg führte eine schmale, natürliche Höhle, die in der Festung des Königs begann und neben dem Palast aus dem Boden führte. Der abgeriegelte Teil des unteren Palastes, wo Chirogans Privaträume liegen sollten, hatte eine getarnte Verbindung nach draußen.
Merin verschloss die Tür zu den Königsräumen fest hinter sich und sah einen Moment aus den großen, getönten Fenstern nach draußen. Es regnete und die Nacht zog herein. Keine Uhrzeit für einen königlichen Berater, aber vielleicht die beste Zeit für einen Spion und Waldläufer. Er zog den Teppich beiseite und öffnete die metallene Falltür mit dem verborgenen Hebel. Dann kletterte er eine steile Leiter nach unten in eine Höhle. Die Falltür schloss sich über ihm.
Merin hatte nicht vor, in die Feste des Königs zu gehen, denn davor warteten noch die Reiter auf ihn. Aber da der Palast vollständig abgeriegelt war, kam man nur auf diesem geheimen Weg auf den Berg.
Auf der Flanke des Großvaters löschte Merin die Fackel. Das Mondlicht reichte seinen geübten Augen aus. Er hatte sich in dunkle Kleidung gehüllt, Pfeil und Bogen und die Fackel eingesteckt. Er sprang den Berghang herunter und befand sich bald wieder im Wald.
Hier kannte er jeden Baum. Er kannte die Sackgassen, wo das Gebüsch so dicht war, dass ein Mann dort nicht weiter kam. Er kannte die verborgenen Seen, die Lichtungen und die Hügel, die schmalen Pfade, die nur die Eingeweihten fanden.
Der Wald war still. Noch waren keine Tiere in diesen Teil des Landes zurückgekehrt. Doch wie durch ein Wunder hatten die Bäume überlebt, so nah an der Großmutter.
Jener zweite Berg war kahl. Wenn der Berg mit dem Palast darauf der Großvater war, so war dieser kleinere, gemütliche Hügel die Großmutter. Dort hatte Ashram gehaust, bevor Chirogan zum König wurde und den Krieg beendete.
Merin kehrte den furchtbaren Erinnerungen den Rücken und schlug den Weg nach Niemhain ein. Er durchquerte den Wald, huschte über die Wiesen und schlich diesmal nicht in die Siedlung Niemhain hinein, sondern in den gleichnamigen Wald, während der Mond über den Himmel wanderte. Er war im Niemhain – angeblich die Heimat des orangen Niem, eines großen, wilden Pferdes. Ein Mythos, aus dem eine ganze Siedlung entstanden war.
Die Kapuze seines Mantels tief ins Gesicht gezogen, schlich Merin sich in die Straßen und durch die Gassen des Viertels, bis er das Verwaltungsgebäude in dessen Herzen erreichte. Er trat durch die Tür. Wie immer war das Gebäude beleuchtet.
Sogleich merkte er, dass die Reihen der Ställe verlassen war. Bis zu sieben Pferde konnten hier untergebracht werden, jetzt war keines zu sehen. Auch von Piernan war keine Spur zu entdecken. Merin kletterte auf den Dachstuhl, dann schlich er zu den großen Wohnhäusern am Rand der Stadt, doch Piernan zeigte sich nicht.
Der ehemalige Waldläufer wollte fluchen. Also war Piernan der Schuldige. Aber in welchem Zusammenhang stand er zu den dunklen Reitern? Was wollten sie? Was hatten sie Chirogan angetan?
Merin machte sich wieder auf dem Rückweg, bevor die Sonne aufging. Er war jetzt müde und die Schuld machte seine Glieder bleischwer. Er hatte Chirogan verloren! Was sollte er nur tun? Telion brauchte einen König, jetzt dringender denn je.
Merin wanderte langsam durch den Wald zurück. Bei jedem Geräusch fuhr er zusammen. Die Menschen von Telion brauchten neue Sicherheit. Sicherheit, die allein Chirogan ihnen bieten konnte. Wenn sein Verschwinden bekannt wurde, konnte Merin nicht sagen, was geschehen würde. Die Angst aus dem dunklen Zeitalter von Ashram hatte überdauert.
Er ballte die Hände zu Fäusten. Niemand durfte erfahren, dass Chirogan fort war! Er würde so tun müssen, als sei der König noch im Palast.
Und dann musste er herausfinden, wo Chiro wirklich war, wer ihn entführt hatte und warum.
Merin überlief es eiskalt. Und er würde herausfinden müssen, ob Chirogan überhaupt noch lebte!
Die Vorstellung war schrecklich. Noch schrecklicher war das Wissen, dass er absolut nichts tun konnte, als hoffen und abwarten.
Beten.