Als Takjin am nächsten Morgen aufwachte, blickte er zuerst in die magische Kiste. Dort lag ein gebratenes Stück Kaninchenfleisch und eine neue Botschaft von Dokarestmus.
Tausend Dank, mein junger Freund.
Du ahnst kaum, wie wertvoll deine Hilfe für mich ist. Leider reichen die Zutaten nicht ganz für meine Flucht, doch da du noch einen Trank besitzt, wird es hoffentlich kein Problem für dich, noch mehr Hasenpfoten und Zucker zu besorgen. Es schmerzt mich, dies von dir verlangen zu müssen, wo du mich nicht kennst. Du musst mir in diesem Punkt vertrauen, dass ich dir helfen werde, sobald ich nur aus diesem Gefängnis entkommen bin.
Ich nehme an, dass es dir schwerfällt, mir zu vertrauen. Das kann ich verstehen; ich bin ein Fremder für dich, noch dazu gesichtslos. Die Zeit reicht mir nur, um so viel zu sagen: Ich bin tatsächlich ein Magier, jedoch nicht von der schlechten Sorte, wie ich meine. Ich nutzte meine Magie bisher dazu, eine Insel zu schützen. Soregrat. Sie ist ein Rückzugsort, wo einige Tierarten in Sicherheit überleben können. Um so viele Tiere wie möglich zu retten, habe ich gefährliche Reisen unternehmen müssen. Bei einem solchen Ausflug wurde ich gefangen und sitze nun in einer großen Burg fest, seit einem halben Jahr bereits. Zum Glück gelang es mir, ein Gegenstück zu deiner Kiste zu bauen. Ich muss entkommen, um Soregrat zu schützen und auch, damit der Herr dieser Burg nicht eines Tages das Geheimnis von Soregrat von mir erfährt. Die Folgen wären undenkbar.
Nun, Takjin, das ist alles für den Moment. Bitte verzeih, dass ich dir nicht mehr verraten kann, doch dann wärst du in großer Gefahr. Ich werde dir, einmal nach Soregrat zurückgekehrt, alle Verpflegung senden, die du brauchst. Wenn du es willst, kann ich dich sogar auf die Insel bringen, doch das entscheiden wir später.
Ich wünsche dir Glück, mein Freund.
Dokarestmus von Soregrat.
Takjin las den Brief mit wechselnden Gefühlen. Zuerst, als Dokarestmus das Gefängnis erwähnte, fühlte Takjin sich in seiner Furcht bestätigt, dass er einem Verbrecher half. Doch etwas an dem ehrlichen, traurigen Tonfall in dem Brief überzeugte Takjin davon, dass Dokarestmus in Wahrheit beste Absichten besaß.
Abgesehen davon besaß der Junge nicht viele Optionen, als dem Unbekannten zu vertrauen.
Takjin aß das Fleisch langsam und genießerisch, immerhin war es seine erste selbst erlegte Beute gewesen (wenn man vom den übel schmeckenden Krokodil mal absah). Dann wandte er sich den Krokodilshäuten zu. Beinschienen hatte er sich bereits gemacht, nun setzte er sich an eine Rüstung für den Oberkörper, doch dazu reichten die Häute noch nicht ganz. Also nahm Takjin den Trank zu sich, stellte fest, dass seine dilettantische Rüstung noch immer sichtbar blieb und ging schließlich ohne die Häute nach draußen, wie auch am Vortag nur mit dem Schwert bewaffnet.
Er jagte erneut im Wald. Diesmal fiel es ihm leichter, den Schwertstreich gegen ein Kaninchen zu führen. Das Wissen, dass er es bereits einmal getan hatte, und auch der wachsende Hunger machten ihn zu einem passablen Jäger.
Nachdem er das Tier gehäutet hatte, beging er nicht den Fehler, sich in seinem Freudentaumel zu verlieren. Er ging wachsam durch den Sumpf, fand bald einen kleinen Platz, wo Zuckerrohr wuchs, und pflückte es schweigsam. Auf dem Rückweg streifte er hierhin und dorthin, bis er eine Gruppe Krokodile fand. Mit mehr Mut, als er sich zugetraut hätte, schlich er sich unter sie, suchte sich ein besonders großes Exemplar und tötete es mit einem schnellen Streich. Während die anderen Krokodile verwirrt und verängstigt flüchteten, häutete Takjin auch diese Beute und schleppte die Häute, Zuckerrohr, Hasenpfoten und -fleisch zur Höhle, bevor die Wirkung des letzten Unsichtbarkeitstrankes nachließ.
Er hängte die Häute auf und zerstampfte die Rohre mit einem Stein zu Zucker. Dann packte er die Pfoten, Zucker und das Fleisch in die Kiste.
Danach setzte er sich daran, einen Brief an Dokarestmus zu verfassen, was sich als schwierig herausstellte, da seine Hand immer noch unsichtbar war. Es war ein unangenehmes Gefühl, seine Hände beim Schreiben nicht zu sehen – als würde die Feder von allein über das Blatt hüpfen, welches selbst in der Luft schwebte. Am Ende umwickelte Takjin seine Hände mit Krokodilshäuten.
Hallo Dokarestmus, schrieb er, die Zunge im Mundwinkel, ...
Ich hoffe, das reicht jetzt. Ich hahbe keinen Trank mehr. Ohne kann ich nicht raus, glaube ich.
Danke für deinen Brief heute und was du mir ehrzählt hast.
Ich hahbe eine Frage warum macht dein Trank meine Kleidung unsichtbar aber nicht mein Schwert oder meine Rüstung?
Danke für alles. Ich habe neues Fleisch zum braten in die Kiste gelegt.
Takjin.
Dokarestmus ließ sich Zeit mit seiner Antwort. Takjin verbrachte eine weitere Nacht auf dem kalten und harten Boden der Höhle. Am Morgen blickte er als erstes in die Truhe.
Zuoberst lag das Hasenfleisch, über Nacht gebraten. Die Hasenpfoten und der Zucker waren fort, doch Dokarestmus hatte keinen Zettel hinterlassen. Takjin überlegte, ob der alte Mann vielleicht gerade noch an seiner Botschaft schrieb und machte sich über das Essen her. Doch auch nach dem Frühstück war kein Brief aufgetaucht.
Takjin nahm die getrockneten Krokodilshäute von den Wänden. Mit einem Faden aus Hasensehnen und einer Nadel aus einem Knochenstückchen nähte er die Häute zusammen, um sein zerfetztes Hemd zu ersetzen. Die dickeren, helleren Bauchschuppen benutzte er als Brustpanzer, den Rest vernähte er zum Rücken und zu den Schultern des neuen Hemdes. Er behielt die Ärmel seines alten Hemdes und vernähte den Riss von dem Wolfsbiss im einen Ärmel mit einem Rest Hemd. Diese Ärmel setzte er an die Schultern der Rüstung an, da die Krokodilshaut nur knapp über seine Arme reichte. Mit beiden Kleidungsstücken zusammen gelang ihm ein recht eindrucksvolles Werk. Takjin streifte die neue Rüstung über, die kalt und noch unflexibel war, aber sehr gut passte. Dann legte er die Beinschienen an, die er bereits gefertigt hatte, und drehte sich in der Höhle im Kreis, sprang ein wenig herum und testete Schwere und Beweglichkeit der neuen Kleidung. Die Rüstung war steif, jedoch sehr leicht. Takjin war sich sicher, dass das Leder mit der Zeit geschmeidiger werden würde.
Er sah wieder in die magische Kiste, doch immer noch war keine Botschaft eingetroffen. Er begann, sich Sorgen zu machen. War Dokarestmus etwas zugestoßen? Hatten die Leute, die ihn gefangen hielten, ihm vielleicht etwas angetan?
Oder war der alte Mann bereits auf der Flucht und hatte seine Versprechen gegenüber Takjin vergessen?
Takjin nahm sein Schwert und vollführte ein paar Kreise und Sprünge mit der Waffe. Von seiner selbst gefertigten Rüstung begeistert, verlor er sich im Kampf gegen eine Horde unsichtbarer Gegner, bis er verschwitzt und hungrig wurde. Er durchstöberte Dokarestmus' Kiste, doch alles Essen hatte er bereits verschlungen, statt es sich aufzusparen. Takjin durchsuchte auch den Trankbeutel, doch er fand keinen Unsichtbarkeitstrank mehr und ohne einen solchen wollte er sich nicht nach draußen trauen.
Der Tag verging. Takjin vernähte ein paar lockere Fäden an seiner Rüstung, dann sortierte er die Tränke nach Farbe und noch einmal nach Größe. Er sang ein paar Lieder, an die er sich noch erinnerte, und dachte an Birkengrund und die Menschen, die ihn verraten hatten.
Am Abend erklang ein Rauschen, gefolgt von einem „Wupp“. Takjin ging zu der magischen Kiste und als er sie diesmal öffnete, lag dort ein Zettel, die Tinte noch feucht, auf einer kleinen Ansammlung von Karotten.
Takjin nahm sich eine Möhre und knabberte daran, während er den Brief las.
Hallo Takjin,
Was du mir gebracht hast, reicht für meine Flucht. Ich bin dir zu großem Dank verpflichtet, nie werde ich deine Hilfe vergessen. Verzeih mein Schweigen heute, doch ich habe mich auf meine Flucht vorbereitet und außerdem versucht, dir etwas Essen zu besorgen. Die Möhren sind nicht viel, doch es ist alles, was ich bekommen konnte.
Außerdem habe ich den Trankbeutel aufgefüllt. Ich fürchte, es kann eine Weile dauern, bis ich mich wieder melde. Ich werde heute Nacht fliehen und meine jetzige Kiste zerstören. Bis ich in Soregrat bin und damit bei einer anderen Truhe, können Tage vergehen, vielleicht sogar Wochen. Teil dir deine Vorräte ein, mein Junge.
Ich habe dir ebenfalls mein Feuerzeug gegeben. Vielleicht gelingt es dir, damit dein Fleisch selbst zu braten.
Ich möchte, dass du folgendes weißt: Du hast mir das Leben gerettet und ich werde das nicht vergessen. Sobald ich wieder in Soregrat bin, werde ich dir alles schicken, was du brauchst. Du hast mir geholfen, als ich keine Hilfe erwartete, und dass, ohne mich zu kennen. Takjin, ich stehe tief in deiner Schuld.
Dokarestmus
PS: Der Trank wirkt sich nur auf dich und deinen unmittelbaren Besitz aus. Es geschieht selten, dass etwas außerhalb deines Körpers unsichtbar wird, es ist jedoch möglich, wenn du das Hemd beispielsweise für lange Zeit getragen hast. Wenn sie sich für dich wie eine zweite Haut anfühlt, dann kann es vorkommen, dass der Trank sich ebenfalls auf deine Kleidung auswirkt.
Ein kleiner Tipp von einem erfahrenen Unsichtbaren: Trainiere mit deinen Waffen. Mach sie zu einer Verlängerung deiner Arme und trage deine Rüstung so oft wie möglich. Alle Unsichtbarkeit nützt nichts, wenn der Gegner deine Waffe oder Rüstung sehen kann.