Der Tag nach Dokarestmus' vorerst letzter Nachricht brachte Regen, Sturmböen und donnerndes Gewitter.
Takjin erwachte noch vor dem Morgengrauen vom Grollen des Donners, der über dem Wald heranrollte. Er lag wach auf dem unbequemen Steinboden und lauschte dem Krachen von draußen. Die Blitze knisterten in immer schnellerer Folge, einzelne Donnerschläge verschmolzen zu einem stürmischen Schrei über dem Sumpf.
Takjin erhob sich schließlich. Sein Rücken ächzte von den vielen Nächten auf dem nackten Stein, sein Ellbogen wurde durch einen frischen blauen Fleck verziert. Takjin musste sich bei einem nächtlichen Albtraum verletzt haben.
Nun trat er unter die Falltür, wo ihm der vorspringende Fels etwas Schutz vor dem Regen bot. Durch die Falltür konnte er in den nachtschwarzen Himmel sehen. Heute würde es wohl keinen Sonnenaufgang geben, fast erschien ihm das Wetter wie die Ankündigung des Weltuntergangs. Eine bedrückte, angespannte Stimmung bemächtigte sich seiner.
Der Regen fiel in dichten, dicken, schwarzen Schnüren. Von seiner Position aus konnte Takjin unzählige winzige Wasserfälle beobachten, die ihren Weg durch die Falltür fanden und auf den Steinboden rannen. Das Wasser umspülte bereits die magische Kiste.
Eine plötzliche Angst packte Takjin, dass der Regen das schmale Tal füllen und in eine strudelnde Todesfalle verwandelt würde. Er stand auf, wuchtete den nassen Deckel der Kiste auf und schnappte sich den Trankbeutel, um einen der neuen Unsichtbarkeitstränke herauszunehmen. Er streifte seine Rüstung über und packte sein Schwert, dann trank er den Trank und näherte sich der Tür. Es war bereits so viel Wasser gefallen, dass Takjin die Falltür kaum aufstemmen konnte. Und das Unwetter schien sich erst aufzubauen. Takjin wollte nicht in dem kleinen Tal gefangen bleiben.
Unsichtbar bis auf die Rüstung und das Schwert trat er in den schweren, eisigen Regen hinaus. Innerhalb von Sekunden war das Wasser durch seine Kleidung gedrungen und sammelte sich in Takjins Haaren. Er war nass, als hätte er sich in einen See geworfen, die Luft war beinahe zu feucht zum Atmen. Kälte traf auf Takjins Haut und drang ihm bis auf die Knochen. Zitternd und mit den Zähnen klappernd stand er in dem kleinen Wäldchen und fragte sich, ob das Ertrinken in der Höhle diesem anderen Tod nicht vorzuziehen war.
Der Sumpf war so bevölkert, wie Takjin ihn noch nie gesehen hatte. Unzählige Monster streiften durch das Moor, selbstbewusst durch das Wissen, dass die Sonne heute auf sich warten lassen würde. Takjin wog das tropfende Schwert in der Hand und schluckte. Ohne den Trank wäre er vermutlich bereits tot; so allerdings hatte er eine gewisse Chance, den Sturm zu überleben.
Und obwohl er diese Chance keineswegs vergeuden wollte, so lockte ihn doch die Idee, den Monstern mit gleicher Münze heimzuzahlen, was sie ihm angetan hatten, namentlich ihn aus dem Nichts heraus anzugreifen, unsichtbar für ihn, sodass er verängstigt und hilflos die Flucht hatte ergreifen müssen.
Während Takjin sich einer kleinen Gruppe vom Zombies näherte, fragte er sich unwillkürlich, woher er den Mut dazu nahm. Es mochte nur das Machtgefühl sein, welches ihm der magische Trank verlieh, vielleicht war es auch die Entbehrung, die Wut über den Verrat der Dorfbewohner und das verzweifelte Wissen, dass er alles brauchen konnte, was er bekommen konnte.
Der Sturm übertönte seine Schritte und seinen schnellen Atem. Der Regen wischte seinen Geruch aus der Luft. Und die Dunkelheit verbarg Takjins Rüstung und das Schwert, machten sie zu weiteren der unzähligen Phantome im Unwetter, die Büschen, Monstern oder bloß der Einbildung entstammten.
Takjin schlich sich an die Zombies heran, ganz nah, doch statt anzugreifen, hielt er inne. Die Monster standen nun, da sie niemanden zu jagen hatten, einfach herum. Sie stöhnten und grunzten, aber irgendwie wirkten sie verloren in dem sintflutartigen Regen, der auf sie herabstürzte.
Takjin konnte nicht anders, als ihnen in die verzerrten Gesichter zu sehen, deren Münder dümmlichen offen standen, dass der Regen hinein lief. Ihre Augen lagen tief in den schlaffen Höhlen. Sie wirkten ungemein unglücklich.
Unwillkürlich fragte Takjin sich, ob die Zombies einmal Menschen gewesen waren. Woher kamen sie? Fragen, die Takjin sich niemals gestellt hatte, prasselten nun auf ihn ein wie die Regentropfen. Woher kamen die Monster? Waren sie wirklich nur das? Monster? Oder waren sie vielmehr wie Tiere, deren Instinkte jedoch die Jagd auf Menschen beinhalteten?
Er musste sich zusammenreißen und davonschleichen, aber um das Schwert zu führen fehlte ihm plötzlich der Mut. Takjin wanderte in den Wald hinein und fand schließlich ein Schaf, das von Wölfen oder etwas anderem gerissen worden war. Schnell sammelte er das Fleisch ein, denn er würde es brauchen. Als er sich erinnerte, dass Dokarestmus ja nun nicht mehr erreichbar war, sammelte Takjin einige Zweige ein. Sie waren tropfnass, aber wenn er sie trocknete, würde er vielleicht ein kleines Feuer entzünden können. Von nun an musste er sich selbst um essbares Fleisch kümmern. Hoffentlich hielt er durch, bis Dokarestmus sein Versprechen einlösen konnte.
Mit den Ästen und dem Fleisch kehrte Takjin zur Höhle zurück, doch der Regen hatte noch nicht nachgelassen. Um seine Vorräte zu schützen, legte Takjin sie unter einen tropfenden Baum und breitete seine neue Krokodillederrüstung schützend darüber aus.
Takjin beschloss, den Trank auszunutzen und begab sich von Neuem in den düsteren Wald. Wieder und wieder begegneten ihm Monster. Klappernde Skelette, stöhnende Zombies, Wölfe und Spinnen, selbst die Creeper, von denen niemand wusste, was sie waren. Takjin konnte sich auf den magischen Trank verlassen und so folgte er unbehelligt in der Spur von jagenden Wölfen und Raubkatzen und schaffte es, mehrere Brocken Fleisch zu retten, etwas frische Wolle und schließlich, zurück im Sumpf, weitere Krokodilshaut. Diesmal sah es ganz so aus, als ob die Reptilien sich mit einer Hexe angelegt hatten. Takjin häutete die Tiere hastig und blickte sich dabei die ganze Zeit um. So sicher er sich seiner Unsichtbarkeit auch war, er wusste, dass Hexen durchaus in der Lage waren, selbst Tränke zu verwenden – vielleicht würde sie seinen Trick durchschauen.
Bevor die Sumpfhexe zurückkehrte, huschte Takjin wieder zur Höhle. Der Himmel wurde langsam grau, das hießt wohl, dass die Wolken sich auflösten. Takjin kauerte noch eine geschlagene halbe Stunde in dem winzigen Wäldchen, frierend und zitternd, bis der Regen schließlich nachließ.
Als Takjin in die Höhle kletterte, stand das Wasser zwanzig Zentimeter hoch und schwappte um seine Knöchel und um die magische Kiste, deren Deckel nun der letzte trockene Ort war. Takjin begann, das Wasser mit den Händen nach draußen zu schöpfen, doch da er wieder sichtbar wurde und die Arbeit auch nicht voranging, hörte er schließlich auf.
Der Regen hatte auch eine Menge Matsch in die Höhle gewaschen, den Takjin nun in der Mitte zu einer kleinen Insel aufschichtete. Er hängte die Häute auf und trank ein wenig von dem Regenwasser, dann verstaute er alle seine Sachen in Dokarestmus' Kiste. Er nieste, als er sich in der Höhle umsah. Was konnte er noch tun? Fleisch braten für sein Abendessen, doch für ein Feuer gab es noch keinen trockenen Platz. So saß Takjin schließlich mehrere Stunden auf seiner künstlichen Insel und wartete, bis der Matschberg trocknete. Er zog Linien in den Schlamm auf Höhe der Wasserlinie und konnte beobachteten, wie der Regen langsam absank. Die Sonne kam durch die Wolken und leuchtete heiß in die kleine Höhle, ihr Licht trocknete die Insel und verdampfte ein Teil des Wassers.
Am Abend musste Takjin sich eingestehen, dass er sich erkältet hatte. Das Niesen wurde immer heftiger und nun hustete er auch. Er schichtete das Holz auf, mit Fingern, die immer stärker zitterten, dann entzündete er ein kleines Feuerchen.
Eine ganze Weile saß Takjin nur da und wärmte sich an den Flammen, bis er sich erinnerte, dass er einen Grund gehabt hatte, dieses Feuer aufzuschichten. Auf einem übrig gebliebenen Stock röstete Takjin das Fleisch. Er hatte keine Erfahrung im Braten. Das erste Stück Fleisch nahm er zu früh herunter, es war noch roh, das zweite Stück bereits verbrannt. Unter dem Strich bekam er jedoch eine gute Mahlzeit zusammen und konnte sich am Abend nah an der Glut auf der noch feuchten Schafswolle zusammenrollen, den Duft der nassen Wolle in der Nase und im Herzen die Hoffnung, dass er notfalls für immer in der Wildnis überleben könnte. Er war erschöpft und müde, aber glücklich.
Am nächsten Morgen hatte er Fieber.