Obwohl eindeutig klar war, dass man die Ostmine nicht wieder in Betrieb würde nehmen können, beschloss die kleine Gruppe, ein paar Tage in dem winzigen Wärterhaus zu bleiben, das zu der Mine gehörte. Denn ansonsten erwartete sie nur der lange und gefährliche Rückweg, die Frage, ob Artreis auch weiterhin bei ihnen bleiben würde, und ähnliche unangenehme Dinge.
Den ersten Abend verbrachten sie im Haus und spielten Dreifad, ein altes Zwergenspiel. Obwohl Artreis sich für ziemlich geschickt hielt, schien Aleé anderer Meinung zu sein.
„Nein, nein, du musst den Faden oben drüber führen oder aber hier nach unten, dann über meinen Faden und hier ein S schlagen!“, schimpfte sie.
„Aber du hattest gesagt, es ist egal, wie ich den Faden führe!“ Artreis hielt einen gelben Faden in der Hand, Menakurr einen roten und Aleé einen blauen.
„Aber dann kommt kein Muster dabei heraus!“, regte sich Aleé auf. „Ein Muster ist doch der ganze Sinn des Spiels!“
Artreis seufzte und betrachtete seine heillos in Knoten verstrickten Finger. „Und das Spiel muss man wirklich zu dritt spielen?“
„Ja“, sagte Aleé mit Nachdruck.
In diesem Moment stand Menakurr auf und befreite seine dicken Finger durch irgendein Wunder aus dem Wirrwarr. Das, was einmal ein Muster hatte werden sollen, fiel in sich zusammen. „Lasst uns etwas anderes machen.“
„Was denn?“ Aleé klang nicht abgeneigt und auch Artreis würde viel tun, um das Dreifad-Spiel beenden zu können.
„Ich muss noch ein bisschen was mixen. Wieso helft ihr beiden mir nicht?“
„Mixen?“, fragte Artreis neugierig, als Menakurr sich zurückzog und begann, mit mehreren Fläschchen zu hantieren.
„Er ist Alchemist“, erklärte Aleé mit einem stolzen Tonfall.
Also halfen sie Menakurr bei der Herstellung einiger rätselhafter Dinge. Aleés Laune besserte sich schnell und nach Abschluss der Brauerei winkte Menakurr sie nach draußen. Er machte ein großes Geheimnis daraus, was er ihnen zeigen wollte, hockte sich einfach auf den Boden und baute etwas auf. Artreis und Aleé warteten Seite an Seite, Aleé mit einem verträumten Lächeln.
„Achtung!“, rief Menakurr. „Jetzt!“
Fauchend und zischend stieg etwas in den Himmel auf. Staubwind scheute entsetzt und Artreis ergriff die Zügel des Pony, um ihm beruhigend den Nüstern zu kraulen. Das zischende Etwas erreichte die Wolkendecke über ihnen, es gab einen lauten Knall – dann regnete es grüne und blaue Funken.
„Oh! Ah!“, rief Aleé verzückt.
„Wunderschön!“, musste auch Artreis anerkennen.
Menakurr grinste wie ein kleiner Junge, dem die Eltern Respekt zollen. „Leuchtraketen. Habe ich selbst erfunden. Man kann sie meilenweit sehen.“
„Und wie sie leuchten!“, freute sich Aleé.
„Ich kann ihnen jede Farbe geben. Und sogar ein paar verschiedene Formen. Ich plane, sie als Kommunikationswerkzeug zu benutzen. Ihr wisst schon – rote Signale für Hilferufe, blaue für Wasser, gelbe, wenn man auf Gold gestoßen ist – na ja, so in der Art.“
„Das … ist genial“, meinte Artreis beeindruckt. „Ehrlich.“
Menakurr wich bescheiden seinem Blick aus. „Es ist noch lange nicht ausgereift.“
Am nächsten Morgen erwachte Artreis früh mit einem Gefühl von Einsamkeit und Fremdheit. Er fühlte sich seltsam ausgelaugt, also stand er auf und ging nach draußen, um etwas Zeit für sich zu haben. Er dachte an Mesnai, der sich sicherlich größte Sorgen machen würde. An seine Freunde in Elliya – ob sie ihn vermissten? – und seine alten Zukunftspläne, die vor knapp einer Woche durch einen einzigen Namen verpufft waren.
Er seufzte und sattelte Staubwind. Er ließ seinen Mantel auf dem kurzen Zwergenbett zurück, dass Menakurr ihm zugeteilt hatte, damit seine Freunde wussten, dass er zurückkehren würde. Dann schwang er sich in den Sattel und trieb Staubwind an.
Das Pony sprang munter über die Oststraße und Artreis genoss das Gefühl des Windes im Haar. Sein Herz schlug sofort höher und er konnte die Sorgen vergessen. Er hatte Staubwind und zwei gute neue Freunde – vielleicht war dieses neue Leben doch nicht allzu schlecht?
Er bereute seine Entscheidung nicht, doch trotzdem hatte er am Abend nach seiner Flucht ins Gebirge am Fuß des Brückenpfeilers gelegen und Rotz und Wasser geheult. Er hatte seinen Ziehvater verloren, seine Heimat, seine Freunde … aber er war ein Reiter, denn die Prüfung hatte er bestanden. Das war es doch, was er sich immer gewünscht hatte, oder etwa nicht?
Artreis lenkte Staubwind von der Straße herunter und in das zerklüftete Gebirge. Das Pony fiel in einen Trab, schneller konnten sie hier nicht reiten. Artreis atmete die frische Morgenluft ein und vertrieb die Sorgen und Zweifel.
In diesem Moment entdeckte er einen Esel.
Es war ein wilder Esel, ein Bergesel, wie man sie häufiger im Gebirge finden konnte. Dieser war auf einen Felsgrat geraten und steckte fest. Die langen Ohren zuckten, als das Tier Artreis bemerkte. Der Esel fragte sich sichtlich, ob nun sein letztes Stündchen geschlagen hatte.
„Nein, mein Freund“, murmelte Artreis leise. Er zügelte Staubwind und stieg ab. Dann durchforstete er seine Taschen, bis seine Finger auf den Apfel stießen. Der war eigentlich für Staubwind gedacht, doch das Pony konnte warten. Artreis kletterte zu dem Esel hinauf und hielt ihm den Apfel vor die Nase. „Hier, Grauer. Ein leckerer Apfel!“
Der Esel streckte den Hals und Artreis zog die Hand zurück. Das graue Tier schnaubte protestierend. Es stand schon länger auf dem Sims und war hungrig und erschöpft. Wütend machte der Esel einen Schritt vorwärts, auf Artreis zu. Der ging rückwärts weiter und der Esel folgte frustriert.
Ehe sich das wilde Tier versah, stand es neben Staubwind und konnte endlich in den saftigen Apfel beißen. Grinsend tätschelte Artreis die Stirn des Esels und kraulte ihn, dann schwang er sich wieder in den Sattel. Die gute Tat hatte seine Laune gebessert. Er lenkte Staubwind zurück zur Oststraße – inzwischen würden Menakurr und Aleé wach sein und Artreis bekam Hunger auf ein richtig leckeres Frühstück.
Hufgetrappel folgte ihm. Als Artreis sich umdrehte, trottete der Esel mit gesenktem Kopf hinter Staubwind her.
„He, nein! Du bist frei, Grauer. Und ich hab keine Äpfel mehr!“
Der Esel blieb stehen und sah ihn stur an. Er schnaubte. Als Artreis weiter ritt, folgte ihm der Esel.
Der Esel blieb. Als sie in Sichtweite der Ostmine kamen, sah Artreis, dass Menakurr ihnen bereits entgegen gelaufen kam.
„Artreis, endlich! Wo warst du?“
„Ausreiten.“ Artreis deutete lachend nach hinten. „Ich habe einen neuen Freund!“
„Artreis, du musst verschwinden.“ Menakurrs Stimme überschlug sich fast. „Es sind Reiter nach K'chtarr gekommen. Sie suchen dich. Wenn sie dich finden, sollen die Zwerge dich ausliefern. Du musst verschwinden, rasch! Einer ihrer Boten ist jetzt gerade bei der Mine!“
Artreis sah zu dem Hüttchen herüber. Soeben öffnete sich die Tür und eine Gestalt kam heraus. Es war eine groß gewachsene, in Schwarz gekleidete Gestalt, die allerdings den roten Mantel der Reiter über der Schulter trug.
„Gib mir den Esel, ich behaupte, du wärst ein Händler gewesen!“, dränge Menakurr. „Reite, Artreis! Los!“
Artreis war sprachlos. Schon wieder fühlte es sich an, als würde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen.
„Aber, wie … warum?“, stotterte er sinnlos.
„Ich weiß es nicht.“ Menakurr hatte ein Seil gefunden und schlang es um den Hals des Esels. Die Gestalt vor der Hütte, zu groß, um ein Zwerg zu sein, begann zu rennen.
„Reite, Artreis! Reite weg!“
Artreis zerrte an Staubwinds Zügeln. Das Pony wendete, preschte los. Der Wind fuhr in Artreis' Haare. Er war wieder allein und auf der Flucht.