Der Rückweg war eine schweigsame Angelegenheit gewesen. Menakurr war froh, als endlich die unzähligen Türme von K'chtarrs Hauptstadt Angerthás in Sicht kamen, die Brücken, Wendeltreppchen, der feurige Schimmer von Schmieden und Lava, Fackeln und Glühstein. Menakurr beschleunigte unwillkürlich seine Schritte und wurde dadurch gebremst, dass sich die Leine des Esels straffte, den Aleé inzwischen Grauchen getauft hatte. Zähneknirschend wurde er langsamer.
„Wie laut es ist!“, hauchte Aleé an seiner Seite.
Man hätte es für den allgemeinen Lärm von Hämmern und Werken, das Kreischen der Loren auf den Schienen und den üblichen Lärm einer Stadt halten können, doch Menakurr merkte, dass etwas nicht stimmte. Es war laut. Zu laut.
Er wurde wortlos schneller, zerrte den Esel hinter sich her. Die Straßen waren voller Zwerge. Die meisten diskutierten lautstark miteinander. Sie starrten Menakurr hinterher, als er mit seinem Esel vorbeihetzte.
Auf dem Marktplatz standen mehrere Reiter. Menakurr erkannte sie an der hochmütigen Haltung und dem glänzenden Fell ihrer riesigen Pferde. Einer, offenbar der Anführer, mit langem, schwarzen Haar, hielt ein Bild in die Höhe: Unter Artreis' Gesicht befand sich eine beträchtliche Geldsumme.
In diesem Moment starrte einer der Reiter Menakurr direkt in die Augen. Der Zwerg geriet vor Schreck ins Stolpern. Es war der schwarzhaarige Reiter mit dunklen, elfischen Gesichtszügen, der auch an der Ostmine gewesen war und den Menakurr mit einer wenig überzeugenden Geschichte abgewimmelt hatte, um Artreis die Flucht zu ermöglichen.
Jetzt beugte sich der Reiter zu dem Anführer herüber und deutete direkt auf Menakurr. Drei der Reiter stiegen in den Sattel und lenkten ihre Pferde durch die Menge.
„Scheiße!“, entfuhr es ihm.
Mit einem Mal war Aleé an seiner Seite und griff seinen Arm. „Lauf! Ich halte sie auf!“
Damit sprang das Mädchen zu dem Ausstelltisch einer Schmiede und warf ihn um. Werkzeuge flogen auf den Boden, die Umstehenden sprangen beiseite.
Doch Menakurr dachte nicht daran, zu laufen. Er fasste den Führstrick kürzer. Jetzt war die Zeit gekommen, sich zu beweisen!
Damit schwang er sich auf den Rücken des Esels und schlug ihm die eisenbewehrten Hacken in die Flanken. Der Esel stieß einen erschreckten Schrei aus und galoppierte los, die Hauptstraße entlang, vorbei an den Fackeln und Glühsteinen am Straßenrand, vorbei an einer schmalen Wendeltreppe ohne Geländer, die sich in schwindelerregende Höhe schraubte, vorbei an Festungen und Häusern aus dunklem Holz.
Die Reiter folgten, obwohl ihre Rosse kurz auf den verstreuten Werkzeugen tänzelten. Wütendes Geheul folgte Menakurr, dem Zwerg, der es wagte, die heiligen Gesetze der Reiter zu brechen.
Das Tor lag vor ihm. Grauchen preschte hindurch und sprang die steilen Treppen hinunter, die über einen breiten Fluss und dann auf die Wiesen von Ellynoi führten.
Grauchens Hufe griffen in das grüne Gras, da waren die Reiter auch schon heran, einer auf jeder Seite von Menakurr. Zwei Hände griffen je eine seiner Schultern, er wurde in die Luft erhoben und dann wie ein nasser Sack über einen Sattel geworfen. Der Sattelknauf bohrte sich hart in seinen weichen Bauch, er ächzte.
„Wir haben ihn!“
„Zurück.“
Dann traf etwas Menakurrs Hinterkopf und alles wurde schwarz.
Kaltes Wasser klatschte ihm ins Gesicht. Menakurr riss die Augen auf, schnappte nach Luft, keuchte. Als er blinzelnd seine Umgebung erkannte, fand er sich auf dem Boden einer großen gefliesten Halle wieder, ihm gegenüber standen drei Reiter: Der dunkelhäutige Elfenartige, der auch in der Ostmine gewesen war. Ein bulliger, grobschlächtiger Kerl mit kurzem, fettigem Haar auf dem absurd kleinen Kopf. Und der Anführer, mit langen, schwarzen Haaren, blasser Haut und einem langen Gesicht. Seine Augen waren dunkel, fast schwarz.
„Wie heißt du?“
„M-Menakurr Kiesfaust“, stieß Menakurr hervor und richtete sich nervös in eine kniende Position auf.
„Kennst du diesen Mann?“ Ein Bild mit Artreis' Gesicht wurde ihm unter die Nase gehalten.
Menakurr zuckte zusammen. „Nein!“
Der Bullige trat ihn in die Rippen, es knackte. Menakurr schrie. Wie war er nur hier gelandet?
„Ich frage dich gleich noch einmal, doch lass mich dir vorher etwas verraten:“ Der Anführer hatte sich vorgebeugt und fixierte Menakurr aus seinen tiefschwarzen Augen. „Für jede Lüge schneiden wir dir einen Finger ab. Also, kennst du Artreis Kielran?“
„Nein!“, stieß Menakurr hervor.
„Und woher hast du den Esel? Von einem Reiter auf einem gescheckten Pony, oder nicht?“
„Nein!“, rief Menakurr wieder.
Der Anführer nickte. Der Bullige packte Menakurrs eine Hand. Der Zwerg brüllte, dann kreischte er. Das Messer hatte sich schneller bewegt, als er es gesehen hatte. Die Schmerzen waren unerträglich, strahlten bis in seinen Ellbogen aus. Das war kein Traum, wurde ihm klar. Er umklammerte die eine Hand mit der anderen, Blut sprudelte zwischen den Fingern hervor.
„Nochmals: Kennst du Artreis Kielran?“
„Ja! Ja!“, keuchte Menakurr. Vor seinem Blick verschwamm alles. Seine Finger, einfach weg! Der Kleine und der Ringfinger! Fort! „Ja, ich kenne ihn!“
„Bestens. Warum nicht gleich so?“ Der Anführer lehnte sich zufrieden zurück. Menakurr wälzte sich auf dem Boden und wollte bewusstlos werden. Er schrie. Er weinte. Er brabbelte.
„Und weißt du, wo Artreis jetzt ist?“
„Nein. Nein, weiß ich nicht. Aber ich … aber ich kann ihn vielleicht herholen.“
Der schwarzhaarige Anführer beugte sich über den Zwerg. „Ist das so?“
Die linke Hand war verbunden, doch der Schmerz pochte immer noch. Menakurr fühlte sich leer, betäubt. Irgendwo in seinem Hinterkopf fragte er sich, was aus Aleé und Grauchen geworden war. Die Angst um die beiden ließ ihn wenigsten für einen Moment etwas empfinden, eine eisige Klaue, die sich um sein Herz schloss. Hoffentlich ging es beiden gut!
„Was ist das?“, fragte der schwarzhaarige Reiter und deutete auf die Raketen, die Menakurr hergestellt hatten.
„Feuerwerk“, erklärte er ruhig. „Ein Prototyp in der Testphase.“
„Ich warne dich“, sagte der Anführer. Er hieß Pralikov, wie Menakurr mitbekommen hatte. Er war sich nicht sicher, ob die drei wirklich aus Ellynoi kamen. Sie hatten alle einen merkwürdigen Akzent. „Wenn du vorhast, etwas Schlaues zu versuchen, bringen wir dich um.“
Menakurr war müde. Seine Hand schmerzte. Der Schock ließ langsam nach und er fühlte sich den Tränen nah.
„Es soll ein Kommunikationsmittel werden“, erklärte er dann. „Artreis kennt es. Wenn ich eine rote Rakete sende, wird er denken, dass ich in Gefahr bin und Hilfe brauche.“
Und er wird kommen, um mich zu retten, dachte Menakurr. Der Gedanke ließ ihn erschauern. Artreis würde kommen. Und er würde direkt in die Falle laufen. Menakurr war ein Verräter. Er starrte auf den blutgetränkten Verband. Und fühlte sich leer.
„Dann hol ihn her“, befahl Pralikov.
Menakurr nickte und zückte den Feuerstein. Er steckte die Rakete in den Boden und schlug einen Funken los. Wenig später fauchte und zischte die Rakete in den Himmel und explodierte zu einem Regen roter Funken.
Rot für Gefahr.
Rot für Verrat.
Menakurr seufzte. Zwei Reiter packten seine Arme. „Was machen wir mit ihm?“
„Wir brauchen nur den Jungen“, befahl der Anführer mit kalter Stimme und sah in den Himmel. „Den Zwerg können die Reiter haben. Er hat ihr Gesetz gebrochen.“
Und das Gesetz der Freundschaft, vervollständigte Menakurr die Anklage im Stillen, und ließ sich widerstandslos abführen.