Ein weiterer Tag verging ereignislos. Takjin machte sich immer größere Sorgen. Er las Dokarestmus' letzte Botschaft wieder und wieder durch. Dann rückte er die Kiste hin und her, denn sie sollte „auf festem, trockenem Grund“ stehen. Er überlegte, ob er sie falsch platziert hatte, und suchte nach einem besseren Flecken.
Doch die Kiste blieb stumm.
Takjins Sorgen wurden immer nagender. Hatte er die Kiste vielleicht aus Versehen beschädigt? Oder war Dokarestmus etwas zugestoßen?
Oder hatte der alte Mann ihn vergessen oder gar belogen? Wenn Takjin so genauer darüber nachdachte, dann hatte der Unbekannte keines seiner Versprechen gegenüber Takjin gehalten, allerhöchstens jene, die es brauchte, um einen leichtgläubigen Jungen mitten in die Wildnis zu schicken.
In den Wolfswald hinter dem Wildrosental, wohin sich selbst die Jäger des Dorfes niemals gewagt hatten. Es regnete den Tag über, kalte, winzige Tropfen, die man kaum spürte, doch ihre Kälte kroch durch Takjins Rüstung und Kleidung, langsam immer tiefer, zu seinem Herz und seiner Seele.
Hatte Dokarestmus ihn belogen? Takjin hatte erlebt, wie ein ganzes Dorf ihn im Stich ließ, all jene, die er kannte und denen er vertraute – wieso also nicht auch Dokarestmus, ein Fremder, den Takjin noch nie zuvor gesehen hatte und über den er kaum etwas wusste?
Takjin bemühte sich, diese düsteren Gedanken zu vertreiben. Also begab er sich auf kurze und schließlich immer längere Streifzüge durch seine unmittelbare Umgebung. Die erste derartige Reise begann er, als er ganz in der Nähe Äste im Unterholz knacken hörte. Lautlos huschte er an den Rand seines Lagerplatzes, das Schwert in der Hand. Er schlug einen Bogen, um sich dem Verursacher der Geräusches von hinten zu nähern.
So einfach diese Aufgabe im Grunde war, ihm schlug das Herz bis zum Hals und er war auf's Äußerste gespannt, damit er sich nicht mit einem Fehltritt auf dem trockenen Laub oder den winzigen Stöckchen verriet. Mit schweißnassen Händen schlich er hinter das Wesen, das so nah an seinem Lager rumorte.
Es war eine verwilderte Katze auf der Jagd, ein hellgraues Tier mit wachsamen, grünen Augen. Takjin atmete vor Erleichterung laut aus – die Katze hörte ihn, schreckte zusammen und war mit wenigen Sprüngen im Gebüsch verschwunden.
Takjin würde sie nicht wiedersehen.
Bald merkte er, dass er hungrig wurde, doch er wagte nicht, an seine Vorräte zu gehen. Langsam neigte sich das, was er von Dokarestmus erhalten hatte. Takjin schnappte sich einen Unsichtbarkeitstrank aus der Kiste – nur zur Not, wie er sich sagte – und schlich erneut mit gezücktem Schwert ins Unterholz.
Er suchte nach etwas Essbarem, ob Pflanze oder Tier war ihm schon beinahe egal. Doch die einzigen Tiere, die er von weitem sah, war eine Rotte Wildschweine, der er sich lieber nicht näherte. Dafür fand er unter den niedrigen Ästen eines Strauches schließlich einige Pilze, die er für essbar hielt. Als Junge, der im Wald aufgewachsen war, wusste er um die Gefahr giftiger Pilze, aber er hatte auch gelernt, einige essbare Pilze zweifellos zu erkennen, obwohl es lange her war, dass der Jäger ihn in diese Geheimnisse eingeweiht hatte.
Trotzdem nahm er die Pilze mit und machte sich wenig später nochmals auf den Weg, um ein wenig Feuerholz zu sammeln. Er fand nur wenige Äste, die nicht feucht waren; als er schließlich ein Feuer in Gang brachte, qualmte es heftig und ging wieder und wieder aus.
Die Pilze legte er direkt in die Glut, denn er hatte keine Schale oder Schüssel. Um seine karge Mahlzeit etwas aufzustocken, legte er einige Kartoffeln dazu, die letzten, die er noch hatte. Frierend beugte er sich über das Feuer und versuchte, seine kalten Hände an der spärlichen Hitze aufzuwärmen.
Es war ein hoffnungsloses Unterfangen. Die Nacht zog herauf und der Regen wurde stärker, bis er das Feuer schließlich löschte. Takjin knabberte vorsichtig an einer durchweichten Kartoffel. Sie schmeckte hauptsächlich nach Asche, schien aber zum Glück durchgebraten zu sein, also aß Takjin auch den Rest. Er war jetzt ausgesprochen hungrig und kümmerte sich wenig um die Gefahr, dass er giftige Pilze erwischt haben könnte.
Mit dem Erlöschen des Feuers kamen auch die düsteren Gedanken zurück, die Takjin zu verdrängen suchte. Allein in der Wildnis, durchnässt und frierend und voller Sorgen um Nahrung und Sicherheit, war es schwierig, an ein gutes Ende seiner Abenteuer zu glauben.
Wenig später, nachdem die Sonne endgültig vom Himmel verschwunden war, hörte Takjin ein Geräusch in der Nähe.
Lautlos erhob er sich, das Schwert wie immer in der Hand. Er wartete mit angehaltenem Atem und bemerkte einen Schatten, der aus der Finsternis des Waldes trat, ein großes Geschöpf mit Augen, die blass im Mondlicht schimmerten.
Takjin rührte sich nicht, und schließlich erkannte er einen Hirsch, der vorsichtig über die kleine Lichtung stelzte und nervös witterte. Dann wandte das große Tier sich ab und sprang in die Büsche. Kleine Erdklumpen, von den Hufen aufgewirbelt, trafen seine Kleidung und sein Gesicht.
Er fand sich mit rasendem Herz auf dem Erdboden wieder, vollkommen atemlos. Seine Hände waren feucht von Regen und Schweiß.
Noch dreimal in dieser Nacht fuhr er auf, von einem nahen Rascheln oder einem fernen Heulen an die allgegenwärtige Gefahr erinnert. Beim letzten Mal hörte er die Geräusche vieler Schritte, die sich näherten. Während er noch lauschte, hörte er ein allzu vertrautes Schnaufen.
Schneller als die Wildkatze war Takjin von der Lichtung verschwunden. Wenig später trottete die Wildschweinrotte vorbei. Einige Tiere umringten die Kiste und schnupperten neugierig daran. Ein junger Keiler knabberte am Holz.
Takjin hockte über ihnen im Baum. Nervös hoffte er, dass die großen Schweine die Kiste nicht beschädigen würden. Nur ein kleiner Teil von ihm dachte, dass das keinen großen Unterschied machen würde.
Doch die Wildschweine zogen bald weiter und schließlich dämmerte der Morgen. Takjin hatte im Baum einige Stunden geschlafen, jedoch unruhig und nervös.
Als er auf den Boden kletterte, hatte der Regen aufgehört, doch der Boden war matschig und aufgewühlt. Takjin untersuchte die Spuren und schluckte, denn die Abdrücke großer Wolfstatzen waren zwischen verschiedenen kleineren Pfoten- und Hufabdrücken zu sehen.
„Ich habe mich zu sicher gefühlt“, murmelte er leise zu sich selbst. Aber er hatte auch nicht damit gerechnet, lange Zeit hier zu verbringen.
Er sah in die Kiste, doch an ihrem Inneren hatte sich nichts verändert, nur einige neue Kratzer zierten den Lack.
Frustriert verpasste er Dokarestmus' Kiste einen Tritt, dann setzte er sich darauf und atmete tief durch. Er musste sich sammeln. Auf der Lichtung konnte er nicht bleiben, also suchte er besser nach einen geschützteren Ort in der Nähe. Noch wollte er die Hoffnung nicht ganz aufgeben, dass Dokarestmus sich eines Tages melden könnte.
Takjin nahm den Unsichtbarkeitstrank mit und sein Schwert und machte sich zu einem dritten Streifzug auf. Während er bisher immer in Sichtweite der Lichtung geblieben war, um jede Änderung an der Kiste zu bemerken, entfernte er sich diesmal weiter, ging in Richtung der fernen Berge und wieder ein Stück zurück in die Richtung, aus der er zuvor gekommen war.
Schließlich fand er eine kleine Höhle im Erdboden, die unbewohnt schien – sie war zu groß für die meisten Waldtiere. Takjin untersuchte sie und fand im Inneren einen Flecken trockener Erde. Mit ein paar Stöcken würde er den Eingang sichern und verbarrikadieren können. Takjin sah sich um, nickte und ging dann los, um die Kiste zu holen.