Es war so schön, Menakurr wieder bei sich zu haben, dass Aleé die Gefahren der Flucht überhaupt nicht beachtete. Sie war wie berauscht, als sie ihren Freund aus der Kanalisation führte, dann hinaus in die nächtlichen Straßen und zum Fluss.
Sie sprachen kein einziges Wort. Menakurr war erschöpft von der Gefangenschaft und viel zu nervös, Aleé war zu glücklich, um den Moment zu zerstören. Beim Rathaus liefen Menschen mit Fackeln herum, strömten in die Stadt, doch die Zwerge waren schneller. Ein paar Betrunkene, die aus einer Taverne beim kleinen Hafen stolperten, starrten ihnen hinterher, als sie über die Brücke liefen und in den Wald flohen.
„Ich hätte nicht gedacht, dass ich noch einmal Wälder sehen würde!“, keuchte Menakurr, als sie langsamer wurden.
Aleé grinste. „Du wirst noch eine Menge sehen, alter Mann!“
Menakurr schloss die Augen und atmete die kalte Luft tief ein. „Danke. Danke, Aleé!“
Sie standen einen Moment schweigend beieinander, dann ging Aleé langsam weiter, um Grauchen zu suchen.
„Werden wir auch Artreis befreien?“, fragte sie.
„Natürlich!“ Menakurr sah sie an, als wäre er böse auf sie. „Er ist unser Freund!“
„Schon, aber … wir kennen ihn doch kaum.“
„Wir wissen alles über ihn, was wir wissen müssen.“
Aleé runzelte die Stirn. „Ich weiß nichts von seiner Familie, seinem Leben oder überhaupt irgendwas!“
„Wir wissen, dass er ehrlich ist, mutig und ein Feind der Reiter“, gab Menakurr zurück. „Ich denke, das reicht.“
Aleé beschloss, nicht zu streiten, wenngleich sie sich fragte, ob es ihr auch gelingen könnte, in den Zwergenkerker einzudringen. Dessen Mauern waren sicherlich nicht mit ein paar Stangen Dynamit aufgesprengt.
„Was sind wir jetzt eigentlich? Rebellen?“, fragte sie Menakurr.
„Politische Verbrecher“, gab der Ältere zurück und sprang plötzlich vorwärts: „Grauchen!“
Der Esel schnaubte und ließ Menakurrs Umarmung stoisch über sich ergehen. Der Zwerg sah seinen Esel an, während Aleé einen Stich der Eifersucht verspürte. Ihr war niemand dankbar um den Hals gefallen, dabei wünschte sie sich doch genau das!
„Du hast abgenommen“, meinte Menakurr zu dem Esel. Aleé zog einen Apfel aus der Tasche und warf ihn Menakurr zu, der Grauchen fütterte und dabei zwischen den langen Ohren kraulte.
„Er hat sich ganz alleine auf den Wiesen durchgeschlagen“, berichtete Aleé. „Drei Wochen lang.“
„Ach, mein Armer!“, sagte Menakurr, dann drehte er sich plötzlich um, trat zu Aleé und umarmte sie so stark, dass ihr die Luft wegblieb. Er hob sie vom Boden ab und wirbelte sie durch die Luft. „Ich bin frei!“
Aleé lachte mit ihm. Menakurr setzte sie ab, nahm ihr Gesicht in beide Hände und – küsste sie.
Aleé war so erschrocken, dass sie zuerst nicht reagieren konnte. Dann, als Menakurr sich von ihr lösen wollte, packte sie ihn an seinem Hemd und zog ihn zu sich zurück, öffnete ihre Lippen für ihn.
Sie hatte so lange darauf gewartet!
„Deine Hand“, meinte Aleé, als sie sich von Menakurr löste, und strich über den Handrücken seiner Linken. Zwei Finger fehlten und die Stummel waren schlecht verheilt.
Menakurr wandte das Gesicht ab.
„Sie haben dich gefoltert!“, erkannte Aleé entsetzt. „Ich wusste, dass du Artreis niemals verraten würdest.“
„Ich habe ihn aber verraten“, sagte Menakurr bitter. „Ich habe ihn in eine Falle gelockt, mit meinen Leuchtraketen. Meinetwegen ist er gefangen!“
„Und wir werden ihn befreien“, sagte Aleé zuversichtlich. Sie drückte Menakurrs verletzte Hand.
Er lächelte sie an, dann nahm er Grauchens Stick. „Wir sollten uns vielleicht beeilen. Reiten kommt ja leider nicht in Frage.“
„Ach, warte kurz!“ Aleé griff in ihren Beutel und zog einen Helm, eine Spitzhacke und eine Sammlung Schriftrollen hervor.
„Meine Sachen!“ Menakurr ergriff sie eilig und setzte den Helm auf. Er sah gleich wieder aus wie früher, vielleicht ein wenig struppiger. „Danke. Du ahnst nicht, wie wichtig diese Schriftrollen sind!“
„Ich kann es mir denken, so, wie du immer darauf achtgibst. Die Reiter haben sie einfach in den Dreck geworfen“, meinte Aleé. Sie lächelte Menakurr an. Er war zurück!
Menakurr ergriff den Strick des Esels und sie liefen los, durch den Wald und auf die weiten Wiesen zu, die sie nach K'chtarr bringen würden. Eine gefährliche Reise.
Als sie die Deckung des Waldes endgültig verlassen mussten, war auch die Sonne bereits aufgegangen. Aleé und Menakurr eilten durch das hohe Gras, trotzdem dauerte es nicht lange, bis am Horizont Reiter erschienen.
„Verdammt!“, fluchte Menakurr. Es gab keine Deckung. Keine Fluchtmöglichkeit.
„Nimm Grauchen!“, drängte Aleé. „Flieh, ich halte sie auf!“
„Nein. Grauchen ist zu langsam.“
Menakurr und Aleé drängten sich an die Seite des Esels. Die Reiter, insgesamt fünfzehn Stück, galoppierten auf sie zu. Aleé sank das Herz in die Hose. Menakurrs kurzer Augenblick der Freiheit war also bereits wieder vorbei?
Die Reiter umringten sie und richteten Speere, Bögen oder Schwertspitzen auf die Zwerge. Menakurr und Aleé griffen nach Axt und Spitzhacke.
„Wer seid ihr und wohin wollt ihr?“, fragte einer der Reiter, ein braungelockter Junge auf einem großen Grauschimmel.
Aleé erstarrte. Waren die Reiter nicht ausgeschickt worden, um die Flüchtigen einzufangen?
„Wir wollen nach K'chtarr“, sagte sie und schielte aus dem Augenwinkel zu Menakurr.
Der beugte sich zu ihr und flüsterte: „Es sind keine Reiter, Aleé! Keine Gildenreiter – ihre Pferde sind Warmblüter.“
Die Erleichterung durchflutete Aleé, ihre Knie wurden weich. Vielleicht konnten sie sich noch retten!
„Warte mal, Meik.“ Eine junge Frau drängte nach vorne. „Ich kenne den einen doch!“
Die Frau kramte in einer Tasche und brachte dann ein Stück Papier zum Vorschein. Ein Flugblatt mit Menakurrs Gesicht darauf und einer der Parolen, die die Auslieferung des zwergischen Gefangenen an K'chtarr forderten.
„Menakurr Kiesfaust“, las der andere Reiter. „Du bist der reitende Zwerg.“
Aleé sank das Herz. Sie waren erkannt worden.
Menakurr seufzte. „Ja.“
„Du bist auf dem Esel da geritten?“, fragte der junge Reiter mit den braunen Haaren, den die Frau als Meik angesprochen hatte. „Zeig es uns.“
Aleé sah unglücklich zu, wie Menakurr auf den Rücken des Esels kletterte und das Tier ein wenig im Kreis laufen ließ. Die Reiter johlten und klatschten sich gegenseitig ab.
„Ich wusste nicht, dass du wieder frei bist“, sagte Meik und schüttelte Menakurr zur allgemeinen Verwunderung die Hand. „Meik Garran, es ist mir eine Ehre.“
„Menakurr … Kiesfaust“, sagte Menakurr perplex.
„Und du bist?“ Meiks Blick fiel auf Aleé.
„Aleé Kupferbart“, sagte sie.
„Und du reitest auch?“
Sie war unsicher, was sie antworten sollte. Nach einem kurzen Blick zu Menakurr nickte sie schüchtern.
„Super!“ Meik richtete sich auf und winkte jemandem. „Bring Aurora her!“
Aleé wusste nicht, wie ihr geschah. Plötzlich stand ein kleines, weißes Pony vor ihr und versuchte, ihren Ärmel zu fressen. Das Pony, Aurora, war noch kleiner als Staubwind und trug eine Satteldecke und ein grob geknüpftes Zaumzeug ohne Gebiss.
„Für mich?“, stammelte sie.
„Für menschliche Reiter ist sie zu klein“, meinte Meik lässig. „Steigt auf und kommt mit. Wir können euch gut gebrauchen.“
„Wer seid ihr?“, platzte Menakurr heraus.
„Rebellen“, erklärte Meik. „Wir wollen den Krieg verhindern.“