„Takjin? Takjin!“
Takjin kam zu sich. Chank hatte ihn an der Schulter gepackt und schüttelte ihn heftig. „Was ist los, Junge? Geht es dir nicht gut?“
Takjin wischte die Hand des Bürgermeisters schwächlich beiseite. Nachdem er Dokarestmus' Botschaft gelesen hatte, war ein Anfall von Schwäche über ihn gekommen, doch nun sah er wieder deutlich.
„Mir geht es gut“, sagte er zu Chank.
„Was hat das zu bedeuten?“, fragte der Bürgermeister und wies mit der Hand auf die magische Truhe. „Ich verstehe das nicht!“
„Ich werde es dir erklären“, sagte Takjin müde. „Bitte, gib mir etwas Zeit. Ich komme später zu dir.“
Chank machte einen Schritt nach hinten und bedachte Takjin mit einem ernsten Blick, in dem auch so etwas wie unterdrückte Wut mitschwang, weil er einfach fortgeschickt wurde. Doch dann nickte er und ging langsam zurück zum Dorf. Nebel lag über der Welt, doch irgendwo hinter den weißen Wällen ging die Sonne auf.
Takjin kniete sich vor Dokarestmus' Kiste und las den Brief nochmals. Er wurde nicht schlauer aus den Worten, nur eines kam ihm seltsam vor: Folge auf keinem Fall dem Fluss aus den Bergen.
Dokarestmus hatte keinen Fluss erwähnt, als er Takjin damals losgeschickt hatte. Warum sollte er nun erwähnen, dass man einem Fluss folgen musste, um das Tor zu erreichen?
Dafür konnte es nur eine Erklärung geben: Es war eine Wegbeschreibung. Vielleicht fürchtete Dokarestmus – oder wusste es sogar – dass seine Briefe gelesen wurden. Also verschlüsselte der alte Mann seine Botschaft!
Takjin zerknüllte den Brief in der Hand. Das musste einfach die Lösung sein! Dokarestmus war gezwungen worden, Takjin fortzuschicken. Die Botschaft war vielleicht unter Zwang geschrieben worden, doch verborgen zwischen den Zeilen war ein Hilferuf, der Takjin nach Soregrat führen sollte.
Takjin konnte nur hoffen, dass der Rest von Dokarestmus' Worten übertrieben und gelogen war.
Takjin faltete den Zettel wieder auseinander und las weiter: Nimm die Sachen, die ich dir schicke. Flieh.
Er blinzelte, denn seine Augen waren feucht geworden, dann beugte er sich über die Kiste.
Dokarestmus hatte ein Buch und zwei große Stäbe geschickt. Das Buch war sichtbar alt und in Leder gebunden, die Stäbe waren beide sehr lang – größer als Takjin, etwa so hoch wie ein ausgewachsener Mann. Der blaue Stab schimmere purpurn und endete in einem runden Knauf, von dem seltsame, lila Partikel absprangen wie Funken. Der andere Stab war hellgrün und seltsamer geformt. Takjin streckte eine Hand aus und stellte fest, dass der grüne Stab sich kalt und glatt anfühlte. Er kannte das Material nicht, aus dem die Stäbe bestanden, es mochte ein seltenes Metall sein.
Vorsichtig hob er den grünen Stab an, der erstaunlich schwer war. Es handelte sich um einen Speer, dessen Spitze breit und flach war und hellblau schimmerte. Direkt unter der Spitze wurde der Stab plötzlich breiter und eingefasst in diese Verbreiterung war eine Art Stein, rosa und von blauen Adern durchzogen, doch ein pechschwarzer Strich in der Mitte ließ ihn wie ein rosa-blaues Auge mit schlitzförmiger Pupille wirken. Auch von diesem Stein gingen Partikel ab, doch als Takjin vorsichtig danach fasste, konnte er sie nicht berühren. Sie glitten einfach durch seine Haut hindurch
Der Rest des langen Stabs war in regelmäßigen Abständen von breiten Ringen umschlossen, deren Grün dunkler war als das des Stabes. Insgesamt gab es vier solche Ringe. Doch der Abschnitt direkt unter dem Auge war nicht grün, sondern gelb. Scheinbar war hier eine Art Leuchtröhre in den Stock eingesetzt worden, sie sah aus wie der lange Leib eines riesigen Glühwürmchens.
Takjin betastete den leuchtenden Abschnitt neugierig und fand, dass die Oberfläche weniger kühl, dafür rauer war.
Der grüne Stab endete schließlich in einer Verdickung, in die eine riesige Kralle eingefasst war; wäre sie gestreckt statt gebogen, so wäre sie sicherlich so lang wie Takjins Unterarm.
Er legte den Stab wieder in die Kiste und murmelte leise: „Was hat das zu bedeuten?“
Er brachte es nicht über sich, die beiden Stäbe und das Buch zu nehmen. Das fühlte sich zu endgültig an, als ob er damit Dokarestmus' Verschwinden anerkannte.
Takjin saß lange im Laub neben der Kiste, während die Sonne immer höher stieg, die Vögel sangen und im Dorf das alltägliche Leben begann. Der Junge hatte eine Entscheidung zu treffen, die er nicht treffen wollte. Gerade nach Birkengrund zurückgekehrt, wollte er am liebsten hier bleiben, so lange er konnte. Doch er wusste, dass die Gefahr der Soldaten, so unwichtig sie mittlerweile erschien, noch nicht gebannt war. Außerdem – Dokarestmus hatte ihm den Weg nach Soregrat erklärt, oder nicht? Takjin wollte immer noch dorthin; er musste erfahren, was dort geschah und wie er verhindern konnte, dass diese Geschehnisse sich auf Birkengrund auswirkten.
Es ging etwas vor sich, etwas Großes. Die Flucht der Wölfe musste einen Grund haben, und irgendwie schien alles mit Dokarestmus zusammenzuhängen.
Takjin warf der magischen Kiste einen wütenden Blick zu und beherrschte sich mühsam, nicht aufzustehen und dagegen zu treten. Wenn er dieses Ding doch niemals gefunden hätte, dann wäre er jetzt nicht in Ereignisse verwickelt, die weit über sein Verständnis hinausgingen!
Und tot, dachte er im nächsten Moment ernüchtert. Ohne Dokarestmus hätte er in der Wildnis niemals überlebt. Allein deshalb schuldete er es dem alten Mann, zu helfen, so gut er konnte.
Langsam stand Takjin auf und ging zum Dorf zurück. Immer noch drehten sich die Gedanken in seinem Kopf im Kreis. Er wusste nicht, was auf Soregrat geschah oder überhaupt geschehen konnte. Aber er würde es herausfinden müssen, denn sicherlich hatte es etwas mit dem zu tun, was auch immer hier im Wald geschah.
Wie versprochen ging er direkt zu Chank, der in seinem großen Haus war. Als Takjin klopfte, riss Chank nur wenig später die Tür auf – er hatte auf den Jungen gewartet.
„Und? Was ist die Lösung all der Rätsel?“, drängte der beleibte Bürgermeister.
„Ich weiß selbst nicht alles“, wehrte Takjin ab und machte sich nicht die Mühe, an dem Bürgermeister ins Haus schlüpfen zu wollen. Chank würde sich der Höflichkeit erst erinnern, wenn seine Neugier etwas gestillt war.
Also erzählte Takjin, rasch und in wenigen Worten, wie es ihm nach der Flucht aus dem Dorf ergangen war. Er vermied alle Details, trotzdem malte sich Mitleid auf Chanks breitem, gerötetem Gesicht aus. Doch sobald Takjin bei der Truhe und ihren Eigenheiten angelangt war, rieb sich Chank nur noch das Kinn.
„Seltsam, seltsam“, murmelte er, als Takjin am Ende seines gekürzten Berichts angekommen war. „Ich besitze nun doch einige Bücher, und habe sie alle gelesen, aber in keinem davon war die Rede von einer Kiste wie du sie besitzt.“ Chank lachte trocken. „Und ich habe mich für klug gehalten, ist das zu fassen? Aber Takjin, du stehst ja die ganze Zeit hier in der Kälte! Komm rein, mein ...“
Chanks Blick glitt über Takjins Schulter hinweg und in die Ferne, als er etwas im Dorf bemerkte, was nicht dort sein sollte. Im gleichen Moment spürte Takjin eine Gänsehaut im Nacken, wie er sie noch nie zuvor verspürt hatte. Er wirbelte herum und sah eine Gruppe von dunkel gekleideten Männern, die soeben dort aus dem Wald kam, wo der schmale, gewundene Weg verlief, der zur Straße und über diese zu den größeren Städten in unbekannter Entfernung führte.
Es waren sieben Männer und sie gingen wie Soldaten, trugen aber weder Uniform noch Farben. Dass sie Waffen trugen, war vielleicht unter den langen Mänteln nicht zu sehen, aber Takjin zweifelte nicht einen Moment daran.
Chank packte den Jungen kurzerhand an der Schulter und zerrte ihn ins Innere, um die Tür ins Schloss zu werfen.
„Diese Gestalten bedeuten sicher nichts Gutes“, sagte er an Takjin gewandt. „Ich halte sie auf! Du musst diese Kiste nehmen und gehen, sofort!“
Takjin war wie erstarrt. Sein Herz raste und sein Körper wollte sich nicht rühren. Aus Birkengrund fliehen? Erneut?
„Los!“, herrschte Chank ihn an und dann bückte der Bürgermeister sich und hob einen schweren Knüppel auf, der hinter der Tür an der Wand gelehnt hatte. „Lauf, Takjin!“