Nach dem Ausritt erschien der Palast in den folgenden Tagen leerer und stiller als jemals zuvor. Merin ging langsam durch die Gänge des unteren Palastes, die in tiefe, bläuliche Schatten gehüllt waren. Das wachsende Telion lag jenseits der großen Glasfenster vor ihm ausgebreitet wie ein dunkler Teppich. Der Großvaterberg und sein Bart waren in völlige Schwärze getaucht, in der Siedlung zu Füßen des Berges dagegen brannten noch die Fackeln der Wachen.
Merin blieb in einem Zimmer stehen, das von einer flachen Sitzecke eingenommen wurde. Sein Blick glitt über die Wände und blieb an einem großen Gemälde hängen.
Es war ein Geschenk zu Chirogans Krönung gewesen und zeigte den jungen König, wie er heldenhaft über dem erschlagenen Drachen stand, das blutbefleckte Schwert triumphierend in den Himmel gereckt. Auch Merin war zu sehen, eine kleine, dunkle Figur im Hintergrund, ohne rechten Zweck im Bild, als wäre dem Künstler im letzten Moment eingefallen, dass auch Merin an jenem Tag dabei gewesen war, und er hätte den Berater, um nicht unhöflich zu sein, schnell dazu gepackt.
Chirogan hatte das Bild nicht leiden können und es deshalb in einen wenig besuchten Raum im Palast verbannt. Merin betrachtete die kunstfertigen Pinselstriche. Ashram war nicht gut getroffen worden – doch nur Wenige hatten den Drachen je aus der Nähe gesehen und überlebt. Der Maler hatte dem Drachen gerade Hörner und dunkle Stacheln auf dem Rücken verpasst, einen rot gepanzerten Bauch und ein riesiges Maul voller Zähne und Qualm, als der Drache seinen letzten, giftigen Atem aushauchte.
Merin schloss die Augen. Er spürte wieder, wie ihm die Beine gezittert hatten, an jenem furchtbaren Tag …
„Chirogan!“, keuchte ein damals etwas jüngerer Merin und kämpfte sich den Berg hinauf, den kleineren, gemütlicheren Hügel, den sie die Großmutter nannten.
Vor ihm blitzte das helle Blau von Chirogans Mantel auf, als der Junge vorwärts sprang. Merin mühte sich, mit ihm Schritt zu halten. Hinter ihnen flohen die Pferde in einem panischen Galopp, jene Tiere, die sie an der Meeresküste gestohlen hatten, um hierher zurückzukehren, in ihren Wald und ihre Heimat.
Es waren gute Tiere gewesen, die ein Schiff aus fremden Landen mit wunderbaren Namen gebracht hatte. Merin hatte nur zu gerne den Geschichten gelauscht, Chirogan ebenfalls. Sie waren Flüchtlinge gewesen, hatten sich im Hafen zusammengedrängt, in stinkenden Baracken gehaust. Jedes Schiff hatte die Hoffnung auf Arbeit und damit etwas zu Essen gebracht. Chirogan und Merin hatten sich niemals trennen lassen.
Chirogans Eltern, bei denen die beiden aufgewachsen waren, hatte das Feuer genommen. Es gab nur noch sie beide, den Sohn des Waldläufers und den großen, dunklen Waisen, der ihm wie ein Bruder war.
Sie hatten alles mögliche gearbeitet, für wenig Geld. Trotzdem hatte Chirogan niemals seinen Lebensmut verloren. Jeden Abend zerrte er Merin zu den Geschichtenerzählern, um Sagen von fremden Ländern und fernen Kontinenten zu hören.
Darunter waren auch die Geschichten vom Tod des schwarzen Drachen gewesen. Chirogan hatte aufmerksam zugehört – zu aufmerksam. Und mit seinem kindlichen, übertollen Mut hatte er einen Entschluss gefasst.
Merin war in jener Nacht erwacht und hatte festgestellt, dass das Bett neben ihm, Chirogans Bett, leer war. Er war aufgesprungen und zum Hafen gelaufen. Chirogan fand er bei den Ställen vor, wo der Junge gerade ein gesatteltes Pferd aus dem Stall führte.
„Du kannst mich nicht aufhalten, alter Freund“, hatte Chirogan traurig gesagt.
„Wohin gehst du?“
„Heim.“
„Tu das nicht!“, hatte Merin gefleht und Chirogan hatte abermals wiederholt: „Du kannst mich nicht aufhalten. Tut mir leid.“
„Dann warte kurz.“ Merin hatte in jener Nacht nicht nachdenken müssen. Er war in den Stall gegangen.
„Was hast du vor? Niemand darf uns hören!“
Merin hatte seinen Freund nur angesehen. „Ich hole mir ein Pferd.“
Sie hatten gestritten, wenn auch nicht lange. Dann waren sie gemeinsam geritten, im Schutz der Dunkelheit. Zurück über den Hügel, aus dem Hafen heraus, durch die Siedlungen der Bauern und zum Wald. Im Schutz von Großvaters Bart waren sie weiter gezogen, den Rauchsäulen entgegen. Ashram hockte auf dem Berg der Großmutter.
Das Land war verbrannt und verlassen, ohne jedes Leben.
„Du kannst keinen Drachen töten, Chiro. Du bist kein Krieger.“ Merin hatte immer wieder versucht, den Jungen umzustimmen.
„Ich kann es schaffen – hast du nicht die Geschichten gehört? Ich bin jetzt auch ein Waise ohne Eltern. Ich habe ein gutes Schwert und bin reinen Herzens!“
„Du bist ein Einfaltspinsel“, hatte Merin erwidert. „Lass uns umkehren, Chiro. Bitte!“
„Geh, wenn du dich fürchtest. Ich werde Ashram töten!“
Und Chirogan ritt weiter. Merin folgte ihm, denn es stand außer Frage, dass er ihn beschützen würde.
Und dann waren sie auf dem Berghang, die Pferde flohen, Chiro stürmte voran. Und oben erwartete sie der gewaltige Drache, blutrot die Schuppen, flammendorange die Bauchpanzerung, schwarz wie Qualm die langen und zahlreichen Stacheln. Die Schwingen spannten sich auf, umfingen den Himmel über ihnen. Die Schnauze war breit und spitz, die Hörner rund wie die eines Widders. Merin stolperte vor Angst, seine Beine wollten nachgeben. Nur ein Gedanke trieb ihn vorwärts: Chirogan!
Der Junge erreichte den Drachen und stürmte brüllend, mit fuchtelndem Schwert, auf ihn zu. Der dornenbesetzte Schwanz fegte Chiro zur Seite, schlug ihn gegen einen Stein. Der Drache beugte sich über Merins kleinen Bruder, sperrte den Rachen auf. Glühende Luft entwich dem Maul, die ersten kleinen Flammen leckten heraus.
„Nein!“, brüllte Merin, so laut er konnte. Er rannte, vergaß den Bogen, der über seine Schulter hing, und attackierte den Drachen mit den bloßen Fäusten. Er schlug gegen die roten Schuppen, brüllte sinnlose Worte und immer wieder den Namen: „Chirogan!“
Der Drache fuhr herum, stieß Merin eine Pranke gegen die Brust, drückte ihn zu Boden. Das Gewicht erstickte Merin, er griff hoffnungslos nach Halt, fand einen kleinen Stein, warf ihn gegen das gepanzerte Gesicht. Der Bogen auf seinem Rücken knackte unter dem Druck, splitterte, Holzspitzen bohrten sich Merin in den Rücken.
Dann war Chirogan aus dem Nichts herbei, tauchte unter den Bauch des Drachen und stieß das Schwert in dessen Brust, wo, genau wie in den Geschichten anderer Drachentöter, eine Schuppe fehlte.
Ashram brüllte so laut, dass sich die Bäume im Tal beugten. Er bäumte sich auf, schlug mit den Schwingen, dunkelschwarzes Blut regnete auf Merin und Chirogan herab. Erschöpft und verletzt krochen sie zueinander, packten einander an den Armen, hielten sich gegenseitig fest. Die Flügel des Drachen entfachten einen Sturm. Ashram tobte und spie Feuer. Die beiden Brüder duckten sich in den Schlamm, fühlten Wind und Feuer über sich.
Das ist das Ende!, dachte Merin und war sich sicher, im nächsten Moment von dem sterbenden Drachen begraben zu werden.
Doch Ashram kippte nach hinten und fiel in das Tal, donnerte dorthin, wo später die Siedlung des Königs sein würde.
Merin sah herab auf das kleine Dörfchen mit seinen winzigen Feldern und strohgedeckten Hütten. In der Mitte des Dorfes lag ein kleiner See, dort hatte sich der Kopf des Drachen in die Erde gebohrt. Es hatte Wochen gedauert, den gewaltigen Leichnam zu beseitigen und das stinkende Fleisch fort zu bringen. In jener Zeit hatte es Festmähler für die Armen und die Hunde gegeben – auch die Reichen hatten ein Stück von dem furchtbaren Drachen probieren wollen, doch wie sich herausstellte, schmeckte Drachenfleisch nur, wenn man wirklich hungrig war.
Merin sah zurück auf das Gemälde. Chirogan, wie er über dem Toten thronte, Merin mit gespanntem Bogen im Hintergrund, ein stolzes Lächeln auf den Lippen. Es war sehr viel schöner als die Wahrheit, die voller Schlamm und Fliegen gewesen war. Eine schöne Geschichte, der vielleicht andernorts andere kleine Jungen lauschten.
Nun endete die Geschichte damit, dass besagter König spurlos verschwand und sein ewiger Beschützer, Merin der Waldläufer, sich auf die Hilfe eines jungen Mädchens verlassen musste.
„Ach, Chiro“, sagte er leise, „wir sind schon zwei Helden, nicht wahr?“
Er vermisste den König so schmerzlich, dass er kaum sprechen konnte.