Chank riss die Tür wieder auf und trat nach draußen, um sich den Neuankömmlingen zu stellen. Takjin konnte sich immer noch nicht rühren. Völlig verängstigt stand er im dunklen Flur der Dorfhalle. Sein Herzklopfen schien in dem gestreckten Raum widerzuhallen.
Dann hörte er Stimmen von draußen auf dem Platz. Mit angehaltenem Atem schlich er zur Tür und lehnte das Ohr von Innen dagegen.
„Guten Tag!“ Das war Chanks Stimme, laut und fröhlich. „Wir haben selten Gäste hier; was führt euch in unser bescheidenes Dörfchen?“
„Wir suchen jemanden“, zischte eine Stimme. „Er ist hier.“
„Und wir suchen etwas“, sagte eine andere Person mit einer dunklen, dröhnenden Stimme. „Eine Kiste oder Truhe, blau, etwa so groß.“
„Nun ...“ Chank klang vollkommen ratlos. „Ich weiß nicht, wen ihr sucht. Aber so eine Kiste habe ich nicht gesehen.“
„Du lügst!“, fauchte die zischende Stimme tonlos. Takjin spürte, wie sich die Härchen auf seinen Armen aufrichteten.
„Alles gut, Kith, Naru“, sagte nun eine vierte Stimme, laut und voll. Takjin hörte Schritte und bückte sich, um durch das Schlüsselloch der Tür zu spähen. Einer der sieben Männer, großgewachsen und kräftig, mit einem feuerroten Helmbusch, trat an zwei anderen vorbei und auf Chank zu, der nervös den Knüppel hinter dem Rücken verbarg. Takjin konnte von dem Bürgermeister nur die Hände sehen, doch diese zitterten. Der großgewachsene Mann sprang wieder, seine Stimme war die vierte gewesen. „Du bist der Herr dieses Dorfes, oder?“
Chank antwortete nicht, Takjin konnte allerdings sehen, wie er nickte.
„Ich bin General Pralikov und ich werde dich nun noch ein einziges Mal im Guten fragen. Hör dir meine Frage gut an, denn ich werde sie nicht wiederholen. Wir suchen einen Jungen oder jungen Mann, der auf den Namen Takjin hört – er war hier oder ist es noch. Und wir suchen eine Truhe, blau und orange; recht klein, aber von großer Bedeutung, denn sie enthält einen Schatz, für den manche Leute töten würden. Hast du eines von beidem gesehen?“
Takjin hielt die Luft an. Chank wich zwei stolpernde Schritte vor dem General zurück. Dan fasste er den Knüppel fester und antwortete: „Nein! Ich kenne weder den Jungen noch die Kiste! Ich weiß nicht, wovon ihr redet!“
Der General seufzte und es klang wie ein Vater, der seinem Kind eine schwere und doch notwendige Lektion erteilen musste. „Dann … wirst du mit unserem Herrn sprechen müssen.“
Mit diesen Worten und so schnell, dass niemand reagieren konnte, zog der General etwas aus den Falten seines langen Mantels und hielt es vor Chanks Gesicht. Takjin konnte, über die Schulter des Bürgermeisters hinweg, einen Moment lang dessen gerötetes und verängstigtes Gesicht in einem hellen Gegenstand gespiegelt sehen. Der Ausdruck in Chanks Augen brannte sich in Takjins Bewusstsein, obwohl der Augenblick kaum länger als einen Augenschlag dauerte.
Dann verdunkelte sich der Spiegel plötzlich und eine Schwärze zeigte sich in seinem Glas, die tief und unendlich schien. Es gab Sterne und winzige, ferne Lichtpunkte, durch den Eingang des Spiegels zeigte sich ein ganzes, seelenloses Universum. Takjin starrte wie versteinert in die Dunkelheit, der Knüppel fiel aus Chanks kraftlosen Fingern. Erst zu spät merkten beide, dass sich ein Gesicht in der Leere bildete, sichtbar zuerst nur durch Nebel, deren Grenzen sich seltsam verschoben, als ob Atem wilder Tiere über Glas huschen würden. Dann bekam das Gesicht Farbe und Form. Takjin konnte den Blick nicht von den schwarzen Augen wenden. Er konnte sich nicht rühren, doch sein Herz raste wie wild.
Dann bewegte sich Chank oder der General ein wenig und der Spiegel glitt so zur Seite, dass Takjin ihn durch das Schlüsselloch nicht mehr sehen konnte. Er sprang von der Tür zurück und fiel auf den Holzboden im Flur. Er keuchte, als ob er gerannt wäre. Von draußen hörte er eine unmenschliche, kalte Stimme. „Sag die Wahrheit!“
Takjin konnte Chank schreien und wimmern hören, dann wieder die seelenlose Stimme: „Widersetze dich nicht, und es tut nicht weh!“
Chank stieß einen Schrei aus. Takjin presste sich die Hände auf die Ohren, doch nun setzten seine in der Wildnis gestählten Instinkte ein und er rappelte sich auf. Viel zu spät befolgte er Chanks Rat und lief den Flur entlang, durch die große Halle, wo das Fest gewesen war, und dann zu einem Fenster, dass zur Rückseite des Hauses führte.
Obwohl er nicht gehört hatte, dass Chank geantwortet hätte, hörte er plötzlich einen lauten Ruf: „Er ist im Haus! Findet ihn! Findet ihn!“
Takjin sprang durch das Fenster und in den Matsch. Er rutschte aus, fiel hin und kämpfte sich wieder hoch, dann rannte er wie verrückt auf den Waldrand zu. Er hörte Holz splittern, als die Tür zur Halle aufgebrochen wurde. Als er an der Schmiede vorbei rannte, packte plötzlich eine Hand seinen Arm.
Takjin wurde von den Beinen gerissen und kippte nach hinten, doch statt zu fallen, wurde er ins Innere gezerrt. Er erkannte Dara, die ihn mit geweiteten Augen anstarrte.
„Was ...?“, begann Takjin, da presste die Frau ihm eine Hand auf den Mund.
„Wir haben ihn!“, brüllte jemand draußen. Das war der Schmied, Torjen! Takjin wehrte sich in Daras Griff und trat um sich, doch die Frau war stärker als er.
„Da lang, er ist da entlang gerannt!“, rief Torjen draußen.
Schwere Stiefel polterten am Eingang vorbei und weiter zum Wald. Dara ließ Takjin los.
„Lauf!“, flüsterte sie ihm zu und wies in die entgegengesetzte Richtung. Dort stand die Truhe, erinnerte sich Takjin. Er nickte Dara zu und sprang los. Sein Herz hämmerte wie wild, während er erneut rannte. Als er den Waldrand fast erreicht hatte, hörte er einen lauten, schrillen Schrei, der ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Takjin blieb wie angewurzelt stehen und drehte sich um. Er sah sechs der sieben Männer über den Platz marschieren. Sie hatten ihn entdeckt und kamen nun rasch näher, doch sie rannten nicht mehr.
Dann tauchte der siebte auf, der aus der Schmiede kam, und in der Hand hielt er ein dunkles Schwert, von dem Blut tropfte.
Takjin keuchte vor Angst, seine Atemzüge waren abgehackt und flach. Er drehte sich wieder um und rannte zum Wald, wo die Kiste war. Er packte sie und zerrte sie mit sich, doch die Truhe war zu schwer, um mit ihr schnell zu laufen. Er stolperte und fiel in den Schnee. Die Männer kamen näher.
„Es ist aus“, sagte General Pralikov. „Gib auf, Junge.“
Takjin tastete nach seinem Schwert und zerrte daran, doch die Zähne hatten sich in dem Seil verfangen, das das Schwert hielt. Die Männer hatten ihn nun fast erreicht, da sprang Takjin nach vorne und schlug den Deckel der Truhe hoch.
Er griff wahllos nach einem Stab und hob ihn als Waffe gegen die Angreifer hoch. Der General war nun direkt vor ihm und streckte die Hand nach ihm aus, die anderen hatten Schwerter, einen Bogen und noch andere Waffen gezückt.
Takjin schlug mit dem Stock nach dem Arm des Generals und stieß dabei einen lauten, verzweifelten Schrei aus.
Der General zog die Hand zurück und der Schlag ging ins Leere.
Dann gab es einen fürchterlichen Knall und einen hellen Blitz. Takjin fühlte sich orientierungslos, er fiel oder flog, wurde gedehnt und gestaucht und einen Moment fühlte er … keine Schmerzen, aber ein unangenehmes Gefühl, wie Gliederschmerzen bei Fieber oder einen ähnlichen, dumpfen Schmerz, dessen Ursprungsort man nicht bestimmen konnte. Nicht stechend oder brennend, im Grund kaum wahrnehmbar, aber unerträglich.
Dann stolperte er keuchend nach vorne wie einer, der durch Eiswasser geschwommen ist und die Oberfläche durchbricht. Er sah auf, um zu verstehen, welche üble Magie die dunklen Ritter an ihm ausgeübt hatten.
Doch die Ritter waren fort. Das Dorf war fort.
Takjin stand alleine mitten im Wald. Verwirrt sah er sich um und erkannte einige der Birken wieder – er war nicht weit vom Dorf entfernt.
Dort, wo Birkengrund liegen musste, erhob sich eine dünne Rauchsäule in den Himmel. Dann ertönte ein lauter, wütender Schrei.
„Er hat die Truhe zerstört! Findet ihn! Er darf nicht entkommen!“
Takjin starrte verwirrt auf den Stab in seiner Hand. Es war der purpurne. Dann drehte er dem Dorf den Rücken zu und rannte.
Erst einmal musste er entkommen, dann konnte er immer noch überlegen, was es mit den ganzen Rätsel auf sich hatte.