Takjin rannte und die schwarzen Jäger folgten ihm.
Sie hatten seine Spur entdeckt, denn aus irgendeinem Grund hatten sie gewusst, wohin Takjin nach dem Blitz verschwunden war. Jetzt folgten sie ihm mit der Präzision von Jagdhunden.
Takjin lief, so schnell er konnte, doch er war verwirrt, erschöpft und verängstigt. In seinem Geist hallte noch das Echo des Spiegelmeisters wider, jener schwarzen Augen, die er in der unendlichen Leere erblickt hatte. Es musste eine glückliche Fügung gewesen sein, die seinen Blickkontakt mit dem unheimlichen Spiegel vorzeitig unterbrochen hatte – er war sicher, dass dieser seinen Geist gebrochen hätte, wenn er länger hineingesehen hätte.
Seine Beine fühlten sich schwer und unbeholfen an, stolperten auf dem Boden, der sich bewegte wie die Oberfläche eines aufgewühlten Meeres. Seine Augen waren mit Blindheit geschlagen, mit Scheuklappen, die seine Sicht begrenzten, bis er nur noch durch einen Tunnel nach vorn sehen konnte – und die Schwärze wuchs wie Schimmelpilze über seine Augen und wurde immer dunkler.
Schließlich stolperte Takjin, fiel und begrub den Stab unter sich. Da lag er nun im Laub. Er hörte die Verfolger näherkommen. Er hörte ihre Schritte und ihren leisen Atem, als sie immer näher und näher kamen.
Müde blinzelte Takjin und erblickte Dokarestmus' Stab, dessen Knauf direkt vor seinem Gesicht lag. Was für ein wunderschöner Stock! Er war lang und endete in einem eleganten Knauf, der wie eine Schnecke geringelt war. Direkt unterhalb dieses Knaufes setzte ein zweiter Wirbel in die andere Richtung an, wie ein kleiner Ast oder zweiter Kopf einer seltsamen Pflanze, der den größeren Wirbel stützte.
Takjin hatte geglaubt, dass der Stab aus lila Metall sei, doch aus der Nähe erkannte er eine Maserung, die an Holz erinnerte. Er sah auch, dass der Stab selbst, obwohl er purpurn schimmerte, türkis war, gesprenkelt mit winzigen Punkten wie Sternen, welche orange waren. Der ganze Stab und besonders der Knauf gaben ein unnatürliches, grünlich-purpurnes Licht ab.
Takjin studierte den Stab und streckte wie verzaubert die Hand danach aus. Er strich über das glatt polierte Holz und folgte mit dem Finger den Windungen der beiden Schnecken.
Die Verfolger waren nun in Sicht und eilten mit schnellen Sprüngen näher.
Takjin schloss die Faust um den Stab und fühlte unter der kalten Oberfläche eine Art warmes Pulsieren, ein Echo seines klopfenden Herzens. Er folgte einem Instinkt, der ihm von Außen eingegeben wurde, und stieß den Stab nach vorne.
Der Erdboden verschwand. Takjin befand sich wieder im orientierungslosen Sturz, dann spürte er einen Windzug und fiel auf weiches Laub.
Die Blindheit und Erschöpfung vergingen. Keuchend rappelte er sich auf. Erstaunte Rufe erklangen und Takjin entdeckte, dass er sich an einer anderen Stelle des Waldes befand. Er wandte sich um und sah die Verfolger, weiter weg nun, aber immer noch in Sichtweite.
Der General wies mit der Hand auf Takjin und brüllte: „Er hat den Enderstab! Fangt ihn!“
Doch neuer Mut hatte Takjin befallen. Der Junge sprang auf und wedelte mit dem Stab in der Luft.
Wieder flog er, doch mit jedem Mal war der Moment der Verwirrung kürzer.
Er überbrückte eine Strecke von vielen Metern, ohne einen Fuß zu bewegen. Die Verfolger brüllten vor Wut.
Takjin rannte los.
Endlich hatte er die Nachwirkungen der Spiegelmagie abgeschüttelt; oder es war nur das Aufflackern seiner Hoffnung, dank der er nun wieder schneller rannte, behände und flink wie eh und je. Der Stab in seiner Hand flößte ihm zusätzliche Kraft ein. Wann immer Takjin ein Hindernis vor sich sah, schlug er mit dem Stab danach und wurde hindurchteleportiert. Bei den ersten Malen stürzte er in den Schlamm, doch schließlich konnte er aus dem Lauf „springen“ und lief direkt weiter, ein wenig stolpernd vielleicht, wenn seine Füße auf neuen Boden trafen, doch ohne seine Geschwindigkeit zu verlieren.
Er lernte auch, wie er den Stab richten musste, denn die Teleportation geschah dann, wenn der Stab am weitesten gestreckt war und zwar in die Richtung, in die der Stock dann wies. Takjin konnte sich auf diese Weise über Hügel und auf kleine Vorsprünge retten; einmal landete er in einem Baum.
Doch die Wirkung des Stabs war auf Orte beschränkt, die Takjin sehen konnte, und seine Verfolger waren schnell. Sie hatten Reittiere aufgetrieben, die offenbar auf ihren Ruf hin gekommen waren – dunkle Wesen mit Flügeln, doch Takjin machte sich nicht die Mühe, stehen zu bleiben und genauer hinzusehen.
Er lief in Richtung der Berge, mehr oder weniger zufällig – denn die Kiste hatte an jener Stelle gestanden, wo er sich dem Dorf aus den Bergen kommend genähert hatte. Bald erkannte Takjin einzelne Baumformationen von seiner Wanderung wieder. Und schließlich, als die Jagd vielleicht einen halben Tag andauerte, erreichte Takjin den Ort, von dem aus er die Berge damals zum ersten Mal erblickt hatte.
Takjin blieb stehen und stützte sich keuchend auf die Knie. Ihm war schwindelig, was weniger an der unbarmherzigen Jagd als an den „Sprüngen“ lag, wie er die Teleportationen insgeheim nannte. Obwohl die Phasen in seiner Empfindung immer kürzer geworden waren, fühlte er doch immer noch die Orientierungslosigkeit während der Sprünge. Nun weitete sich dieses Gefühl aus, ein unbestimmtes Unbehagen. Takjin hob eine Hand vor sein Gesicht: Die Finger zuckten unkontrolliert, schwach, aber doch merklich.
Er wandte sich um und konnte die schwarz gekleideten Männer zwischen den Bäumen sehen, die schnell näher kamen. Ihre großen Reittiere, dunkle, geflügelte Wesen mit den Gesichtern von Raubkatzen, stürmten unbarmherzig voran.
Takjin drehte sich wieder zu den Bergen und umfasste den Stab mit beiden Händen. Er erinnerte sich an Dokarestmus' Botschaft aus dessen letzten Zeilen: Folge auf keinem Fall dem Fluss aus den Bergen.
Takjin suchte die schneegesprenkelten Felswände mit den Augen ab. Da, ein blaues Band, das sich über die Steine wand! Der Fluss musste irgendwo auf der Rückseite eines der Berge entspringen und hatte sich seinen Weg auf diese Seite der Welt gesucht.
Takjin schwang den Stab und richtete die Spitze auf den Fluss aus.
Er sprang. Einen Moment war alles dunkel, dann befand sich Takjin auf einem steilen Schotterhang. Sofort begann er zu rutschen, doch er hatte keinen Halt, während er fiel. Steine rissen ihm die Haut am Rücken auf. Er schrie und wedelte hilflos mit dem Stab, in die ungefähre Richtung des Wassers, das er aus dem Augenwinkel sah.
Im nächsten Moment umschloss ihn eisige Feuchtigkeit. Kalt schmiegten sich die Fluten an seinen Leib, tränken seine Kleidung und rissen ihn mit sich.
Takjin drehte sich, damit er auf dem Bauch im Strom lag, den Kopf nach oben gerichtet, und wieder nutzte er den Stab. Er landete in der Luft und rang keuchend nach Atem, aber er fiel, direkt auf eine Felsnadel zu.
Wieder schwang er den Stab. Er landete erneut im Himmel, doch diesmal sah er eine Plattform nicht weit entfernt.
Er schlug hart auf dem Boden des kleinen Plateaus auf und blieb liegen. Seine Kleidung war eisig kalt. Nur langsam konnte er wieder atmen und blinzelte in den hellen Himmel.
Dann setzte er sich auf. Als er das Wasser aus seinen Ohren schüttelte, hörte er plötzlich Schreie: Die Verfolger befanden sich nun über dem Wald, zwei große Tiere mit schwarzen Fledermausschwingen und aufgerichteten, gebogenen Skorpionsschwänzen kamen vom Wald aus auf Takjin zu.
Er sprang in die Höhe und schwankte. Er stand über der Quelle des Flusses, neben dem, wie Takjin nun sah, auch ein Pfad verlief, der auf das Plateau führte.
Takjin drehte sich auf dem Felsvorsprung um und erkannte hinter sich einen großen Ring aus schwarzem Stein, der in den Fels geschlagen war. Es sah fast aus wie eine große Türöffnung ohne Türen, eine Pforte oder ein Portal.
Der Weg endete hier. Takjin trat vor die Pforte und berührte den Rahmen mit seinem Stab.
Mit einem Mal erschien eine Art Flüssigkeit oder Vorhang im Rahmen: Was immer es war, es schoss nicht heraus, sondern blieb aufgerichtet wie eine Wand, bewegte sich wie dünner Stoff im Wind, ohne den Portalrahmen zu verlassen.
Wütende Schreie erklangen hinter Takjin, als er vorsichtig die Hand ausstreckte und die seltsame Flüssigkeit berührte.
Sofort kippte er nach vorne in das Portal hinein, wurde hineingezogen in eine bläuliche Schwärze mit purpurnen Schatten.
Hinter ihm verschwand die leuchtende Flüssigkeit und ließ nur den nutzlosen Rahmen stehen. Das Portal war wieder geschlossen.