Alles war dunkel.
Es gab nichts – keine Geräusche, keine Richtungen, nicht einmal einen Sturz.
Takjin glitt durch eine endlose Leere und wie auch zuvor spürte er, wie sein Körper gedehnt und gestaucht wurde.
Obwohl das Gefühl vertraut war, bekam er Panik. Sein Körper wurde in eine unmögliche Länge gezogen. Ein Arm wurde auf viele Kilometer gedehnt und dabei immer dünner … dünner … dünner, bis er mikroskopisch klein war, und immer noch dünner. Ein Bein wurde immer länger und aufgeblähter, verlor jede Farbe, wurde rund, der Oberschenkel eine Kugel, und eine Kugel das Schienbein darunter, durchsichtig und farblos, wie ein zum Platzen gespannter Ballon.
Das andere Bein wurde kurz, bis der Fuß direkt unter der Hüfte saß. Dann beulte sich plötzlich die Kniescheibe über dem Knöchel vor, drängte nach außen und wurde zu einem riesigen Fallschirm. Er wedelte hilflos mit den Armen in der Luft, der eine kilometerlang und dünn, der andere winzig klein, eine Erdnuss.
Doch keine Veränderung war von Dauer, schon im nächsten Moment sah alles ganz anders aus. Takjins Körper, seine Gliedmaßen und sein Rumpf, sein Gesicht und seine Hände und Füße wurden von unsichtbaren Mächten durchgeknetet. Er musste an die Köchin denken, wie sie ihren Teig bearbeitete, als ob sie Hass auf die unschuldige Mischung aus Mehl, Milch und Eiern empfand.
Wie auch bei den Sprüngen mithilfe des Stabs – der Stab, wo war der Stab? – fühlte Takjin keinen richtigen Schmerz, nur ein dumpfes Unwohlsein, ein Drücken in den Gelenken und Knochen, Muskeln und Sehnen, überall. Es gab keine stechenden Schmerzen, kein Brennen, kein Reißen, nur … dumpfes Pochen, leises Köcheln.
Dann … änderte sich etwas. Takjin nahm mit einem Mal wieder wahr, dass die Zeit verging. Allmählich kehrten die Ereignisse in eine Reihenfolge zurück. Er fiel weiter durch die Schwärze, blind oder mit geschlossenen Augen, ohne zu fühlen, ob er wirklich fiel und nicht vielmehr schwebte.
Aber er wusste, dass Zeit verging. Jahrhunderte oder Sekunden.
Dann hörte er etwas. Vielleicht war es nur die Illusion seiner gepeinigten Ohren, die ihm irgendetwas vorgaukelte, das letzten Endes aus ihm selbst stammen musste: Takjin hörte eine Stimme, die ihn aus der Ferne rief, wieder und wieder, nur seinen Namen: Takjin!
Es war weniger eine Stimme als etwas, das man nicht über die Ohren wahrnahm. Takjin erinnerte sich, dass er als Kind manchmal aus dem Halbschlaf aufgeschreckt war, weil er glaubte, dass ihn jemand rief – doch sobald er wach war, wusste er rückblickend, dass kein Ton erklungen war.
Trotzdem hatte er die Worte der Botschaft verstanden: Takjin.
Jetzt hörte es nicht auf, als er sich auf die Stimme konzentrierte. Sie wurde lauter, ein Echo, das nur im Nichts widerhallen konnte.
Takjin. Komm her. Komm hierhin.
Er konnte sich nicht bewegen, um der Aufforderung Folge zu leisten. Doch im nächsten Moment war die Stimme mit einem Mal lauter.
Takjin. Ich habe dich erwartet.
War das wirklich eine Täuschung?
War das wirklich ein anderes Lebewesen?
Takjin konnte keine Fragen stellen. Er war nicht nur unfähig, zu sprechen, er war stumm, seine Gedanken selbst schwiegen. Er hatte immer noch Panik, doch das war nurmehr ein Hintergrundrauschen und alles andere war fort – jeder Gedanke, jede Erinnerung, jedes Teil von Takjins Ich.
Er hörte zu und die Stimme sprach, klar und deutlich; nicht existent. In Wortfetzen, Satzfetzen, in einer vergessenen Sprache.
Eine Aufgabe, Takjin. Musst sie erfüllen. Sehr wichtig. Wir leben in Angst, in Angst, in Angst. Ich bin da. Ich bin hier. Mein Sohn. Eine Aufgabe. Eine Aufgabe, Takjin. Tod und Verzweiflung. Töte ihn, töte ihn! TÖTE IHN! Er ist böse. Er ist gut. Wundervoll. Du bist nicht allein. Ich bin hier. Zwei andere. Finde sie. Hilf ihnen. Töte ihn.
Hätte Takjin denken können, so hätte die Verwirrung ihn überwältigt. Inzwischen war er diesem … Ding … sehr nah, er hörte es nicht länger nur, er spürte die Emotionen hinter den Worten, er sah Bilder, die hinter seinen Augenlidern hindurch huschten. Gesichter. Orte. Wesen, die er nicht kannte. Fluten von Emotionen rollten über ihn hinweg, doch Takjin war nur noch ein stiller Teich, der die Wellen weitergab.
Eine schwere Aufgabe. Musst es schaffen. Hängt davon ab. Schicksal. Welt. Welten. Finde die anderen. Finde ihn.
Gesichter prasselten auf Takjin ein. Doch einige der Bilder stammten von ihm selbst. Gesichter und Namen von Menschen, die er kannte.
Die Stimme stoppte plötzlich.
General Pralikov. Fürchte ihn. Er ist nicht richtig. Nicht wahr. Der Spiegelmeister! Garabath und Dokarestmus. Dokarestmus. Du kennst Dokarestmus. Du kennst ihn. Vertraue ihm nicht.
Die Stimme wurde schwächer. Vertraue Dokarestmus nicht. Vertraue niemandem. Soregrat … Soregrat ist nicht sicher.
Takjin. Ich bin hier. Finde sie. Finde die anderen. Mein Sohn. Mein Sohn, ich bin hier. Hab keine Angst. Aber fürchte dich … fürchte dich vor dem Spiegelmeister.
Dann erstarb die Stimme und etwas anderes machte ihr Platz: Ein Rauschen, dröhnend und immer lauter werdend. Takjin spürte plötzlich etwas auf der Haut, er spürte Wind. Er spürte seinen Herzschlag und er fiel, stürzte in eine unbekannte Tiefe.
Die Schmerzen wichen von ihm. Sein Körper hörte auf, sich zu ändern und zu drehen, wurde wieder fest und wirklich.
Dann kam Licht, heller Sonnenschein über einer großen, weiten Fläche. War das eine letzte Sinnestäuschung oder bewegte sich die Fläche? Diese blaue Decke mit den hellen Streifen unter ihm?
Sie bewegte sich. Es war Wasser. Es war das Meer, ein Meer.
Takjin fiel und endlich gaben seine Lungen einem Schrei Raum, den er lange in sich getragen hatte, Jahrhunderte schien es. Er brüllte seinen Schmerz und seine Verwirrung hinaus, während der Wind immer lauter pfiff. Er ruderte mit den Armen, merkte, dass er immer noch nicht richtig fiel – das Portal klebte an ihm, kleckerte nur langsam aus ihm heraus und bremste seinen Fall. Doch der Wind wurde stärker. Takjin fühlte etwas an der Hand und griff danach, wollte sich daran festhalten, doch es fiel mit ihm: Der Stab. Der Stab von Dokarestmus, noch immer in seinen Händen. Widerstreitende Gefühle wallten in ihm auf, gesät von der Stimme im Nichts. Takjin verdankte Dokarestmus sein Leben, doch konnte er ihm vertrauen?
Er schrie laut, bis das kalte, schwarze Wasser seinen Schrei erstickte.