Die Infiltration war geglückt, trotz des Widerstands, auf den sie gestoßen waren. Doch Menakurr machte sich Sorgen um Aleé. Der Kampf hatte sie schwer mitgenommen, fast ebenso schwer wie Meik, der seine Schwester verloren hatte. Nun war der Anführer der Rebellen schweigsam und starrte düster in den Regen, der eingesetzt hatte und die ohnehin grauen Berge in verschwommene, konturlose Schatten verwandelte.
Die Rebellen schienen die einzig Lebendigen in einer Geisterstadt.
Menakurr und Grauchen hatten die Führung übernommen. Er kannte die Berge wie seine eigene Werkzeugtasche. Hin und wieder drehte er sich um und vergewisserte sich, dass die Menschen ihm folgten. Er führte sie zielsicher auf den Schleichwegen durch das Gebirge, über schmale Brücken und enge Pfade am Steilhang.
Schließlich erreichten sie ein kleines, grünes Tal inmitten der Berge, so winzig, dass es kaum genug Platz für die sechzehn Pferde, den Esel und das Maultier samt deren Reitern bot.
„Wir müssen leise sein“, warnte Menakurr und deutete auf eine der steilen Talwände. „Dahinter liegt Angerthás.“
„Eure Hauptstadt“, sagte Meik, der sich gefasst geben wollte, aber noch immer verstört aussah.
„Unsere Handelsstadt“, verbesserte Menakurr sanft. „Dk'mar ist unsere Hauptstadt – eher Haupt-Burg – und dort wird Artreis sein. Aber ich kenne einen Geheimgang in die Burg.“
Nun hatte er die Aufmerksamkeit der erschöpften Rebellenschar. Menakurr hob beschwichtigend die Hände. „Jetzt können wir ihn nicht nehmen, gleich geht die Sonne wieder auf. Ruhen wir uns den Tag über aus und ziehen morgen los.“
Die Rebellen befolgten seinen Vorschlag überaus gerne. Menakurr behagte es nicht, dass er Artreis länger warten lassen musste, doch er würde den Schutz der Dunkelheit brauchen. Dann müsste er sich mit Aleé zum Haus eines Bekannten schleichen – dem Hauptmann der königlichen Wache. Barkas Haus besaß einen geheimen Tunnel, der im Thronsaal auskam, direkt unter dem Thron des Zwergenkönigs Ellyd von den Silberherzen. Zum Glück für alle Beteiligten, am meisten jedoch für Artreis, war Barka ein ziemlicher Angeber und hatte nicht widerstehen können, Menakurr alles über den Geheimgang zu verraten, der es dem König erlauben sollte, bei Gefahr zu fliehen.
Menakurr öffnete die Taschen, die Aleé ihm nach der Gefangenschaft zurückgegeben hatte, und überprüfte deren Inhalt. Viel von seinen alchemistischen Zutaten war verloren gegangen, doch das, was übrig blieb, würde wohl reichen.
Zeit, ein paar Vorbereitungen zu treffen. Er winkte Meik und Aleé zu sich, um sie im Flüsterton in seinen Plan einzuweihen.
Gegen Abend hörte der Regen endlich auf. Menakurr verließ die Rebellen alleine und führte nur Grauchen mit sich. Lieber hätte er den Esel irgendwo in Sicherheit zurückgelassen, doch bald würde es vielleicht keinen sicheren Ort mehr in den Bergen geben. So hatte er schweren Herzens beschlossen, den tapferen Esel mit auf die gefahrvolle Mission zu nehmen. Grauchen tappelte leise hinter Menakurr her, als er die kleine Siedlung betrat.
Angerthás war, aufgrund ihrer Lage, eine weit gestreckte Stadt. Es gab unzählige Türme und kleinere Siedlungen, überall im Land verstreut. Von einer Stadt konnte man erst sprechen, wenn man die tagsüber viel benutzen Wege mit zur Stadtfläche zählte, ansonsten hätte man Angerthás wohl eher als besiedelten Landstrich bezeichnet.
Das kleine Dörfchen in dem etwas größeren, ebenfalls von dünnem Gras bedeckten Tal war eine ebensolche, abgekapselte Siedlung, bestehend aus elf niedrigen Hütten aus dunklem Holz, die sich an die Talwände drängten. Manche Hütten hatten einen mageren Garten mit Rüben oder eine kleine Weide mit einem Schwein oder einer Handvoll Kaninchen darauf. Das war das, was in K'chtarr als Wohlstand galt.
Menakurr und Grauchen hielten zielsicher auf das einzige doppelstöckige Gebäude zu. Ein befestigter Steinweg führte vor die Hütte, neben dem Weg stand die rote Standarte der Silberherzen in den Boden gerammt. Menakurr spähte durch die Fenster, aber wie er gehofft hatte, war von Barka keine Spur zu entdecken. Der Hauptmann der Wache war wohl in Dk'mar und beschützte den König, während die Armee aufgestellt wurde.
Die Tür war verschlossen, doch Menakurr hatte eine winzige Tinktur einer ätzenden Säure angerührt, die er auf das Schloss träufelte. Nicht unbedingt die eleganteste Lösung, doch ihm war keine Zeit für mehr Eleganz geblieben. Die Tür schwang knarrend auf und er tauchte in die Dunkelheit dahinter ein. Der Eingang zum Geheimgang war schnell gefunden, denn er bestand aus einer metallbeschlagenen, schweren Holztür mit einem einfachen Riegel davor. Die Tür sah nach Sicherheit aus, deswegen war Menakurr erstaunt, als sich der Riegel ohne Probleme anheben ließ und die Tür sich lautlos öffnete.
Dahinter erwartete ihn ein unbehauener, selbst für einen Zwerg niedriger Gang, von dessen Decke es feucht herabtropfte. Grauchen scheute zurück, die Eselshufe klopften auf die Holzdielen von Barkas Haus.
„Shh, shh, alles gut, mein Junge“, flüsterte Menakurr dem Esel zu und strich ihm über den Hals. „Alles gut. Komm, Grauchen, komm!“
Der Esel folgte ihm zögerlich in den düsteren Gang hinein. Die Tür fiel hinter ihnen zu.
Schnurgerade führte der Geheimweg unter den Bergen hindurch. Zwischendurch passierte Menakurr einen Aufgang, der zu dem Signalfeuerturm auf der höchsten Spitze des Berges führte. Selbst für einen Zwerg war diese Erinnerung an die Gesteinsmasse über seinem Kopf beunruhigend.
Menakurr ließ Grauchen im Tunnel zurück, als er schließlich dessen Ende erreichte. Es bestand das Risiko, dass man ihn schnappte und der Esel daraufhin im Tunnel verhungerte. Voller Sorge ließ Menakurr seinem Reittier also einen prall gefüllten Sack Hafer da und kletterte die Leiter hinauf, die unter den roten Teppich des Thronsaals vom Dk'mar führte. Menakurr kletterte in den stillen, verlassenen Thronsaal und das Herz schlug ihm bis zum Hals. Wenn man ihn entdeckte, wäre alles aus!
Draußen auf dem Innenhof der Burg herrschte Lärm und leider musste Menakurr auf den Säulengang hinaus. Vor der Tür straffte er sich ein letztes Mal und atmete tief durch, dann stieß er die Tür auf und tat, als gehöre er hierhin. Er lief durch den offenen Säulengang, auf der einen Seite den tiefen, mit Lava gefüllten Burggraben, auf der anderen die waffenrasselnden Soldaten, die für den Kampf trainierten, und ihre Anführer, die lauthals etwas über Beleidigungen vonseiten der Menschen schrien, um den Kampfgeist ihrer Kämpfer aufrechtzuerhalten.
Zum Glück kannte Menakurr sich in der Burg aus. Er erreichte den gedrungenen Eckturm ohne Probleme. Er huschte hinein und stieg eine steinerne Treppe hinauf, um festzustellen, dass der Kerker beinahe verlassen war. Es gab nur einen einzigen Insassen, einen mageren Menschen, das Gesicht hinter einem verfilzten Haarvorhang verborgen, der in einer Ecke saß.
Menakurr trat an das Gitter heran. „Artreis.“
Der Mensch hob den Kopf, doch sein Blick wirkte gebrochen. Er schien Menakurr nicht zu erkennen.
„Ich bin es, Menakurr. Ich bin gekommen, um dich zu retten.“
„Menakurr …“, sagte Artreis leise. „Du warst in Gefahr.“
Die Schuldgefühle überfluteten Menakurr. Eilig zog er die Säure aus der Tasche und tropfte sie auf das Gitter. Ihnen blieb vielleicht keine Zeit – später würde er alles erklären können.
„Es war ein Trick“, sagte er deshalb nur. „Sie haben mich dazu gezwungen. Es tut mir so leid!“
Die Tür schwang mit einem unheilvollen und vor allem lauten Quietschen auf. Menakurr erstarrte. Die Stimmen, die von unten herauf drangen, schienen lauter geworden zu sein.
Er streckte eine Hand aus. „Artreis, komm!“
Doch der Junge rührte sich nicht. Er saß auf dem Boden, der einst prächtige Mantel hing traurig und fadenscheinig über seine Schultern, die langen Haare verbargen das Gesicht.
„Artreis!“ Menakurr hätte am liebsten geschrien, doch er zischte nur. Ungeduldig trat er vor, griff den Arm des Jungen und zerrte daran.
„Lass mich los!“, kreischte Artreis, trat Menakurr vor das Knie und riss sich los.
„Artreis …“, stotterte Menakurr. Er hörte Stimmen, Rufe, Schreie – Schritte auf der Treppe.
„Artreis, komm!“
„Nein!“, fuhr ihn der Junge an und stieß Menakurr aus der Zelle. „Verschwinde, auf der Stelle!“
Menakurr zögerte, da sah er das Licht einer Fackel, das die Wand herauf sprang – jemand kam, dem Klang nach viele Leute. Menakurr warf einen letzten Blick zu Artreis, dann sah er sich gehetzt um. Es gab kein Versteck, es gab nur – die glaslosen Fensteröffnungen, in denen der rote Widerschein der Lava schimmerte. Menakurr sprang auf den breiten Sims und sah nach unten. Ein Stockwerk tiefer war der Lavagraben, doch es gab einen schmalen Grasrand, kaum einen halben Schritt breit, auf dem er vielleicht landen könnte.
Menakurr warf einen letzten Blick zurück, doch Artreis beachtete ihn nicht und die alarmierten Wachen waren fast da – die roten Federn ihrer Helme ragten bereits über den Boden und sie kamen höher.
Menakurr sprang.