Takjin hatte niemals schwimmen gelernt.
Birkengrund lag zwar in der Nähe eines großen Sees, doch dieser war flach genug, dass man ihn durchwaten konnte. Von dem Meer hatte er nur in Geschichten gehört, seine Welt bestand aus Wäldern.
Jetzt paddelte er hilflos im kalten Wasser und spuckte salzige Flüssigkeit aus. Das Einzige, was ihm einen Rest Halt gab, war der Stab von Dokarestmus, denn dieser war leichter als das Wasser und hatte etwas Auftrieb. Takjin konnte sich daran klammern wie an einen Ast. Er konnte den Kopf über Wasser halten, doch die Wellen warfen ihn hin und her, stürzten ihn in düstere Täler und drückten ihn unter Wasser. Seine Kleidung sog sich voll und wurde immer schwerer.
Wieder und wieder lief ihm Wasser über das Gesicht und in den Mund. Er konnte die Augen nicht mehr öffnen, weil das Salz in ihnen brannte. Die Kälte kroch in seine Glieder, seine Bewegungen wurden träge.
Er verlor das Gefühl in seinen Fingern und sein Griff um den Stab drohte, sich zu lösen.
Takjin biss die Zähne aufeinander. Er war nicht so weit gekommen, nur um nun zu ertrinken! Mit einer großen Willensanstrengung klammerte er sich an den Stab und konnte sich in die Höhe ziehen. Er warf den Ellbogen über den Stock und klemmte sich den Stab so unter die Achsel.
Dann hing er auf dem Floß wie eine nasse Katze, die sich auf einen Zweig gerettet hatte. Er konnte sich nicht rühren. Er zitterte vor Kälte in einem eisigen Wind und der Stab, der sich wie die See auf und ab bewegte, drohte, Takjin abzuwerfen.
Er wusste, dass ihm die Zeit davonlief. Keuchend – fast schluchzend – zwang er seine brennenden Augen, sich zu öffnen. Er suchte den Horizont ab, eine Linie, scheinbar in greifbarer Nähe.
Takjin suchte eine Insel, einen festen Punkt, wo er Rettung finden konnte, doch nichts dergleichen war zu sehen. Es gab nur einen blassen, weißen Schimmer, wo das Meer in den Himmel überging, beide blau und mit Fetzen von Weiß gesprenkelt. Im Himmel stand als gleißendes Licht die Sonne.
Es gab kein Festland. Keine Insel, auch kein Schiff, nichts, wohin Takjin paddeln könnte. Die Hoffnungslosigkeit schwappte über ihn wie eine besonders große und schwarze Welle. Der Stab in seinen Händen drehte sich unvermittelt und Takjin rutschte ab, tauchte unter die Wellen. Er zog sich hoch, prustete und spuckte und versuchte, wieder auf den Stock zu klettern.
Seine Arme zitterten. Seine Muskeln wollten ihm nicht mehr gehorchen und so ließ er es bleiben und hielt sich nur noch fest, während er auf dem kalten Wasser lag und spürte, dass er langsam, ganz langsam, nach unten gezogen wurde.
Er sah in den Himmel und in seinem Kopf herrschte eine Leere, die diesmal nicht von dem Portal herrührte sondern von der Erschöpfung. Das Meer wiegte ihn hin und her, ab und zu spülte Wasser über sein Gesicht. Takjin blinzelte in den Himmel und … träumte?
Er sah einen Schatten wie eine dunkle Wolke durch das Blau pflügen. Vielleicht war es auch ein kleines Himmelsschiffchen.
Der Schatten flog über ihn hinweg.
Dann drehte er plötzlich ab und begann, über Takjin zu kreisen.
Der Junge lächelte. Dieser Traum erschien ihm seltsam friedlich. Doch der Schatten kam näher und wurde größer. Es war kein Schiff. Die Kreise wurden immer enger und enger und Takjins Herzschlag beschleunigte sich wieder.
Das gefiel ihm nicht. Plötzlich hatte er das Gefühl, dass die Welt immer hektischer wurde, je näher dieser Schatten kam. Es war ein großes, dunkles Wesen mit Fledermausschwingen.
Takjins Herz raste jetzt. Sie hatten ihn gefunden! Er paddelte hilflos, doch er konnte nichts mehr tun. Sein Körper war am Ende, Takjin hatte jede Grenze überschritten.
Der Schatten stieß herab, als er Takjins Bewegung bemerkte. Die Wellen wurden von einem starken Windsturm aufgewirbelt. Wasser spritzte um Takjin herauf und in seine Augen, er schloss sie.
Es war vorbei. Seine Flucht war gescheitert.
Jede Kraft verließ seine Finger und er ließ sich sinken in die Schwärze der See, in ihre kalte Umarmung. Wasser lief über sein Gesicht, in seinen Mund und seine Nase. Es war friedlich. Er konnte nichts mehr hören.
Dann wurde sein Handgelenk gepackt und er nach oben gezerrt. Als er die Oberfläche durchbrach, hustete und spuckte er, seine Lungen verlangten nach Luft. Takjin keuchte und spürte kaum, wie kräftige Arme seinen Oberkörper packten. Er trieb im Wasser, jemand hielt ihn an der Oberfläche. Dieser Jemand war hart und stachelig.
Er hörte undeutlich eine Stimme und dann spürte er eine unvorstellbare Hitze im Nacken – heiß nach den Minuten im Eiswasser. Etwas packte seine Rüstung am Kragen und hob ihn so mühelos in die Höhe, als ob er bloß ein nasses Hemd sei. Dann schob sich etwas Dunkles unter ihn, im nächsten Moment wurde er fallengelassen und landete auf Erdboden, der hart und rau war, wie von unzähligen kleinen Steinchen.
Etwas schob ihn zur Seite und er öffnete leicht die Augen. Seine Sicht war verschwommen, doch er erkannte, dass der Erdboden dunkelblau war wie das Meer. Es war ein gebogener Hügel, und jetzt setzte sich jemand vor ihn. Takjin konnte ein Bein in einer schwarzen Rüstung sehen und darunter einen Fuß in Orange, und darunter das Meer. Zwei große Dinge bewegten sich zu seinen Seiten. Wind kam auf und ein großer Donner.
Takjins Augen fielen wieder zu, aber noch konnte er nicht ohnmächtig werden. Sein Körper, obwohl erschöpft, kämpfte noch um jeden Moment. Takjin konnte nur daran denken, dass er irgendwie entkommen musste, was es auch kostete. Er lag auf einem Hügel, der auf und ab hüpfte. Nicht gebunden, nicht besonders sicher – er könnte sich einfach in die Tiefe gleiten lassen.
Ein letztes Mal zwang er sich, nach vorne zu sehen. Er achtete auf das Bein, auf die Richtung, in die das Knie wies. Der Reiter kehrte ihm den Rücken zu.
Takjin streckte vorsichtig die Beine und hob dann die Füße an, die unendlich schwer waren. Er begann, zu rutschen, zuerst noch langsam, dann mit einem Mal schnell. Er fiel an etwas wie einem großen Segel vorbei, ein Flügel.
Dann war er in der Luft und das Meer, das schon weit unter ihm lag, kam wieder näher. Der Wind rauschte.
Takjin schloss die Augen und hoffte, dass er noch vor dem Aufprall ohnmächtig werden würde. Er hatte furchtbare Angst davor, was die Verfolger ihm antun würden, wenn er wider Erwarten überleben würde, um von ihnen befragt zu werden.
Er hörte Donnern. Flügelschlag, der näher kam. Dann verspürte er wieder Hitze und wieder packte etwas sein Hemd im Nacken.
Behutsam wurde sein Sturz ausgebremst. Takjin merkte, wie er mehr und mehr in seinem Hemd zu Hängen kam, der Kragen drückte unangenehm gegen seinen Hals und der Stoff spannte unter seinen Achseln.
Er war wieder gefangen. Sein Kopf fiel nach vorne, das Kinn auf die Brust, und erschöpft schloss er die Augen. Er atmete tief aus und ergab sich – es hatte keinen Zweck, er war nicht mehr fähig, zu fliehen.
Dunkle Schwingen trugen ihn vorwärts, das Meer entschwand in der Tiefe. Sein Geiselnehmer ließ Takjin nicht mehr los.
Schließlich fiel der Junge in eine tiefe, kalte Schwärze.