Das Meer wiegte ihn immer noch, auf und ab, vor und zurück, im Rhythmus seines Herzschlags.
Doch etwas war anders.
Takjin war warm, er fühlte sich ruhig. Langsam bewegte er sich. Schmerzen schossen durch seine Beine und seinen Oberkörper. Er stöhnte und kniff die Augen zusammen. Kleine Lichtblitze erschienen auf seiner Netzhaut. Sein Kopf pochte und er merkte, dass er überhaupt nicht mehr im Meer war. Das Wogen stammte nur von seinem eigenen Schwindelgefühl.
Er tastete um sich und fühlte Stoff unter den Fingern. Weichen Stoff.
Langsam versuchte er, die Augen zu öffnen. Ein dunkler Raum entfaltete sich verschwommen vor seinem Blick. Er lag in einem richtigen Bett. An den Wänden waren Bilder und Regale voller Bücher. Ein Schreibtisch stand vor dem einzigen Fenster, durch dessen schmutzige Scheibe ein wenig blasses Licht sickerte.
Takjin bemerkte drei Gestalten, die auf ihn herabsahen, und fuhr zusammen. Die Bewegung sandte nur noch mehr Schmerzen durch seinen Körper, außerdem spürte er deutlich, dass seine Knöchel mit grobem Seil an das Bett gefesselt waren. Hastig setzte er sich auf und begann, nach einer Waffe zu tasten, während er die drei Personen eingeschüchtert ansah.
Es war ein Bild. Nur ein Gemälde von drei Menschen. Zwei Männer und eine Frau.
Takjin sah sich im Raum um, doch der war leer. Er war allein. Müde ließ er sich zurück in das Kissen sinken und betrachtete das Bild etwas genauer, das ihn faszinierte. Die Frau saß in einem blauen Gewand auf einem Stuhl. Sie hatte lange, schwarze Haare und die Augen geschlossen, sie sah krank und müde aus, fast tödlich blass.
Neben ihr stand ein hochgewachsener Mann mit langen, weißen Haaren und einem schmalen, langen Bart, beides mit roten Strähnen durchsetzt. Er trug lange Gewänder in weiß und braun und hatte die Hände vorne zusammengelegt. Seine Augen waren strahlend hell und schienen Takjin zu fixieren.
Im Hintergrund stand ein zweiter Mann mit kurzen, schwarzen Haaren und einem roten Backenbart, in einer dunklen Uniform mit roten, weißen und goldenen Akzenten. Er hielt die Hände hinter dem Rücken und strahlte militärische Steifheit aus.
Takjin war fasziniert. Diese Drei wirkten so unterschiedlich – die Todkranke, der Weise und der Kriegsherr, wie er sie im Stillen benannte. Und doch gab es eine Gemeinsamkeit zwischen ihnen, auf die er den Finger nicht legen konnte. Der Zeichner dieses Bildes musste etwas eingefangen haben, eine ganz besondere Aura von Kennen und Wissen. Man konnte förmlich sehen, dass die drei enge Bekannte waren, doch für eine Freundschaft war ihre Beziehung zu kompliziert. Takjin erwartete halb, dass sich einer der drei bewegen und den anderen einen Blick zuwerfen würden, derartig lebendig wirkten die Gesichtszüge und Augen.
Etwas sprach aus dem Bild, doch war es nicht unbedingt eine fröhliche Botschaft.
Er hörte Schritte auf Holz und fuhr zusammen, konnte einen neuerlichen Schmerzlaut nicht unterdrücken. Er hatte vergessen, in welcher Gefahr er sich befand. Er war entführt und vermutlich dem Tode nah.
Schon wurde die schmale Tür, die in die Kammer führte, aufgerissen. Jemand kam herein, Takjin erkannte gegen das Licht, das im Rücken der Person stand, nur die stachelige Rüstung.
„Du bist also wach?“, fragte eine dumpfe Stimme.
Takjin ballte hilflos die Hände zu Fäusten. Seine Schwert und auch der Stab waren fort. Ein Band kettete seinen Knöchel an den hinteren Bettpfosten.
„Was wollt Ihr von mir?“, fragte er wütend. „Ich sage Euch gar nichts!“
„Du wirst mir sagen, wer du bist und was du hier willst. Wie hast du diesen Ort gefunden?“ Die Gestalt kam mit schweren Schritten näher. „Wer hat dich geschickt?“
Takjin stutzte einen Moment. Diese Männer wussten doch, wer er war! „Ihr habt Dara getötet!“, sagte er jetzt. „Ihr seid Mörder!“
„Warte …“ Jetzt wirkte die Gestalt verwirrt und griff nach dem unförmigen Helm, den sie trug. „Ich habe überhaupt niemanden getötet, du kleiner Spion!“
Die Gestalt nahm den Helm ab und Takjin erkannte ihre Stimme, die nun nicht mehr gedämpft wurde, als die einer Frau. Ihm blieb der Mund offen stehen, während die Fremde nun vollends in den Raum trat und sich so stellte, dass Takjin sie besser sehen konnte.
Es war eine Frau. Sie hatte dunkle Haut wie polierte Bronze und trug eine aufwendige Rüstung. Der Helm war dunkelblau, der Brustpanzer orangerot, die Hose schwarz und die hohen Stiefel orange. Doch die Rüstungsteile war aus dem gleichen glatten, zu Dornen und Auswüchsen aufgerichteten, organisch Material. Chitin.
Die Frau selbst hatte dunkle Augen von der Farbe des Meeres und trug die schwarzen Haare zu einem hohen Zopf. Die Form des Zopfes erinnerte Takjin an den Giftstachel eines Skorpions.
Er stützte sich vorsichtig auf die Ellbogen auf und sah die Fremde an.
„Wer … bist du?“, fragte er schließlich.
„Offensichtlich nicht, wer du dachtest, dass ich sei“, sagte die Frau etwas besänftigt. Sie zögerte, dann erklärte sie: „Mein Name ist Junea. Ich habe dich aus dem Meer gezogen.“
Takjin starrte sie immer noch an, denn ihm fielen die Narben und alten Kratzspuren auf, die ihre bloßen Arme und auch das Gesicht überzogen – vom Rest ihres Körpers war nichts zu sehen. Die Frau sah aus, als ob sie gerade von einem Schlachtfeld käme. Sie war muskulös und ihre ganze Haltung sprach von Wachsamkeit und Furchtlosigkeit.
„Gehörst du … zu ihnen?“, fragte Takjin. „Zu den Männern in der grauen Kleidung, den sieben Jägern?“
„Du kennst sie?“, fragte Junea und ihre dichten Brauen rückten etwas näher zusammen. „Haben sie dich hergeschickt?“
„Ich … ich bin vor ihnen geflohen“, stammelte Takjin. Er wusste nicht, wie Junea reagieren würde. Sie wirkte misstrauisch - aber auf wessen Seite stand sie?
Juneas Blick wurde kalt und ihre Stimme hart. „Wie hast du diesen Ort gefunden?“, fragte sie erneut. „Und wag es nicht, zu lügen.“
Takjins Herz raste. Wo war er hier nur hinein geraten? Seine Erwähnung der grauen Jäger hatte Junea wütend gemacht, aber war es, weil sie sie hasste oder weil sie ihnen diente?
Er schluckte. Wäre es klug, Dokarestmus zu erwähnen?
„Ich … es war Zufall …“
Junea schlug zu, schneller, als Takjin sehen konnte und bevor er überhaupt bemerkte, dass in ihrer Hand der Stab war, mit dessen Hilfe er hergelangt war. „Lüge!“, brüllte sie. „Niemand findet uns durch Zufall! Woher hast du diesen Stab? Wer hat dir den Weg verraten? Haben sie dich geschickt? Bist du einer ihrer Spione? Antworte!“
Takjin war zusammengezuckt. Der Knauf des Stabs hatte das Bett dicht neben seinem Ellbogen getroffen. Er zweifelte nicht daran, dass Junea nächstes Mal auf eins seiner Körperteile zielen würde.
„Ich … Dokarestmus schickte mir den Stab“, gestand Takjin stammelnd. „Er … er sagte … ich … er sagte, ich solle nicht dem Fluss folgen. Er hat mir gesagt, wo ich hin soll. Ich … ich dachte …“
Er sprach nicht weiter. Junea war von seinem Bett zurückgewichen und starrte ihn an wie einen Geist.
„Du … du bist Takjin?!“, entfuhr es ihr dann.
Takjin keuchte noch immer. Dann nahm er allen Mut zusammen und nickte.
Junea ließ den Stab sinken. Sie wirkte erschüttert. „Ich dachte, du wärst … naja, größer.“
„Größer?“, fragte Takjin. „Du kennst mich? Wer bist du?“
„Ich bin Junea“, wiederholte sie. „Ich bin … wie soll ich das sagen? Ich bin eine Freundin von Dokarestmus.“
Takjin atmete langsam aus. Das verringerte die Chance, dass sie ihn töten würde.
„Tut mir leid“, sagte Junea dann. „Du bist zu einem ziemlich finsteren Zeitpunkt gekommen. Ich dachte, du wärst ein Diener unseres Gegners.“
„Wovon redest du?“, fragt Takjin. „Und wo ist Dokarestmus?“
„Alles zu seiner Zeit“, sagte Junea. „Ich muss erst einmal selbst über alles nachdenken. Und du, du musst dich schonen. Du bist noch nicht wieder gesund. Ruh dich erst einmal aus, danach erzähle ich dir alles.“
Sie trat neben ihn und schnitt die Fessel um seinen Knöchel durch. Dann schenkte sie ihm ein schwaches Lächeln. „Bleib vorerst in diesem Raum. Ich denke ohnehin nicht, dass du weit gehen könntest. Ich komme heute Abend wieder, dann reden wir. Für's erste: Willkommen auf Soregrat!“