Tausend Fragen schwirrten Takjin durch den Kopf, nachdem Junea gegangen war. Ihr düsteres Gesicht, als sie von Dokarestmus sprach, machte ihm Sorgen, und natürlich wollte er endlich mehr über die Insel Soregrat erfahren. Doch ganz so, als hätte Junea es vorausgesehen, wurde er bald vom Schlaf übermannt, noch immer erschöpft von seiner Flucht. Er hätte sich, stellte er im Nachhinein fest, auch nicht auf irgendwas konzentrieren können, das Junea ihm erzählte.
Als er wieder aufwachte, war es Abend geworden. Takjin setzte sich auf. Er hatte Schmerzen, doch ein anderes Gefühl überwog jetzt: Hunger.
Er stand vorsichtig auf. Muskelkater und diverse Schrammen und Schnitte machten jede Bewegung zur Qual, doch er schien nicht ernstlich verletzt zu sein. Takjin konnte aufstehen und den kleinen Raum durchqueren. Auf dem Schreibtisch fand er zwischen unzähligen unordentlichen Papierrollen auch einen frischen Laib Brot und etwas Käse auf einem Holzbrettchen, nebst einem Becher mit einer Art süßem Tee oder Met. Sowohl das Getränk als auch das Brot waren noch warm, also vermutete Takjin, dass er im Schlaf unbewusst mitbekommen hatte, wie man ihm beides brachte, und kurz darauf wach geworden war.
Er aß gierig und trank. Danach fühlte er sich bereits wieder mehr wie ein lebendiger Mensch. Er öffnete die schmale Holztür und verließ den Raum, um sich in einem kleinen, aber wohnlichen Holzflur wiederzufinden. Es brannte keine Lampe, aber Licht fiel durch ein kleines Fenster über der Tür – er war der goldene Schein einer Abenddämmerung.
Takjin öffnete diese Tür – es gab noch eine dritte, die in einen weiteren Raum führen musste – und trat ins Freie.
Das Haus war L-förmig. Takjin war an der kurzen Seite herausgetreten und stand nun neben der längeren Wand. Die beiden Hauswände rahmten ein Quadrat gepflegten Rasens ein, eine kleine Grünfläche auf einem langen Sandstreifen, der zu beiden Seiten an Wasser angrenzte. Rechter Hand befand sich das Meer mit seinem beruhigenden Rauschen, linker Hand dagegen ein kleiner, runder Teich, der erstaunlich tief zu sein schien. Der Sandstreifen war Teil einer größeren Landmasse, die schmalste Linie zwischen Meer und Teich, die jedoch nicht miteinander verbunden zu sein schienen.
Hinter dem See ragten Berge auf, zerklüftete, majestätische Berge aus grauem Fels, an deren Seite unzählige Brücken und Treppen zu einem verwirrenden Labyrinth von Wegen führten. Takjin sah die Kronen einiger ferner Bäume, die oben auf dem Berg wuchsen, auch um den See standen einige der Pflanzen, die ihm fremd vorkamen. Es waren keine Birken, denn sie waren höher und dunkler und ihre Kronen glichen Wolken, schmal und langgezogen. Tatsächlich musste Takjin daran denken, wie gut diese Bäume an heißen Tagen Schatten spenden würden.
„Takjin!“, rief eine Stimme und er fuhr herum. Unbemerkt von ihm hatte Junea auf einer kleinen Bank im Garten gesessen, den Blick dem roten Sonnenuntergang über dem Meer zugewandt. Jetzt erhob sie sich. „Du bist wach! Wie geht es dir?“
„Besser“, sagte Takjin. „Das Essen war sehr lecker. Ich verdanke dir viel!“
„Danke mir nicht zu früh“, sagte Junea düster. „Ich werde dir nun viele Fragen stellen müssen. Nie zuvor hat ein Fremder Soregrat gefunden. Du musst mir genau erzählen, wie du hierher gekommen bist!“
„Natürlich.“
Junea setzte sich wieder auf die Bank und bedeutete ihm mit einer Geste, neben ihr Platz zu nehmen.
„Entschuldige das Misstrauen“, sagte sie, „aber zuerst musst du mir beweisen, dass du wirklich Dokarestmus' Freund Takjin bist.“
„Wie … wie soll ich das machen?“, fragte Takjin überrascht – er hatte gehofft, dass jedes Misstrauen zwischen ihnen beseitigt war.
Junea zuckte mit den Schultern. „Am besten ist es vielleicht, wenn du mir deine Geschichte erzählst. Wie hast du ihn kennengelernt? Und was weißt du über ihn, was nur einer seiner Freunde wissen könnte?“
Takjin schwieg zuerst. Ihm war plötzlich wieder bewusst geworden, dass er so gut wie nichts über Dokarestmus wusste. Junea beobachtete ihn und schwieg. Für den Fall, dass er doch bloß ein Hochstapler war, wollte sie ihm wohl keine Anhaltspunkte bieten, sich eine Lügengeschichte auszudenken.
„Na ja, es begann damit, dass Soldaten in mein Heimatdorf kamen“, begann Takjin schließlich zögerlich. Dann erzählte er Junea alles in knappen Worten: Von seiner Kindheit als Waise, von seiner Flucht und wie er vollkommen verzweifelt in eine Höhle gestolpert war. Von der Nachricht in der Kiste und seiner anfänglichen Verwirrung über die Natur der Truhe. Wie er Dokarestmus zur Flucht verholfen hatte, ohne wirklich zu wissen, was er tat; und schließlich von Dokarestmus' Einladung nach Soregrat und dem langen Schweigen, von der Botschaft mit der verschleierten Wegbeschreibung und dann von der Jagd.
Takjins Stimme zitterte bei jenem letzten Teil, doch auch so merkte er, dass er heiser war. Vielleicht, weil er seine Stimme so lange nicht benutzt hatte, ließ sie ihn nun manchmal im Stich, ohne dass er eine Kontrolle darüber hätte.
Junea hörte schweigend zu und ließ mit keiner Regung erkennen, was sie dachte. Dann fragte sie: „Dokarestmus. Was ist er für ein Mensch?“
„Ich … er ist schwer zu fassen“, berichtete Takjin ehrlich. „Ich weiß kaum etwas von ihm. Ich habe ihn mir immer als alten Mann vorgestellt … er schreibt wie jemand, der viel Trauer gesehen hat. Aber ich wusste nie wirklich, ob ich ihm überhaupt vertraue.“
Er sah Junea vorsichtig von der Seite an. Genügte ihr das? Er war sich damit nicht besonders sicher.
Doch die Frau starrte unverwandt aufs Meer, in ihrem scharf geschnittenen Gesicht lag die Härte einer schlimmen Vergangenheit.
Schließlich stand sie mit einem Seufzen auf. „Es ist kalt geworden. Lass uns drinnen weiter reden.“
Tatsächlich war die Sonne bereits untergegangen. Grillen zirpten im Gras und ein kalter Wind wehte vom Meer her.
Im Haus führte Junea Takjin durch die Tür, die er bisher noch nicht durchschritten hatte. Dahinter lag ein kleines Wohnzimmer – allerdings immer noch ein ganzes Stück größer als das Zimmer, in dem Takjin erwacht war – mit einem Ofen in der Ecke, einer niedrigen Holzbank und einem Tischchen. Auf dem Boden lag ein dunkelblauer Teppich. Eine steile Leiter führte in ein Zimmer, das über ihnen im Dach liegen musste.
Junea entfachte das Feuer im Ofen, dann stellte sie sich Takjin gegenüber, der auf der Holzbank hockte und nervös seine Hände gegeneinander rieb.
„Du hast Recht“, sagte Junea schließlich. „Was Dokarestmus angeht. Er ist schwer zu fassen – trotzdem wurde er vor etwa einem halben Jahr gefangen; und es sah schlimm aus für unsere Insel. Der Spiegelmeister hat ihn gefoltert, um zu erfahren, wo Soregrat liegt.“
„Der Spiegelmeister?“, fragte Takjin – der Name kam ihm vertraut vor –, doch er erhielt keine Antwort.
„Vor einigen Tagen kam Dokarestmus zurück“, fuhr Junea fort. „Das könnte zu dem passen, was du erzählt hast. Du kennst die schwarzen Jäger bereits; sie kamen unserer Insel gefährlich nah. Dokarestmus zog los, um sie abzuwehren, er kämpfte mehrere Tage lang. Mich ließ er erneut allein. Er kehrte nicht zurück. Nun bist du gekommen und das heißt … er kommt nicht wieder.“
„Du … glaubst mir?“, fragte Takjin vorsichtig. „Und Dokarestmus … ist er tot?“
Junea nickte und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatte.
„Dokarestmus hatte ein kleines Haus weiter draußen im Meer, auf einer Sandbank. Ich war mit Wellenstürmer dort, doch das Haus wurde vernichtet und Dokarestmus' Truhe darin zerstört. Ich glaube nun, dass er sie selbst zerstörte, nachdem er seinen wertvollsten Besitz und eine Botschaft an dich verschickte.“
Takjin sah auf. Junea fixierte ihn mit ihrem Blick.
„Du hast gesagt, in der Truhe waren zwei Stäbe und ein Buch – wo sind die anderen Dinge jetzt?“
„Ich … sie waren in der Kiste.“ Takjin versuchte, sich jenen verwirrenden Moment wieder ins Gedächtnis zu rufen. „Ich habe den einen Stab benutzt. Den sie den Enderstab nennen. Und … die Kiste wurde zerstört.“
Junea stieß einen leisen Fluch aus. „Das hatte ich gefürchtet.“
„Das Buch und der andere Stab sind verloren?“, fragte Takjin. „Es tut mir leid, ich wusste nicht ...“
„Nein, nicht verloren“, unterbrach Junea ihn. „Die Gegenstände existieren noch, an einem Ort, den wir beide nicht begreifen können. Über die magischen Kisten kann man darauf zugreifen und es gibt noch andere Truhen – doch ich weiß nicht, wo diese Kisten sind. Verdammt! Wir müssen sie finden, sobald wir können, denn sie dürfen dem Spiegelmeister nicht in die Hände fallen!“
„Wer ist er?“, fragte Takjin ungehalten. „Warum sind die Stäbe so wichtig?“
Junea sah ihn an und wirkte, als habe sie bis gerade völlig vergessen, dass Takjin noch da war.
Dann atmete sie tief durch. „Alles zu seiner Zeit, Takjin. Das ist eine wirklich lange Geschichte. Und ich kenne selbst nur einen kleinen Teil davon. Dokarestmus war schon immer voller Geheimnisse und mir hat er nicht viel mehr anvertraut als dir. Ich werde dir alles sagen, was ich weiß, doch heute bin ich müde. Seit Dokarestmus fort ist, bin ich allein für diesen Teil der Insel verantwortlich. Such dir eine Frage aus, diese werde ich dir beantworten. Danach muss ich schlafen und du solltest es auch tun – wir werden morgen früh aufstehen und viel Arbeit haben.“
„Wir?“
Junea lächelte grimmig: „Es ist klar, dass du Dokarestmus' Nachfolger sein sollst. Du wirst mir mit der Arbeit hier helfen!“