„Nun?“, fragte Junea. „Du hast eine Frage, Takjin.“
Er überlegte nicht, sondern fragte das Erste, was ihm in den Sinn kam: „Der Spiegelmeister. Ich habe den Namen schon einmal gehört, zweimal sogar. Wer oder was ist er?“
Junea seufzte und setzte sich zu ihm auf die kleine Holzbank in dem dunklen Wohnzimmer, das nur von dem Flackern des kleinen Ofens erhellt wurde.
„Das ist etwas, das man wohl besser im hellen Sonnenschein bespricht, aber ich habe dir mein Wort gegeben. Du hast mir heute bereits eine lange Geschichte erzählt, ich schulde dir wohl diese Antwort. Also gut, Takjin.“ Sie streifte den roten Brustpanzer ab, unter dem sie nur ein kurzärmeliges, dunkelblaues Hemd trug. „Hier ist die Geschichte von Soregrats Verderben.“
Statt sofort zu beginnen, lehnte sie sich zurück und platzierte die gepanzerten Stiefel auf dem Tischchen. „Zuerst einmal musst du wissen, dass du dich in einer neuen Welt befindest. Der Stab, den du benutzt hast – der Enderstab – hat für dich ein Weltenportal geöffnet. Diese Portale sind selten, es gibt nur vier von ihrer Art. Vier natürliche Portale in vier verschiedene Welten.“
„Und vier Truhen“, murmelte Takjin leise, als ihm etwas einfiel, was Dokarestmus geschrieben hatte.
Junea nickte. „In jeder Welt hat Dokarestmus eine Truhe platziert, die fünfte war hier vor der Küste von Soregrat. Es gibt also fünf Welten, und in Soregrat laufen alle Portale zusammen. Es gibt keine Möglichkeit, zwischen den anderen vier Welten zu wechseln – nicht, soweit ich weiß – ohne zuvor nach Soregrat zu gelangen.“
Junea machte eine Pause und sah Takjin prüfend an.
„Es ist verwirrend“, gestand der Junge, der ihren Blick richtig deutete. „Meine Heimat war also nur eine von fünf Welten?“
Junea nickte. „Die meisten Menschen wissen nichts davon. Die Portale sind geheim und können nur durch komplizierte Magie geöffnet werden. Beispielsweise durch den Enderstab. Doch es gab auch Menschen, die ohne Portale zwischen den Welten wechseln können, sie haben die Portale erst geschaffen oder gelernt, deren Macht zu nutzen; sie bezeichnen sich selbst als Weltenreisende. So, wie ich es verstanden habe, hat Dokarestmus diese Fähigkeit entdeckt. Außer ihm gab es noch zwei andere. Eine ist tot und der andere … ist der Spiegelmeister.“
Takjin riss die Augen auf. „Ein Weltenreisender?“
Junea nickte. „Der Spiegelmeister war einmal ein Freund oder Schüler von Dokarestmus. Sie müssen sich gekannt haben, aber Dokarestmus sprach nie darüber. Was er mir sagte, ist, dass der Spiegelmeister aus Soregrat verbannt wurde – aus dieser Welt – und dass er niemals zurückkehren darf.“
„Warum nicht?“, fragte Takjin sofort.
„Es gab hier ein Unglück. Seitdem ist das Gleichgewicht hier sehr empfindlich. Bald wirst du sehen, was ich damit meine, also belassen wir es für den Moment dabei, dass der Spiegelmeister auf keinen Fall herkommen darf.
Es gibt noch etwas anderes zu berichten, und das ist eine sehr … komplizierte Sache. Denn siehst du, die Welten sind nicht komplett … symmetrisch. Du könntest glauben, dass Soregrat so eine Art Mittelpunkt in einem Kreuz ist, und jede Seite des Kreuzes in eine der vier anderen Welten, doch es ist anders. Von den vier anderen Welten gibt es eine übergeordnete Welt, eine Art Königswelt. Sie heißt Celes Hedian. Deine Welt und die beiden anderen sind dagegen bloße Schatten dieser größeren Welt.
In dieser anderen Welt existieren auch noch weitere … ich weiß nicht, wie ich es sagen soll ... Nebenwelten. Es sind keine eigenständigen Orte, denn was immer dort geschieht, wirkt sich auf die Königswelt aus, aber nicht auf die anderen Welten. Es sind drei Nebenwelten, vielleicht auch mehr, aber von dreien weiß man: Der Nether, die Wyverninsel und die Enderinsel. Einst konnte man durch spezielle Portale in diese Welten geraten, doch die Welten wurden mit Celes Hedian versiegelt.“
Junea hielt inne. Takjin fühlte sich schwindelig von den vielen Namen, die auf ihn einprasselten.
„Ich weiß, dass es sehr viel ist“, sagte Junea verständig. „Falls du müde bist, können wir morgen weiter sprechen.“
„Ich bin nicht müde, ich habe ja viel geschlafen“, antwortete Takjin. „Aber ich bin verwirrt.“
„Dann ist es wohl besser, zuerst die Verwirrung zu vertreiben.“ Junea lachte plötzlich glockenhell und es war, als wäre sie mit einem Mal eine andere Person. „Gut, Takjin. Dann stell dir jetzt bitte eine Pyramide vor. Unten, an ihrem Boden, befinden sich drei sehr große Bausteine. Das sind die niederen Welten: Deine Heimat und noch zwei andere Welten, die deiner Heimat zum Verwechseln ähnlich sind. Alle drei sind riesig, scheinbar endlos. In jeder dieser Welt gibt es ein Weltenportal, das nach Soregrat führt – Soregrat liegt in der zweiten Ebene und es ist winzig. Zu den Seiten von Soregrat, in einem Kreis, liegen drei weitere Welten, die ebenfalls kleiner sind als die niederen Welten. Das sind der Nether, die Enderinsel und die Wyverninsel. Diese vier Welten der zweiten Ebene sind sehr klein. Sie sind begrenzt, die Ender- und die Wyverninsel kann man innerhalb von einer halben Stunde durchqueren – außerhalb liegt schwarzes Nichts. Der Nether ist ein furchtbarer Ort – stell dir eine Höhle angefüllt mit kochender Lava und den unheimlichsten, blutrünstigsten Monstern vor, und du kommst der Wahrheit nicht einmal nahe.
Es gibt Wege, die von den niederen Welten in den Nether und zur Wyverninsel führen. Um in den Nether zu gelangen, muss man ein Portal bauen, das den Weltenportalen ähnlich ist. Die Wyverninsel dagegen konnte man mithilfe eines Stabes erreichen: Der Wyvernstab, der nun für uns verloren ist. Und es gab einmal Wege zur Enderinsel, doch diese sind vor langer Zeit zerstört worden. Das waren die unnatürlichen oder gebauten Portale. All diese Magie ist jedoch zerstört worden.
Zurück zu unserer Pyramide. Wir hatten die unterste und die zweite Ebene. Die oberste Ebene – die erste Ebene – ist nur von einer einzigen Welt ausgefüllt: Celes Hedian.
Celes Hedian ist groß, riesig. Die Welten der zweiten und dritten Ebene sind, so glauben wir, bloße Abbilder dieser Welt. Oder vielleicht sind es die Elemente, aus denen sie besteht. Wie Licht, das sich in einen Regenbogen aufteilen lässt, sind Soregrat, der Nether und die beiden Inseln die Farben, aus denen sich Celes Hedian ergibt.
Doch alle Wege in diese Welt wurden zerstört, von der gleichen Macht, die auch die Enderinsel abgespalten, die Wyverninsel versiegelt und Soregrat dem Untergang geweiht hat.“
Junea machte eine Pause und vergewisserte sich, dass Takjin ihr noch folgen konnte.
„Der Spiegelmeister“, sagte sie dann. „Als offenbar wurde, dass er böse ist, hat Dokarestmus ihm den Zutritt zu den Welten verweigert. Der Spiegelmeister wollte sich gewaltsam Zutritt verschaffen, dabei hat er die Welten zerrüttet. Nun ist Soregrat der einzige Weg, um vielleicht nach Celes Hedian zu kommen – wenn sich das Portal wieder öffnet. Der Spiegelmeister will unbedingt dorthin, denn er muss auf die Enderinsel und dort will er eine Macht herausfordern, die der Enderdrache ist.
Der Spiegelmeister will den Enderdrachen töten. Was dann passiert, kann niemand sagen. Dokarestmus sagte, dass es das Ende der Welt sein könnte, und ich glaube ihm.“
Stille kehrte ein. Draußen zirpten immer noch die Grillen.
„Warum … will der Spiegelmeister das tun?“
„Ich weiß es nicht. Und falls Dokarestmus es wusste, so ist dieses Wissen mit ihm verschwunden. Vermutlich ist er gestorben, um seine Geheimnisse zu bewahren – um Soregrat und damit Celes Hedian zu schützen.“
Takjin berührte seine Stirn. Ihm pochte der Kopf und es fühlte sich an, als könnte unmöglich mehr Wissen hineinpassen.
Junea stand auf und streckte sich. Sie hob ihren Brustpanzer und den Helm auf und klemmte sich beides unter die Arme. „Es ist spät. Und ich denke, du hast vieles, über das du nachdenken musst. Morgen werde ich weitere deiner Fragen klären können: Was Soregrat genau ist und was wir hier tun. Wie der Schaden aussieht, den der Spiegelmeister bereits angerichtet hat. Für heute, denke ich, ist es genug. Du wirst viele düstere Gedanken für die Nacht haben, fürchte ich. Verzeih mir, Takjin. Ich hätte dir deine Frage auch abschlagen können, doch ich entschied mich, es nicht zu tun. Nun weißt du vielleicht, wie groß die Gefahr ist, in der wir alle schweben, und wie tragisch der Verlust des Wyvernstabs und des Buches – denn in dem Buch bewahrte Dokarestmus sein Wissen auf und es hätte uns beiden viel helfen können.“
Junea atmete tief durch und lächelte dann müde. „Ich rede zu viel. Du wirst erschöpft sein. Schlaf ein wenig, denn morgen beginnt ein harter Tag.“
„Gute Nacht“, murmelte Takjin, als Junea ging.
„Gute Nacht, Takjin“, sagte sie zärtlich, bevor sie die Tür hinter sich schloss. Takjin stand auf und schleppte sich in das Bett, in dem er an diesem Tag auch aufgewacht war.
Sein Blick fiel im Halbdunkel wieder auf das große Gemälde mit den beiden Männern und der bleichen Frau. Ein Schauer lief ihm über den Rücken.
In was für eine verwirrende Geschichte er hier nur geraten war! Es kam ihm alles wie ein großer, entsetzlicher Traum vor.