„Wo bleibt er?“ Aleé wurde ungeduldig. Ruhelos tigerte sie auf dem Felsgrad auf und ab und spähte nach unten, wo sich hinter einem kurzen Stück karger Wiesen die Burg erhob. Die Nacht zog herauf, die Burgmauern wurden von der Lava mit rotem Glühen bestrahlt.
Die ganzen Weg zwischen der Bergkette hinter der Burg und ihrem Standort war eine einzige flache, leicht zu überblickende Ebene.
Kein Menakurr zu sehen, dabei hatten sie das Signal vor Stunden gesendet und dann sogar noch einmal wiederholt, für den Fall, dass Menakurr die erste Rakete nicht bemerkt hatte. Doch damit hatten sie nur riskiert, dass man herkam, um den Ursprung der grünen Explosionen zu ermitteln. Meik hatte den Einsatz weiterer Signale verboten.
Der Mond kroch schweigend über den dunkelblauen Himmel. Aleé wanderte auf und ab und suchte nach einer Spur, irgendwas, ein Zeichen, dass Menakurr zu ihr zurückkehrte.
„Aleé.“ Meiks Stimme klang endgültig. Aleé wollte sich nicht umdrehen, doch nachdem Meik zu ihr getreten war und eine Hand auf das Schulterstück des goldenen Brustpanzers gelegt hatte, blieb ihr keine andere Wahl. Sie sah ihn an.
„Es ist etwas schief gelaufen“, sprach Meik aus, was sie sowieso wusste, aber nicht wahrhaben wollte. „Wir sollten hier weg.“
„Ich lasse ihn nicht im Stich!“, schnappte Aleé und schlug Meiks Hand weg.
„Das sage ich überhaupt nicht.“ Jetzt hatte Meiks Stimme einen angespannten, aggressiven Unterton. „Aber wir nützen niemandem, wenn wir hier entdeckt werden. Wir müssen zurück in das Tal, einen Plan schmieden …“
Aleé stieß dem Menschen die Hände vor die Brust, dass Meik zurückstolperte. „Wir haben keine Zeit für Pläne!“ Ihr wurde bewusst, dass Tränen ihre Stimme zu ersticken drohten. „Wir müssen jetzt etwas tun, jetzt!“
Einen Moment sah sie den verdutzten Rebellen an, dann stieß sie einen frustrierten, wortlosen Schrei aus und stürmte zu dem Pony Aurora.
Ehe einer der Menschen reagieren konnte, hatte Aleé sich in den Sattel geschwungen und gab dem Pony die Fersen.
Aurora schnaubte erschrocken und ging sofort zum Galopp über. Die goldene Rüstung klapperte laut bei jedem Sprung und Aleé beugte sich tief in die weiße Mähne. „Schneller, Aurora! Schneller!“
„Aleé!“, rief ihr Meik hinterher, doch keiner der Menschen folgte ihr.
Auroras Hufe wirbelten eine Staubwolke auf, als Aleé die Ebene überquerte. In Sichtweite der Burg wurde das Pony schließlich langsamer und fiel in einen erschöpften Trott. Der Nachtwind kühlte Aleés Temperament und sie dachte darüber nach, was sie hier tat.
Die Ebene war leicht zu überblicken, auch von der Burg aus. Die Zwerge würden sie sehen!
Also lenke sie Aurora in den Schatten der Berge und näherte sich der Burg von der Seite her. Ob das wirklich etwas nützte, wusste sie nicht. Ihr Herz trommelte immer noch wie wild gegen ihre Rippen. Sie musste Menakurr und Artreis finden! Was konnte nur schiefgelaufen sein?
Schließlich lag der Graben vor ihr, aus dem Hitze und Licht aufstieg. Aleé kletterte von Auroras Rücken und ließ sich in das stoppelige Gras fallen. Sie hielt die Zügel in der Hand und näherte sich vorsichtig der Grube.
„Aleé!“, rief jemand leise.
Sie hob ruckartig den Kopf und starrte nach oben. Dort, in einer schmalen Mauerritze, bewegte sich etwas – eine Hand! Im Dunkel dahinter blitzte ein Auge auf.
„Menakurr? Bist du das?“
„Ja“, antwortete seine Stimme. Vor Erleichterung wurde Aleé warum ums Herz. Er lebte noch!
„Was ist passiert? Wieso bist du nicht gekommen?“
Seine Stimme nahm einen harten, sarkastischen Unterton an. „Ich sitze hier im Kerker, weißt du?“
Aleé schlug die Hände vor den Mund. „Oh, nein! Sie haben dich gefangen! Und Artreis? Ist er bei dir?“
Das Auge verschwand für einen Moment und wich einem Aufblitzen von Menakurrs rotblonden Haaren. Aleé konnte nur raten, dass er einen Blick in den Raum hinter sich warf. Die Fensteröffnungen, die nicht von der Lava beleuchtet wurden, gähnten wie pechschwarze Höhlen.
Dann war wieder ein kleiner Ausschnitt von Menakurrs Gesicht zu sehen. „Er reagiert auf nichts. Als ich ihn befreien wollte, hat er geschrien und die Wachen alarmiert.“
Aleé wollte es nicht glauben. Warum sollte Artreis das tun?
Menakurr sprach hastig weiter: „Hör zu, Aleé, sie werden Staubwind töten, falls Artreis fliehen würde. Du musst das Pferd befreien. Und ... und such nach Grauchen, bitte! Wir waren oben auf dem Berg, als Barka uns gefangen hat und ich weiß nicht ... weiß nicht, wo Grauchen ist!“
Die Stimme des Zwergs zitterte und brach. Aleé nickte. „Ich hole dich da raus, euch alle! Versprochen!“
„Du musst gehen!“, zischte Menakurr. „Sie dürfen dich nicht finden!“
„Befreie Staubwind!“, rief eine zweite Stimme, deren Klang Aleé schon fast vergessen hatte.
„Artreis!“
„Rette Staubwind, bitte. Sie werden ihn töten!“, flehte Artreis.
„Weißt du, wo er ist?“
„Im Hof“, antwortete Artreis' gedämpfte Stimme. „Er ist im Innenhof.“
„Geh jetzt“, drängte Menakurr. „Solange es Nacht ist, hast du vielleicht eine Chance!“
Aleé nickte und packte Auroras Zügel fester, von plötzlichem Tatendrang erfüllt. In Artreis' Stimme schwang eine Hingabe zu seinem Pferd mit, die man einfach bewundern musste. Sie musste sie befreien – Staubwind, Grauchen, Menakurr und Artreis, sie alle vier. Ihr kam es so vor, als würde sonst immer ein Teil von ihr fehlen.
Eilig stieg sie in Auroras Sattel und trieb das Pony zum Galopp. In ihrem Kopf herrschte kein Platz für einen Plan. Sie zückte die Axt und das Pony rannte am Burggraben entlang, hin zu der riesigen Zugbrücke, über der die Burgmauer war, drei Stockwerke hoch, jedes Stockwerk mit zahlreichen Schießscharten ausgestattet.
Aurora galoppierte donnernd über das Holz. Mehrere Wachen drehten sich erschrocken um und schrien. In Aleés Ohren rauschte das Blut. Sie sah ein paar Soldaten, die an einem Feuer saßen und tranken. Einer von ihnen sprang entsetzt auf und deutete kreischend auf sie. „Der Phönix!“
Aleé stürmte an ihnen vorbei. An der Seite des Innenhofs war ein kleiner Holzverschlag, auf dem abgezäunten Weidenstück davor standen zwei Tiere: Ein Esel und ein rotbraunes, weißgeschecktes Pony.
Staubwind wieherte und stieg auf die Hinterbeine, als er Aleé sah. Heftig riss das Pony an einem Strick, der es im Stall festband. Der Hals war dort, wo der Strick anlag, wund gescheuert. Es bestand kein Zweifel, dass Staubwind schon seit Wochen so im Stall stand und an seinen Fesseln zerrte.
Aurora lief zum Zaun und Aleé schwang die Axt. Das Blatt schnitt krachend durch das Holz, Splitter flogen in alle Richtungen davon. Grauchen stieß einen Schrei aus und lief an ihr vorbei, dann über den Hof, auf die Zugbrücke zu. Von dort erklang ein grausiges Quietschen, als die riesigen Kettenglieder in Bewegung gesetzt wurden. Aleé hieb ein zweites Mal zu, diesmal auf das zum Zerreißen gespannte Seil um Staubwinds Hals. Das Pony stolperte, als der Zug verschwand, dann preschte es los, direkt hinter Grauchen her. Aleé wendete Aurora. Das Adrenalin rauschte durch ihre Adern und sie stieß einen lauten, schrillen Schrei aus. Mehrere Soldaten flohen zu den Seiten des Hofes, andere rannten zur Brücke, um sie hochzuziehen und die Fliehenden einzusperren.
Keiner erhob die Waffe gegen die goldene Reiterin.
Staubwind überholte Grauchen und donnerte als erster über das Holz. Der Esel folgte mit seinen kürzeren Beinen und rutschte auf der Schräge, als sich die Zugbrücke anhob. Doch er lief weiter und geriet hinter dem Brückenende außer Sicht.
Aurora folgte, die Hufe klopften auf das Holz, das sich gefährlich nach oben zu neigen begann. Das Pony schnaubte, rannte weiter, rutschte und hielt schlingernd das Gleichgewicht. Aleé packte den Sattelknauf, als das Pony sich abstieß und durch die Luft hinter der angehobenen Zugbrücke segelte. Der Boden lag tief unter ihnen, kam schnell näher. Dann trafen die Hufe auf, Erde spritzte empor, Aleé knallte heftig in den Sattel. Sie ächzte, doch Aurora blieb auf den Beinen und rannte weiter, die Ohren eng angelegt.
Aleé pfiff. „Grauchen! Staubwind!“
Der Esel kam sofort zu ihr, doch Staubwind hörte sie scheinbar nicht. Das Pony lief zur Seite der Burg, dorthin, wo die Kerker waren. Er wieherte laut und schrill. Es klang sehnsüchtig.
„Staubwind!“, rief Aleé wieder und hielt Aurora zurück, während Grauchen in Richtung Berge davonschoss. „Staubwind, komm!“
Das rote Pony sah zu ihr zurück, drehte sich halb steigend im Kreis, sah zum Kerker und wieder zu Aleé.
„Wir können nichts tun. Wir müssen fliehen!“, rief sie dem Pony zu. „Wir befreien ihn später.“
Staubwind schien zu verstehen. Zögerlich trottete er zur Seite, warf einen langen Blick zurück, dann kam er auf Aleé zu, schnell und schneller. Sie trieb Aurora zum Galopp und beugte sich weit vor. Vereinzelte Pfeile zischten durch die Luft, doch sie war schnell außer Reichweite. In der Burg herrschte Chaos und Entsetzen. Staubwind und Grauchen waren befreit.
Blieben noch zwei, aber noch während Aleé zu den Rebellen zurückkehrte und sich an die Reaktionen auf ihr Erscheinen erinnerte, reifte in ihr ein Plan.