Auch am nächsten Morgen fand Takjin frisches Brot auf dem Tisch seiner Kammer. Daneben stand diesmal ein Becher mit Wasser, das einen herben, erdigen Geschmack hatte, sowie eine Flasche, die mit dem Wasser angefüllt war. Takjin trat an den Tisch und betrachtete diesmal die darauf verstreuten Pergamente. Sie waren mit vielen Zeilen handschriftlichen Textes ausgefüllt – zu seinem Erstaunen erkannte Takjin Dokarestmus' Schrift wieder. Er beugte sich neugierig über die Blätter, doch er brachte nicht die Geduld auf, viel zu lesen. Die Sätze waren verworren, angefüllt mit vielen langen, fremden Wörtern. Takjin sah sich in der kleinen Kammer um. War dies … Dokarestmus' Zimmer?
Er trank den Becher leer und aß das Brot, dann nahm er die Flasche zur Hand, die sich praktischerweise mit einer Schlaufe an seinem Gürtel befestigen ließ, und trat nach draußen.
Junea erwartete ihn bereits. Sie saß am Wasser, die Wellen des Meeres umspülten ihre Knie und zwei große Eimer, die neben ihr standen. Mit beiden Händen schaufelte sie etwas Silbernes aus den Eimern und in die Fluten, die für den Seegang ungewöhnlich aufgewühlt waren.
Takjin lief zu ihr und erkannte erstens, dass die Eimer mit Fischen angefüllt waren, und zweitens, dass das flache Ufer von großen Tieren wimmelte. Es mussten große Fische sein, länger als ein Mann hoch war. Takjin zögerte, ehe er ins Wasser trat und sich Junea näherte.
„Was … ist das?“, fragte er mit zitternder Stimme.
Junea drehte sich um. „Ah, du bist wach! Das? Das sind Delfine, du brauchst dich nicht zu fürchten. Nichts auf Soregrat will dir Leid zufügen, selbst Haie und andere Raubtiere nicht. Delfine sind jedoch auch außerhalb nicht gefährlich, solange du sie nicht provozierst.“
Ermutigt kam Takjin näher und ließ sich sogar dazu bringen, einen hellen, weißen Delfin zu streicheln. Die meisten Delfine waren grau oder bläulich, doch es gab auch weiße, schwarze und einen rosafarbenen.
„Das ist Daphne“, sagte Junea, als sie beobachtete, wie Takjin den weißen Delfin vorsichtig streichelte. Das Tier fühlte sich glatt und nass an und stupste mit der Schnauze verspielt gegen Takjins Arm. „Ein alberner Name; sie war das erste Tier, das ich selbst benennen durfte.“
Junea lächelte einen Moment traurig, dann stand sie auf und kippte beide Eimer über, die fast leer gewesen waren. Mit den leeren Eimern und Takjin kehrte sie auf den Sandstreifen zurück.
„Gib mir deine Kleidung“, sagte Junea dann.
„Was?!“, entfuhr es Takjin.
Junea warf ihm einen spöttischen Blick zu. „Ich werde sie waschen, und ich rate dir, das gleiche in dem See dort zu tun. Man riecht dich zweihundert Blöcke gegen den Wind!“
„Oh.“ Takjin blickte an seiner Kleidung herunter, die schlammverschmiert war, trotz seines Bads im Meer kürzlich. Also händigte er Junea alles aus und hüpfte peinlich berührt in den klaren Teich auf der anderen Seite des Sandstreifens, während Junea entschlossen in die entgegengesetzte Richtung starrte.
Nach dem Bad fühlte Takjin sich wie neugeboren. Seine Kleidung, im Salzwasser gebadet und dann mit Sand trockengescheuert, war jetzt etwas kratzig und schmiegte sich nicht länger schweißverklebt an ihn. Seine Haare waren vom Wind zerzaust, aber endlich einmal von Blättern und Schmutz gereinigt. Fröhlich folgte er Junea, die ihn über eine in die Bergwand geschlagene Treppe nach oben führte.
„Soregrat“, erzählte sie dabei, „ist ein Zufluchtsort. Wir haben hier Vertreter vieler Tierarten; doch die Insel ist klein und die Tiere brauchen viel Platz, deswegen haben wir oft nur zwei Pärchen, manchmal auch nur eines.“ Sie hielt einen Moment inne. „Wenn ich wir sage, dann spreche ich von Dokarestmus, mir und noch zwei anderen. Sie sind ebenfalls Pfleger, aber sie wohnen etwas weiter entfernt, jenseits des Gebirges. Olar ist im Süden, wo viele schroffe Klippen sind. Er kümmert sich hauptsächlich um Rochen und Haie, aber auch um Elefanten und Ziegen. Mosa dagegen wohnt im Norden, sie hat wirklich alle Hände voll zu tun: Pferde, Schlangen, Riesenskorpione, die Brutstätten ...“
Takjin fuhr zusammen, denn von oben – dort, wo die Straße endete, der sie folgten – ertönte ein wildes Brüllen.
Junea blieb stehen und grinste. „Ich habe die Raubkatzen, Bären und die Wyvern.“
„R-raubkatzen?“, stotterte Takjin.
„Wie ich bereits sagte, du brauchst dich nicht zu fürchten. Die Kreaturen von Soregrat sind gezähmt. Sie werden dir kein Leid zufügen, vielmehr werden sie dir helfen. Sie lassen dich auf ihren Rücken reiten oder sie warnen dich vor Gefahr. Komm jetzt!“
Junea sprang die steile Treppe hinauf, die sich hier von dem Felsengrund löste und nun nur an einer Steilwand klebend über einen Einschnitt in den Bergen führte. Takjin eilte Junea atemlos hinterher und bemühte sich, nicht in die Tiefe zu sehen. Am Ende der Treppe erreichte er ein Tor aus Sandstein, hinter dem ein kleiner Platz lag. Der Boden bestand ebenfalls aus Sandstein. Es gab einige senkrechte Holzpfähle, die an der Wand befestigt waren und ansonsten nur ein großes Holzgatter, hinter dem Takjin große Katzen durch hohes Gras laufen sah.
Junea öffnete das Gatter ein Stück und schlüpfte hindurch. Takjin folgte ihr zögernder.
Vor ihm tollten unzählige Tiere über ein eingezäuntes Plateau. Große Katzen, die Takjin allerhöchstens aus Geschichten kannte. Junea führte ihn durch das Gehege, warf diesem oder jenem Tier einen Brocken Fleisch zu und sagte Takjin nicht nur, was für Kreaturen es waren, sondern auch ihre Namen. Da gab es Löwen und Tiger und Leoparden – doch auch Kreuzungen zweier Rassen, schwarze Panter, weiße Tiger und weiße Löwen. Die meisten Tiere besetzten das weitläufige Gehege, wo hier und dort ein kleinerer Bereich abgeriegelt worden war; hier konnten die Jungen ungestört aufwachsen. Es gab auch eine Art Ruine, ein großer Bau aus Sandstein mit einem Glasdach, dessen eine Seite aufklaffte, als hätte ein Riese darauf eingeprügelt – Junea sagte, dass das Gebäude absichtlich so angelegt worden war. Ab und zu wich der Außenzaun der Anlage einer großen Glasfront, durch die Takjin schwindelerregende Abgründe sehen konnte.
Junea führte ihn auch zu einem Stall aus Sandstein, wo weitere Tiere untergebracht waren: Ebenfalls Großkatzen, doch diese besaßen Schwingen oder waren durchsichtig wie Glas. Es waren magische Wesen, erklärte Junea dem staunenden Takjin, und dass sie zwar nicht wisse, wie, aber Dokarestmus sie geschaffen oder gefunden hatte.
„Wenn du das Gehege ganz durchquerst, kannst du durch ein Tor gehen und kommst in den Bereich von Olar. Vielleicht kannst du von hier aus schon die Elefanten sehen … hmm, ich glaube nicht. Du solltest sie aber irgendwann einmal sehen, sie sind majestätisch!“
Takjin stand nicht der Sinn danach, eine Wanderung durch das Gehege zu unternehmen. Zwar rührten die Großkatzen ihn nicht an, wie Junea versprochen hatte, doch die großen Raubtiere überall waren ihm unheimlich.
So verließ er dankbar das Gehege mit Junea und wanderte die lange Treppe hinab. Sie kamen wieder zu der kleinen Hütte und dem Teich und Junea zeigte ihm die Fische und Quallen, die er bei seinem Bad nicht bemerkt hatte (sonst wäre er niemals ins Wasser gegangen). Auch diese Tiere waren harmlos und hatten jedes seinen eigenen Namen.
Bald wanderten sie über den Sandstreifen weiter und Takjin, bereits erschöpft von der Arbeit, war froh über die Flasche mit Wasser.
Wo der Sandstreifen endete, mündete ein Fluss ins Meer, jenseits davon erhob sich ein Leuchtturm auf einer vorgelagerten Sandbank. Es gab auch einen kleinen Hafen in einer Ausbuchtung des Flusses, der dann durch eine hohe Schlucht zwischen zwei Bergen floss. Der eine Berg gehörte zu dem Gebirge, in dessen Schatten der kleine Teich und an dessen Flanke das Raubkatzengehege lag, der andere Berg schien für sich allein zu stehen. Die Schlucht über dem Fluss war von unzähligen Brücken und Stegen in unterschiedlichster Höhe überspannt, teilweise befanden sich sogar Ställe und Gebäude auf den Stegen oder schmiegten sich an die Felswände.
„Und jetzt?“, fragte Takjin, als Junea auf eine breite Treppe zuhielt, die sie hinauf in dieses hohe Labyrinth bringen sollte.
„Jetzt wirst du Drachen sehen, Takjin, obwohl wir dafür hoch klettern müssen.“ Sie lächelte. „Es wird Zeit, dass du Wellenstürmer dankst, denn ohne ihn würdest du jetzt noch draußen im Meer treiben!“