Merin führte die kleine Gruppe tief in Großvaters Bart hinein. Sie mussten ihr Tempo verringern, denn inzwischen war die Nacht hereingebrochen. Der Regen verschlechterte die Sicht und Capricorn bremste die Gruppe zusätzlich aus.
Schließlich wurden auch die Schmerzen spürbar, die Abschürfungen und Stauchungen von dem Sturz die Klippe herab. Merin schlug den Weg zu einer kleinen, verborgenen Höhle ein. Die Bärenhöhle, so hatten er und Chirogan diesen Ort früher genannt. Es war eine kleiner, hohler Hügel vor einem hübschen Teich, doch für einen Bären war das Versteck zu offen. Die vier Tiere und zwei Menschen drängten sich in den Unterstand, der ihnen so gerade eben Platz bot, wenn auch die Hinterhand der Pferde noch im Regen stand.
„Denkst du, sie folgen uns?“, fragte Peki leise.
Merin nickte. „Aber ich weiß nicht, ob sie uns hier finden werden. Der Regen verwischt alle Spuren und sollte auch unseren Geruch überdecken.“
„Geruch? Haben sie Hunde?“
„Nein, ich denke … ich denke, sie können selbst wie Hunde riechen.“
Merin fasste sich an die Stirn, als ihm mit einem Mal bewusst wurde, was für ein gefährliches und absurdes Abenteuer er hinter sich hatte.
Peki stellte keine Fragen, stattdessen öffnete sie die Satteltaschen von Capricorn.
„Hey, sieh mal: Warum haben sie hier Sättel rein gepackt?“
Merin beugte sich vor. Tatsächlich, auf dem Rücken des Esels, in den groben Taschen, befanden sich die Sättel von Sturmtänzerin und Wildfang.
„Vielleicht wollten sie die Pferde verkaufen?“, überlegte er. Die Ritter hatten auch Stricke und Heu in die Taschen gepackt. Sie hatten aufbrechen wollen. Nur wohin?
„Wir sind gerade noch rechtzeitig gekommen“, meinte Peki und tätschelte Jen lächelnd.
„Danke übrigens“, sagte Merin. „Du hast mir das Leben gerettet!“
Peki winkte ab.
Sie leerten Capricorns Taschen und untersuchten dann die Pferde. Wie durch ein Wunder hatten alle vier den Sprung in den Wald überlebt, ohne sich schwer zu verletzen.
„Ich weiß jetzt übrigens mehr“, sagte Peki unvermittelt.
Merin sah sie an. „Über Chirogan?“ Er musste sich erst ins Gedächtnis rufen, weswegen sie sich eigentlich heute hatten treffen wollen. Der Einbruch in den Palast und die anschließende Flucht hatten die lange Woche des Wartens aus seinem Bewusstsein verdrängt.
Peki schüttelte den Kopf. „Nicht über Chirogan, tut mir leid. Aber ich weiß, woher die grauen Ritter stammen.“
„Wirklich?“ Merin beugte sich vor. „Woher?“
„Mein Vater hat sich mit einem Adeligen getroffen, Porthas Kainlin. Sie haben so getan, als würden sie über Politik reden, aber dann sind sie in Vaters Arbeitszimmer gegangen. Ich habe gehört, wie sie beide mit diesem Garabath gesprochen haben. Porthas Kainlin ist derjenige, der den Rittern Zugang zu Telion gewährt hat.“
„Kainlin!“, zischte Merin und spuckte auf den Boden. „Ich kenne ihn. Ein schmieriger Typ, wobei das für einen Adeligen nicht ungewöhnlich ist. Er bewacht das Sturmtal, richtig?“
Peki nickte. „Genau.“
Merin atmete tief durch. „Dann müssen wir dorthin.“
„Und zwar schnell“, warf Peki ein und senkte den Blick. „Vater hat mich bemerkt. Deswegen waren wohl auch die grauen Ritter im Palast – sie wissen, dass ich sie belauscht habe!“
Merin sah das Mädchen an, das sich bittere Vorwürfe zu machen schien. „Das ist schlecht“, war alles, was er sagen konnte.
Peki nickte. „Es ist meine Schuld. Und noch dazu so dämlich – ich musste niesen und sie haben mich natürlich gehört!“
Merin zuckte mit den Schultern. „Nun, du weißt trotzdem eine Menge über ihre Pläne. Das ist eine ziemliche Leistung!“
Peki lächelte zu ihm auf. „Dann sollten wir mal los und Garabath aufhalten!“
Merin nickte, dann sah er zu den Pferden. „Wir werden über die Wiesen reiten müssen. Wenn die grauen Ritter und ihre Herren wissen, dass du ihre Geheimnisse kennst, werden sie uns dort erwarten.“
„Was können wir tun?“
„Wir müssen schnell sein.“ Merin trat zu Capricorn. Er streichelte den Esel. „Tut mir leid, Kleiner, aber deine Beine sind zu kurz. Peki, hilf mir mal!“
Sie trat neben ihn und sah erstaunt zu, wie Merin dem Esel die Satteltaschen abnahm. Dann half sie ihm, Sturmtänzerins Sattelzeug in eine der Taschen zu packen und alle überflüssigen Stricke und Seile in die andere Tasche zu tun. Merin sattelte Wildfang, während Peki die zweite Satteltasche in der Höhle deponierte.
Dann trat Merin zu Capricorn und nahm ihm das Halfter ab. „Lauf, mein Kleiner.“
Der Esel sah ihn einen Moment an, dann trottete er langsam zur Seite und suchte nach einem Büschel Gras, an dem er knabbern konnte. Merin sah dem Packtier nach und hoffte, dass Capricorn in der Wildnis überleben würde.
Dann trat er zu Peki. „Bereit für einen Ritt?“
Sie grinste breit und nickte. „Darauf kannst du wetten!“
Sie stiegen in die Sättel von Jen und Wildfang. Merin nahm Sturmtänzerins Zügel in die Hände.
„Auf geht’s!“, sagte er. „Zum Sturmtal!“
Sie ritten wie an jenem Tag, da Merin Peki zum ersten Mal getroffen hatte. Doch diesmal ritten sie Seite an Seite und in dem schärften Tempo, das die Pferde bieten konnten. Merin musste Wildfang ab und zu zügeln, damit Jen nicht zurückfiel.
Sie verließen den Wald und hetzten ihre Pferde, dicht über die Hälse ihrer Reittiere gebeugt, quer über die dunklen Wiesen. Es regnete noch immer, die Tropfen schlugen ihnen hart in die Gesichter. Jen und Wildfang sprengten Seite an Seite vorwärts, Sturmtänzerin folgte. Sie mussten schnell sein, oder Jock Teador würde mit all seinen Geheimnissen und Merins einziger Hoffnung, Chirogan zu retten, für immer verschwinden.
Das Sturmtal lag neben dem Niemhain. Merin musste im Nachhinein zugeben, dass er selbst darauf hätte kommen können, Kainlin zu verdächtigen. Nicht nur deutete die Leiche Piernans im Niemhain darauf hin, dass der Mörder aus dem Sturmtal kam, auch die grauen Ritter waren bei Merins erster Begegnung aus dieser Richtung gekommen.
Es war nicht allzu lange her, dass er die gleiche Strecke auf der Suche nach Chirogan geritten war. Nun ritt er mit Peki zur Siedlung Niemhain und von dort in den Wald hinein. Düster und regenschwer beugten sich die Kronen der Bäume über sie, der Wald war dunkel und vom Prasseln der Tropfen erfüllt. Merin und Peki huschten durch die Wildnis wie Geister, hörten wachsam auf jedes Geräusch. Sie rechneten damit, dass die Grenze zum Sturmtal bewacht sein würde, doch sie trafen niemanden an, als sie den Niemhain schließlich am Ufer eines kleinen Sees verließen und in das karge, von kleinen Schluchten durchzogene Tal ritten.
„Das ist seltsam“, meinte Peki. „Sollten hier nicht lauter Ritter sein?“
„Eigentlich schon.“ Merin sah sich um. Das Sturmtal mit seinen Klippen auf allen Seiten erschien ihm wie eine Falle. Er tastete nach dem Jagdmesser, das inzwischen an dem Riemen vor seiner Brust hing. Dann kontrollierte er die Pfeile im Köcher.
Peki sah sich aufmerksam um. Doch es waren keine Reiter zu sehen, keine Ritter und keine Angreifer.
„Wenn Chirogan hier ist, dann ist er im Turm an der Schicksalsklippe“, sagte das Mädchen.
Merin nickte. Der Turm war eine alte Festung, älter als Telion, die sogar die Wut des roten Drachen überstanden hatte. Vielleicht saß Chirogan dort im Verlies. Merins Herz schlug höher. War er so nah davor, seinen Freund endlich wiederzusehen? Ihn zu befreien?
Sie hielten sich am Rand des Tals und ritten langsam auf den Turm zu, der sich auf einem besonders zerklüfteten Hang erhob. Die Schicksalsklippe drohte vor ihnen auf wie ein gezahnter Schlund und Merin musste unwillkürlich an Ashrams klaffenden Rachen denken.
Sturmtänzerin schnaubte und zerrte an den Zügeln, als sie den Fuß der Klippe erreichten und nach oben kletterten.
Merin hoffte, dass die weiße Stute sich nur Sorgen wegen des unsicheren Untergrundes machte. Er fürchtete, dass das nicht allein der Grund für Sturmtänzerins Scheuen war.