Merin und Peki, mitsamt ihren drei Pferden, erstiegen die Schicksalsklippe im Sturmtal. Merins Brust wurde von widerstreitenden Gefühlen zerrissen. Da war einerseits die Hoffnung, Chirogan endlich in der Sturmfeste zu finden. Doch was, wenn diese Hoffnung enttäuscht wurde?
Und Merin hatte Angst, große Angst. Das Sturmtal lag leer und verlassen da. Im Reich von Porthas Kainlin gab es nur wenige Bauern, doch jetzt erschien das Tal wie ausgestorben. Dabei wussten die grauen Ritter inzwischen, dass Peki die Pläne des geheimnisvollen Garabath kannte und auch die Rolle, die Kainlin darin spielte. Wieso also gab es keine Wachen?
Sturmtänzerin scheute und zerrte an den Zügeln, die Merin festhielt. Er kämpfte gegen die nervöse Stute an und packte ihre Zügel mit beiden Händen. Wildfang wurde langsamer, als Sturmtänzerin sich gegen ihn stemmte.
Peki ritt auf Jen weiter. Merin sah zu, wie sie an den Fuß des Turmes heranritt und dort ihr Pony zügelte.
Peki stieg ab. Jen schnaubte und scharrte mit den Hufen, blieb aber stehen, während Peki sich der Tür näherte.
„Was tust du da?“, zischte Merin, doch der Regen verschluckte seine Worte. Peki stieß die Tür auf.
Dann stolperte sie zurück.
Merin trieb Wildfang an und zerrte Sturmtänzerin hinter sich her. Als er bei Peki ankam, beugte sie sich würgend über die Erde. Merin sprang aus dem Sattel und lief zu dem Kind.
„Was ist los? Was ist dort?“
„Sie sind tot!“, keuchte Peki und richtete sich auf.
Merin klopfte ihr auf die Schulter, während er an ihr vorbei zur Tür lief. Vorsichtig spähte er in das düstere Innere des Turms, auf das Schlimmste gefasst.
Trotzdem überwältigte ihn der Gestank. Aus dem Turm kamen ihm Fliegen entgegen, der Geruch von verrottendem Fleisch und altem Blut. Merin stieß die Tür vorsichtig auf und presste sich eine Hand vor den Mund.
Die Wachen waren tot, und das offenbar schon eine ganze Weile. Die Körper mussten für Wochen im Turm gelegen haben, während einiger langer, heißer Tage. Merin sah mindestens fünf Tote im Vorraum, weitere verzierten die gewundene Treppe, die nach oben führte.
Er warf einen Blick zu Peki. „Warte hier.“
Mit diesen Worten trat er in den Turm und kletterte hinauf, stieg über die verwesenden Leichen.
Die Wunden, denen diese Menschen erlegen waren, sahen furchtbar aus. Sie waren mit Waffen geschlagen worden, mit Schwertern und Äxten, aber auch mit stumpfen Knüppeln. Oftmals waren die Leichen unkenntlich durch die brutalen Verletzungen. Merin wandte den Blick ab, doch manche Details brannten sich trotzdem in sein Gehirn.
Ein junger Soldat, vielleicht fünfzehn Sommer alt, dem man den Bauch in einem blutigen X aufgeschnitten hatte. Mit glasigen, weit aufgerissenen Augen starrte der Junge auf seine eigenen Innereien und wollte sie mit den Händen zurück drücken. Dann musste ihn der nächste Schlag getroffen haben, denn sein Schädel war hinten aufgespalten, das Blut verklebte die Haare und machte es unmöglich, deren ursprüngliche Farbe zu erahnen.
Einem älteren Mann hatte ein Hieb mit einer stumpfen Waffe das Gesicht zerschmettert, ein anderer lag auf dem Rücken und ein Schild steckte in seiner Seite. Der Gestank war furchtbar, doch Merin zwang sich, weiter aufzusteigen. Im zweiten Stockwerk fand er die Kerker.
Sein Herz blieb stehen – auch die Gefangenen hatte man abgeschlachtet! Für einen Moment konnte Merin nicht atmen und griff nach seiner Kehle, die wie zugeschnürt war.
Dann betrachtete er die Toten näher und kam zu dem Schluss, dass Chirogan nicht unter ihnen war. Die Gesichter der fünf Gefangenen waren nur bei dreien noch zu erkennen. Der vierte Tote war eine Frau und der fünfte war zu klein, um Chirogan gewesen zu sein.
Einen Ärmel vor den Mund gepresst stolperte Merin aus dem Turm, begierig darauf, dem elenden Gestank zu entkommen. Draußen erwartete ihn Peki, die sich inzwischen gefasst hatte. Ihre drei Zöpfe waren nass vom Regen.
„Was hast du herausgefunden?“
„Nichts, was ich wissen wollte“, meinte Merin und bekämpfte seine Übelkeit. „Aber Chirogan war nicht dort.“
„Endlich mal eine gute Nachricht.“ Peki lächelte, doch es war ein schiefes Lächeln. Sie verzog das Gesicht. „Mir ist speiübel!“
„Das ist auch eine üble Sache“, meinte Merin und trat an den Rand der Klippe, um über das Land zu sehen. „Warum hat niemand die Toten gefunden und begraben?“
„Vielleicht wurde es ihnen verboten.“
„Ja, oder es gibt niemanden, der sie finden könnte. Von einem Verbot hätte ich sicherlich gehört, es hätten sich wütende Verwandte im Palast eingefunden.“
„Auch, wenn sie die grauen Ritter gefürchtet hätten?“
Merin warf ihr einen Blick zu. „Sieh dich doch um: Das Tal ist verlassen! Kainlin hat seinen Untertanen nicht verboten, ihre Lieben zu bestatten – er hat sie abschlachten lassen!“
„Bei Notch, ich überlege doch bloß, ob es nicht vielleicht eine weniger dramatische Erklärung gibt!“, fauchte Peki.
Merin merkte, dass er sein Entsetzen am dem jungen Mädchen auszulassen begann. „Es gibt keine weniger dramatische Erklärung“, sagte er trotzdem. „Sie sind tot.“
Peki schüttelte nur genervt den Kopf. „Dann lass uns verschwinden. Bevor sie uns ebenfalls töten!“
Merin ging auf ihr Friedensangebot ein und kehrte zu Wildfang und Sturmtänzerin zurück. Die weiße Stute wirkte erleichtert, dass sie diesen Ort verlassen würden. Merin wollte sie tätscheln, doch sie wich zurück. Vermutlich hing der Verwesungsgestank in seiner Kleidung.
Er stieg auf Wildfangs Rücken. „Tut mir leid, Kleiner. Nase zu und durch, denke ich.“
Er wartete bis Peki ihr Pony neben Wildfang getrieben hatte.
„Wohin?“, fragte er dann.
„Ich weiß nicht. Zurück in den Namenlosen Wald?“ Peki zuckte mit den Schultern.
„Nachdem wir es einmal heraus geschafft haben? Vielleicht denken die Ritter, dass wir noch im Wald in der Falle sitzen. Und es ist eine Falle, rundherum gibt es nur die Wiesen. Ich würde nicht dorthin gehen.“
„Aber wir brauchen Deckung. Dann lass uns in den Niemhain reiten.“
Merin überlegte, ob etwas gegen ihren Plan sprach. Doch Peki hatte Recht. Sie brauchten die Deckung eines Waldes, auf den Wiesen würden die Ritter sie zu schnell entdecken.
„Dann los“, meinte er.
Inzwischen wurde der Regen schwächer und hörte schließlich ganz auf, als Merin und Peki den Teich am Waldrand erreichten. Merins Augen juckten. Ohne den erfrischenden Regen ergriff die Müdigkeit Besitz von ihm. Langsam merkte er, wie seine Gedanken immer trüber dahin trieben, sich immer häufiger verrannten und versandeten.
Peki gähnte laut. „Ich finde, diese Nacht kann auch mal endlich ein Ende haben! Suchen wir einen Ort zum schlafen. Ich könnte drei Tage am Stück pennen!“
„Das können wir uns leider nicht leisten.“ Merin lächelte müde. „Aber einige Stunden sollten machbar sein. Sobald wieder Nacht wird, müssen wir weiter.“
„Wohin?“
„Fort. Fort aus Telion. Wir sind hier nicht mehr sicher. Die Ritter sind überall, sie wollen uns töten. Wir wissen nicht, wem wir überhaupt vertrauen können – außerdem scheinen die Menschen hier wie die Fliegen zu sterben.“
Peki sah ihn an. „Verdammt, wir müssen echt weg?“
Merin nickte.
„Ich … ich habe keine Sachen dabei. Nichts. Nur das, was ich jetzt trage.“
„Und ich habe auch nicht mehr.“ Merin rieb sich erschöpft die Stirn. „Abgesehen von meinem Wissen als Waldläufer vielleicht.“
„Aber … wir müssen wirklich fort?“
Merin konnte Peki verstehen. Er hatte diese Tatsache selbst erst vor Kurzem realisiert, als er den Turm betreten hatte.
Er musste Telion verlassen, diese Heimat, für die sein bester Freund einen Drachen erschlagen hatte. Er würde vielleicht niemals zurückkehren. Je weiter er fortritt, desto sicherer wäre er – und desto geringer war die Chance, jemals zu erfahren, was aus Chirogan geworden war.
„Und … wohin?“, fragte Peki leise.
Merin sah sie an. „Was?“
„Wohin reiten wir?“
Merin hatte noch nicht darüber nachgedacht.
„Zum Hafen vielleicht. Oder in den Wald von Bregost, dort gibt es noch einige Waldläufer. Vielleicht schaffen wir es bis Ellysmere, dort wären wir in Sicherheit.“
„Ellysmere“, wiederholte Peki. „Ich habe gehört, dass sie dort Birken haben, die nachts leuchten!“
„Das sind wohl nur Geschichten“, bremste Merin ihren Enthusiasmus. „Aber es gibt dort Birken und zwei große, klare Seen. Und wilden Lavendel.“
Peki lächelte, dann seufzte sie und sah zurück zum Sturmtal, dann dorthin, wo der Palast lag.
„Trotzdem. Ich will nicht fort von hier!“
„Das will ich auch nicht.“ Merin folgte ihrem Blick.
„Warte mal. Siehst du das auch?“ Peki deutete auf etwas, das sich deutlich auf einer Hügelkuppe abzeichnete. Es waren dunklere Schatten vor dem dunklen Morgenhimmel. Reiter.
„Sind das die Ritter?“, fragte sie leise. Sie hielten ihre Pferde an. Weiß stieg ihr Atem in den Himmel.
Die Schatten hielten ebenfalls an, sahen zum Waldrand. Dann lenkten sie ihre Pferde den Hügel herab, in Richtung von Merin und Peki.
„Ob sie es sind oder nicht, sie verfolgen uns. Los, weg hier!“, rief Merin und wendete Wildfang.
„Schnell, Peki!“
Die Pferde fielen in den Galopp.