„Dokarestmus ist der Drachenmeister?“, fragte Takjin. „Aber … warum?“
Junea zuckte mit den Schultern. „Es ist nur ein Name. Weißt du mehr als ich?“
Takjin schüttelte den Kopf und lehnte sich wieder zurück, jetzt verwirrt. „Es klang so, als ob der Drachenmeister … jemand anderes sei. Du weißt schon, eine ganz neue Person. Und Dokarestmus wäre nur – Dokarestmus.“
„Niemand ist nur irgendwas“, brummte Junea. „Und Dokarestmus ist ein Weltenreisender und der Drachenmeister. Das sind beides nur Titel.“
„Entschuldige“, sagte Takjin. „Gut, du wolltest etwas über den Wyvernstab sagen.“
Junea akzeptierte seine Entschuldigung mit einem Kopfnicken. „Zuerst – du weißt sicherlich noch, was ich dir zu Wyvern gesagt habe, dass man sie auf keinen Fall als Drachen bezeichnen sollte, es sei denn, sie kennen dich und wissen, dass du es nicht böse meinst?“
„Ich erinnere mich“, sagte Takjin. Er konnte sich schwerlich vorstellen, dass man etwas vergessen könnte, das man auf dem Rücken eines fliegenden Wyvern gelernt hatte.
„Das liegt daran, dass das Wort Drache für einen Wyvern eine Beleidigung ist. Wyvern sind intelligente Echsen, stark, doch nicht grausam. Ein Drache ist, in ihrer Definition jedenfalls, ein gieriges, kriegslüsternes Wesen, das keine Gnade und kein Mitleid kennt.“
„Und … stimmt das?“, fragte Takjin, der darauf geachtet hatte, dass Junea vorsichtig formulierte.
„Ich bin niemals einem Drachen begegnet“, antwortete sie. „Es heißt, dass sie fast ausgestorben sind, vor langer Zeit. Sie wurden ausgerottet. Die einzige Ausnahme ist der Enderdrache, dessen Seele in dem Enderstab lebt, und es gibt vielleicht noch einige wenige Drachen in den Welten verstreut. Das ist alles sehr lange her, aber früher gehörten Drachen und Wyvern zu einer Familie. Deswegen können sie es dir auch verzeihen, wenn du sie manchmal als Drachen bezeichnest. Einige der Drachen wurden jedoch gierig, sie griffen die Menschen an, zerstörten Städte und stifteten Unheil. Die Drachen, die sich von diesem Tun abwandten, sind die heutigen Wyvern. Sie verließen die gemeinsamen Horte und begaben sich in eine andere Welt.“
„Die Wyverninsel?“, riet Takjin.
„Nicht schwer zu erraten, wie? Ja, sie flohen dorthin, und sie versiegelten ihre Welt vor ihren Verwandten und allen anderen, bis auf einige befreundete Wesen. Schlangen und Vögel und viele Insekten, wie es heißt. Tatsächlich wissen wir recht viel über die Wyverninsel, denn einige der Wyvern, die wir hier haben, stammen von dort. Sie konnten frei zwischen ihrer Heimat und den anderen Insel wechseln, bevor der Spiegelmeister die Welten zerstört hat. Seitdem sind die Wyvern draußen gestrandet und innen eingesperrt und sehnen sich nach ihren Familien – obwohl die Erinnerung verblasst. Das Holz, aus dem die Ställe oben sind, stammt übrigens auch aus ihrer Welt, es ist Wyvernholz. Ein letztes Überbleibsel ihrer Heimat. Das alles ist viele Jahre her.“
„Wie viele Jahre?“, fragte Takjin sofort. „Ich meine, Dokarestmus ist vielleicht alt, aber obwohl ich ihn nicht kenne, ist es doch kaum gerechtfertigt, dass du über ihn und den Spiegelmeister redest wie über Legenden – der Spiegelmeister war doch Dokarestmus' Schüler, oder nicht?“
„Das war er. Doch das ist viele, viele Jahre her. Du hast recht, Takjin – du kennst Dokarestmus nicht. Er ist alt, viel älter, als er aussieht. Viel älter als irgendwas und irgendjemand, den ich kenne, älter als die Wyvern. Dokarestmus ist … nun, jedenfalls kein Mensch. Ich weiß nicht, was er ist. Vielleicht hat das Weltenreisen ihm auch nur zusätzliche Jahre eingebracht.“
Takjin schwieg erschrocken. Mehr und mehr erschien ihm diese Insel wie ein Ort, wo Geschichten und Märchen zur Wahrheit wurden. Wie sicher konnte er sich eigentlich sein, dass er nicht in Wirklichkeit im Meer ertrunken war – oder besser noch, im Sumpf verhungert – und den Rest dieser wahnsinnigen Geschichte bloß träumte?
„Ich weiß, ich weiß“, sagte Junea. „Wir können für heute aufhören, wenn du willst.“
„Nein!“, fuhr Takjin auf. „Nein, ich will alles wissen!“
„Nun gut.“ Junea lehnte sich auf der Bank zurück. „Der Spiegelmeister hat vor vielen Jahren den Enderstab geschaffen. Und mit diesem griff er die Welten an und verursachte das, was du bereits gesehen hast: Das Gift, das diese Welt verschlingt.“
Takjin nickte. „Die Fäulnis, die Dokarestmus aufhalten konnte.“
„Nicht für immer“, rief Junea ihm in Erinnerung. „Damals, als der Spiegelmeister angriff, hat er aber nicht einfach wieder aufgehört. Nein, Dokarestmus hat ihn damals aufgehalten. Doch der Spiegelmeister hatte den Enderstab. Es sah finster aus. Du musst verstehen, die Macht des Enderstabs war gewaltig. Dokarestmus allein hatte keine Chance, den Spiegelmeister zu bezwingen.“
„Was ist mit der Frau? Da war doch noch eine dritte Weltenreisende, eine Frau“, fragte Takjin. „Es war doch ihr Stab!“
„Ach, sie war damals schon lange tot.“ Junea winkte ab. „Nein, Dokarestmus fand andere Verbündete: Er sprach mit den Wyvern, und sie halfen ihm, eine Macht zu schaffen, die dem Enderstab ebenbürtig war.“
„Den Wyvernstab.“
Junea nickte. „Der Spiegelmeister war erschöpft und die Macht des Stabes gemindert, als Dokarestmus' Stab endlich bereit war. So konnte Dokarestmus den Spiegelmeister besiegen und ihm den Stab abnehmen. Aber der Spiegelmeister verschwand mit dem Buch des Wissens. Dokarestmus versiegelte die Welten mit der Macht beider Stäbe und brachte diese dann hier auf Soregrat in Sicherheit. Und viele, viele Jahre später fand er heraus, wo der Spiegelmeister gelandet war und versuchte, ihm das Buch des Wissens zu stehlen. Er wurde gefangen und gefoltert und hätte vielleicht unweigerlich Soregrat und die Stäbe verraten, wenn nicht eine magische Kiste und ein kleiner Junge gewesen wären. Den Rest der Geschichte, denke ich, kennst du.“
Takjin schwieg nachdenklich. Diese letzte Wendung, die ihn selbst in den Kontext solch unvorstellbarer und merkwürdiger Ereignisse setzte, hatte er nicht erwartet. Er rechnete halb damit, dass Junea im nächsten Moment lachen und alles für einen großen Scherz erklären würde.
Aber als sie sprach, war sie ernst. „Ich hoffe, du verstehst nun ein wenig. Ich wollte dir den Stab nicht geben, nicht, ohne dir alles erzählt zu haben. Es scheint, dass Dokarestmus dich zu seinem Nachfolger bestimmt hat, indem er dir die Stäbe und das Buch schickte. Doch du musst wissen, was für eine schwere Aufgabe er dir damit vermacht hat. Es wird deine Aufgabe sein, Soregrat und die Artefakte vor dem Spiegelmeister zu schützen, und diese Aufgabe beginnt damit, den Wyvernstab und das Buch des Wissens zu finden.“
Junea hielt inne, als sie Takjins Blick bemerkte.
„Du wirst nicht allein sein, Takjin. Ich habe Dokarestmus geholfen, ich werde auch dir helfen.“
„Warum nimmst du nicht den Stab und alles?“, fragte Takjin. „Du bist älter! Du weißt mehr über diese Dinge!“
„Aber mir wurden sie nicht anvertraut“, widersprach Junea. „Du kannst die Aufgabe ablehnen, aber du kannst sie nicht an jemand anderen weitergeben. Und ich bitte dich, lehne nicht ab, denn Soregrat braucht einen Hüter. Was mein Alter angeht – ich bin 19, Takjin, auch wenn ich älter wirke.“
Takjin zuckte zusammen. Junea war bloß fünf Jahre älter als er? „Wie oft wird mein Weltbild an diesem Abend eigentlich noch auf den Kopf gestellt?“, fragte er leise.
Junea musste lächeln. „Ich weiß es nicht. Nun, eine Sache habe ich noch: Der Spiegelmeister hat einen Namen, auch wenn wir uns bemühen, ihn auf Soregrat niemals auszusprechen: Er heißt Garabath.“
„Garabath“, flüsterte Takjin, um sich den Namen einzuprägen.
Junea nickte. „Dokarestmus fürchtete, dass allein der Name genügen könnte, um ihm den Weg nach Soregrat zu zeigen, also nennen wir ihn nur den Spiegelmeister. Aber zurück zu deiner Bürde: Ich kann dich nicht zwingen. Ich wünsche dir nicht, dass du das tun musst, aber vielleicht ist es ja nicht für lange. Vielleicht kehrt Dokarestmus bald zurück.“
Sie sahen beide schweigend auf den Enderstab, der in dem inzwischen dunklen Wohnzimmer auf dem Tisch lag und purpurn pulsierte.
„Seine Macht ist inzwischen wieder vollkommen erneuert“, sprach Junea leise. „Es liegt große Kraft in diesem Stab, Takjin. Und genau das macht ihn so gefährlich.“
Takjin seufzte und streckte die Hand aus, dann umschloss er den Stab mit festem Griff. „Ich habe mich entschieden. Bevor ich Dokarestmus kannte und von Soregrat wusste, war ich verzweifelt. Ich hatte nichts mehr, um dafür zu leben. Also ist die Insel, sein Lebenswerk, nun auch mein Leben. Ich werde kämpfen.“
Dann fühlte er sich mit einem Mal wieder jung und unsicher und sah Junea verschreckt an. „Aber du hilfst mir doch?“
„Natürlich, tapferer Takjin. Natürlich.“