„Lauft!“, rief Yrsa Cirdrim in den Schlachtlärm hinein. „Flieht!“
Yodda klammerte sich an Nylian und sah nach hinten: „Colum!“
Ihr Meister war nicht zu entdecken. Jetzt wünschte sie sich von ganzem Herzen, eine Waffe zu haben.
Nylian riss Aidalos herum. Wie das Pferd in dem engen Pass wenden konnte, war Yodda ein Rätsel, doch im nächsten Moment stand das Tier mit dem Kopf in Richtung ihres gefallenen Meisters. Nylian zerrte den Bogen hervor und Yodda musste den Kopf zurück reißen, um das Holz nicht ins Gesicht geschlagen zu bekommen. Mit fliegenden Fingern spannte Nylian die Sehne auf den Bogen und griff nach einem Pfeil.
In diesem Moment ertönte ein Röhren und Colum kam auf die Hufe. Mit wilden Bewegungen schüttelte er die Vampire ab.
„Verflucht!“ Nylian riss an den Zügeln, als Colum blindlings auf sie zu galoppiert kam, den Kopf mit den Hörnern zum Angriff gesenkt. Aidalos sprang dem Zentauren aus dem Weg, wendete auf geschickten Hufen und setzte ihm dann nach. Yodda hatte Nylians Hemd gepackt. Sie warf einen Blick nach hinten und sah schwarze Schatten, im Dunkeln kaum sichtbar, die ihnen mit großer Schnelligkeit folgten. Die Vampire bewegten sich krabbelnd vorwärts, fast wie Spinnen, aber um ein Vielfaches größer. Es war, als würden dem Boden schwarze Tentakel wachsen.
„Schneller, Nylian!“, schrie Yodda panisch.
Die blauen Haare des Elfen wehten über ihr im Wind. Er hielt Pfeil und Bogen mit einer Hand umklammert und peitschte mit der anderen die Zügel. Aidalos flog förmlich über den Steinboden, als ob dem Hengst Flügel gewachsen wären.
Plötzlich durchschnitt ein helles, gleißendes Licht die Nacht. Yodda spähte unter Nylians Arm hindurch nach vorne und konnte Yrsa Cirdrim sehen, der im Sattel des Einhorns sitzend seinen Stab gereckt hatte. Das Licht ging von der Spitze des Stabes aus und flutete den schmalen Gang mit kalten, weißen Strahlen.
Colum, ein bräunlicher Schemen mit einem winzigen, blonden Akzent auf dem Kopf, rannte eben an Cirdrim vorbei, dann preschte auch Aidalos zum Magier und weiter nach vorne. Der Weg fiel steil ab, weiße Strahlen durchzogen die Dunkelheit und machten den unebenen, braunen Felsen sichtbar.
Cirdrim und die Lichtquelle blieben ein Stück hinter ihnen zurück, als das Einhorn langsamer folgte. Yodda hörte den alten Zauberer Worte brüllen. Das Licht flackerte und ein Rumpeln wie von einer Lawine ertönte. Dann erklangen schrille, unmenschliche Schreie.
Yodda warf einen Blick nach hinten, aber bis auf das helle Licht von Cirdrims Stab, ein Stern in der Dunkelheit, konnte sie nicht viel erkennen. Das Einhorn folgte ihnen mit eleganten Sätzen den Berg hinunter, doch was jenseits des Lichtes lag, war in Schwärze gehüllt.
Nylian bremste Aidalos ein wenig aus. Sie hatten zu Colum aufgeschlossen, der den Berg so schnell hinunter hastete, wie es die schlechte Sicht erlaubte. Der Hang war mit feinem Schotter bedeckt, ein einziger Fehltritt könnte fatale Folgen haben. Sie hatten den schmalen Gang inzwischen verlassen, doch Yoddas geblendete Augen konnten nicht erkennen, was sich um sie herum befand, noch, wie tief der Hang hinunter ging.
„Ich habe sie aufgehalten, aber ich weiß nicht, für wie lange.“ Cirdrim hatte sein Einhorn neben Aidalos gelenkt. Der Zauberer war außer Atem. Kaithryn, die hinter dem schwarzen Mantel kaum zu sehen war, warf Yodda einen ängstlichen Blick zu.
„Was sollen wir tun?“, fragte Nylian beherrscht.
„Ich könnte die Vampire ablenken und euch genug Zeit verschaffen, um sicher ins Tal zu gelangen“, sagte Cirdrim und hob dann die Stimme: „Colum, hörst du mich?“
Der Zentaur hielt an und wartete auf sie. Seine Flanken waren mit Schweiß bedeckt.
„Es ist zu dunkel, um im vollen Galopp einen Hang herunter zu reiten“, belehrte Cirdrim sie. „Sucht euch einen Weg nach links oder rechts. Wenn wir Glück haben, folgen die Vampire meinem Licht und lassen euch in Ruhe.“
„Aber was tut ihr, wenn sie euch folgen?“, fragte Yodda entsetzt. Sie streckte eine Hand nach Kaithryn aus. „Kat, sie werden euch töten!“
„Werden sie nicht“, sagte Kaithryn selbstsicher.
„Ich erinnere mich an eine schmale Schlucht, nicht weit von hier“, sprach Cirdrim. Noch immer trotteten die Pferde und Colum nach unten, ihre Hufe schlitterten über das lockere Geröll. „Dort kann ich ihnen eine Falle stellen.“
Kaithryn lächelte schwach: „Keine Angst. Uns wird nichts passieren.“
Nylian zögerte. Yodda warf ihrer Freundin einen langen Blick zu, doch in diesem Moment ertönte ein lautes Kreischen über ihnen, voll von rasender Wut.
„Eilt euch!“, befahl Cirdrim und spornte das Einhorn an. Das Licht seines Stabes entschwand nach unten, während Colum und Aidalos zur Seite eilten. Bald wuchsen Felswände zu beiden Seiten in die Höhe und sie befanden sich auf einem weiteren, verschlungenen Weg im Gebirge.
„Leise!“, zischte Colum, der die Führung übernahm.
Yodda lauschte mit angehaltenem Atem nach hinten. Nylian hatte noch immer einen Pfeil auf der Sehne und hatte sich im Sattel halb umgedreht, um nach hinten zu spähen.
„Nylian … sie werden Kat töten!“, flüsterte Yodda entsetzt.
„Das werden sie nicht, Kind“, brummte Colum. „Leise jetzt.“
Sie hörten das Flattern vieler ledriger Schwingen in der Luft. Aidalos schnaubte und blieb wie erstarrt stehen. Yodda konnte das Pferd unter sich beben spüren. Die Vampire waren irgendwo über ihnen. Die Dunkelheit mochte die Geräusche verstärken und bedrohlicher klingen lassen, doch es war sicherlich ein Dutzend, das nach ihnen suchte. Die Felswände warfen das Echo seltsam zurück, und so konnte Yodda nicht sagen, woher die Geräusche stammten. Colum drängte sich an Aidalos‘ Seite und halb vor Nylian. Yodda konnte sehen, dass der Zentaur zitterte, trotzdem hielt er die Fäuste kampfbereit erhoben, um sie zu verteidigen.
Dann verklang das Flattern in der Ferne. Unheimliche Stille senkte sich über die Berge, eine Stille, die in den Ohren schmerzte. Yodda schloss die Augen und dachte an Kaithryn. Hoffentlich ging es ihr gut!
~ ⁂ ~
Die ganze Nacht irrten sie durch das Gebirge. Es war so dunkel, dass Nylian absitzen und Aidalos führen musste. Yodda ließ er im Sattel sitzen.
Sie waren angespannt. Wenn Aidalos gegen einen Stein trat oder schnaubte, hielten sie den Atem an und erwarteten halb, dass sich im nächsten Moment geflügelte Schatten mit spitzen Zähnen aus dem Himmel auf sie stürzten. Als der Morgen endlich dämmerte, waren sie zu Tode erschöpft. Zum Glück fanden sie bald einen Weg, der nach unten führte. Müde stolperten sie aus dem Gebirge heraus. Colum hatte die provisorische Schiene verloren und sein verletzter Huf machte ihm immer stärker zu schaffen. Wieder und wieder fuhr er sich über den Schädel, sein Zopf hatte sich in viele dünne Strähnen aufgelöst. Nylian und Yodda ritten gemeinsam auf Aidalos. Der Hengst ließ den Kopf hängen und die Hufe über den Boden schleifen.
„Da vorne! Zivilisation!“, seufzte Colum erleichtert. Tatsächlich: Sie hatten am Fuß der Berge eine flache Wiesenlandschaft erreicht, in deren Mitte ein großes Mischwaldgebiet lag. Nicht weit entfernt erhob sich eine kleine Stadt aus bunten Zelten, über denen verschiedene Fahnen im Wind wehten.
Aidalos hob den Kopf und verfiel in einen leichten Trab. So kurz vor Ende ihrer Odyssee mobilisierte der Hengst noch einmal alle Kräfte.
Als sie sich der Zeltstadt näherten, kam ihnen eine kleine Gruppe entgegengelaufen, angeführt von einem Elben mit langen, goldblonden Haaren.
„Willkommen, Reisende!“, rief er schon von Weitem, dann nahm er Aidalos' Zügel und hielt den Hengst, während Nylian und Yodda sich aus dem Sattel fallen ließen. „Seid ihr für den Wettkampf gekommen?“
„Ja.“ Nylian lehnte sich gegen die Schulter seines Pferdes, während Yodda sich umstandslos auf den Boden fallen ließ und liegenblieb. „Wir wurden im Gebirge von Vampiren überfallen.“
„Vampire!“ Der Elb musterte sie wachsam. „Haben sie euch gebissen?“
Sie verneinten alle drei.
„Nun gut. Ich bin Haikalos, ich verwalte die Zelte und Vorräte. Ruht euch erst einmal aus. Um euer Pferd kümmere ich mich.“
Diejenigen, die mit Haikalos gekommen waren, Elfen, Menschen und Zwerge, strömten jetzt nach vorne, um ihnen zu helfen. Verschiedenste Hände nahmen ihnen die schweren Taschen ab und stützten sie auf dem Weg zur Stadt. Nur Colum näherte sich keiner und so humpelte der Zentaur hinterdrein.
„Ihr müsst mir eure Namen nennen und aus welcher Stadt ihr kommt“, sagte Haikalos. „Doch wenn ihr zu müde seid, hat das auch Zeit, bis ihr euch ausgeruht habt.“
„Wieso?“, fragte Nylian erschöpft.
„Ich führe Buch darüber, wie viele Wettkämpfer teilnehmen“, erklärte Haikalos.
„Wir waren mit zwei Freunden unterwegs“, sagte Nylian. „Yrsa Cirdrim und Kaithryn Ravn. Wir würden gerne zu ihnen.“
„Hm? Jemand dieses Namens ist mir nicht bekannt“, sagte Haikalos.
„Sie müssen gestern Nacht angekommen sein“, beharrte Nylian. „Fragt ein wenig herum: Ein Magier und eine menschliche Novizin.“
„Es tut mir leid. Ich kenne jeden in der Zeltstadt. Ich kann noch einmal in den Listen nachsehen, doch ich würde es wissen, wenn in letzter Zeit jemand angekommen wäre. Ihr seid die ersten seit zwei Tagen, und vermutlich auch die letzten Wettkämpfer.“