„Was ist das für ein infernalischer Lärm?“, stöhnte Nylian und presste sich die Hände auf die langen Ohren.
„Das Hornsignal!“, rief Yodda. „Hast du schon vergessen? Heute beginnt der Wettkampf.“
Nylian wälzte sich stöhnend von seiner Strohmatratze herunter. „Und deshalb müssen sie einen solchen Radau machen?“
Yodda schüttelte nur grinsend den Kopf und warf Nylian dann sein Hemd zu. „Beeil dich lieber, Schlafmütze!“
Nylian schlurfte grummelnd hinter die grobe Decke, die sie als Raumteiler im Zelt aufgehängt hatten. Jeder Wettkämpfer hatte von Haikalos ein Zelt und eine Matratze auf Stroh erhalten. Doch die Zelte kosteten jeden Tag Kaution, außerdem mussten sie von ihrem wenigen Geld auch den Stall für Aidalos, Essen und Trinken bezahlen, also hatten die drei Freunde sich kurzerhand eines der geräumigen Zelte geteilt. Es war ein großes, weißes Zelt mit roten Behängen und zwei Spitzen. Von der einen Spitze wehte die Flagge von Helmsieg – ein Helm auf rotem Grund – die andere Spitze war offen und erlaubte es ihnen, ein Lagerfeuer im Zelt zu betreiben. Im Inneren blieb genug Platz für ihre drei Lagerplätze, eng ans Feuer gedrängt, und den durch die Decke abgetrennten Vorraum, wo ihre Waffen und Ausrüstung lagen.
Yodda beugte sich über Kaithryn und rüttelte sie sanft an der Schulter. „Es ist Zeit.“
Kaithryn rollte sich auf den Rücken. Sie hatte die Arme vor der Brust gekreuzt. „Mir ist kalt.“
Yodda sah zum Feuer und stocherte ein wenig mit einem Ast in der Glut. „Nichts zu machen, solange du uns nicht ein wenig Feuer verschaffst“, urteilte sie dann. „Komm, steh erst einmal auf.“
Kaithryn kam, in ihre Decke gewickelt, auf die Füße. Sie sah blass aus. Inzwischen waren zwei volle Tage vergangen, seitdem Nylian sie auf der Ebene gefunden hatte, der dritte Tag brach eben an. Kaithryn wickelte sich enger in ihre Decke und kauerte sich dann vor das Feuer.
Yodda klopfte gegen die Decke: „Nylian? Bringst du uns etwas Holz und füllst den Kessel mit Wasser?“
„Wird gemacht!“, rief der Elf von der anderen Seite.
Etwas später füllte die Wärme des Feuers ihr Zelt. Nylian trug seine Waldläuferkluft in milden Braun- und Grüntönen, Kaithryn den schimmernden Brustpanzer über einem Hemd aus grober, dunkelbrauner Wolle sowie eine flammenförmige Schulterplatte aus fein gearbeitetem Metall. Yodda trug einen langen Leinenkittel mit tiefen Taschen und dem Ahornblatt der Heilerzunft auf der Brust. Sie rührte mit einem Holzlöffel durch das mit Kräutern durchsetzte Wasser im Eisenkessel.
Kaithryn hatte das Schwert auf den Knien liegen und betrachtete in Gedanken versunken die Klinge.
„Wirst du teilnehmen?“, fragte Yodda, um das ungewohnte Schweigen zu durchbrechen.
„Am Wettkampf?“, fragte Kaithryn.
„Woran sonst?“ Yodda lächelte ihre Freundin warm an.
Kat seufzte und legte das Schwert weg. „Ich weiß nicht. Ich bin keine Zauberin, ich habe ja erst einmal Magie gewirkt.“
„Ich hab gehört, dass es einen Lehrlingswettkampf gibt“, berichtete Yodda. `Gehört´ traf es eigentlich nicht. An jeder Ecke in der Zeltstadt wurde über den Ablauf der Spiele gesprochen, es war unmöglich, nichts davon mitzubekommen. Außer, man verbrachte die ganze Zeit nur im Zelt, so wie Kaithryn.
„Genau“, pflichtete Nylian Yodda bei. „Sie teilen die Wettkämpfer danach auf, wie lange sie ihren Beruf bereits ausüben. Du könntest durchaus in deiner Altersklasse gewinnen.“
Kaithryn sah auf. Dunkle Schatten lagen unter ihren Augen. „Ich möchte überhaupt nicht gewinnen.“
„Umso besser, dann kannst du auch nicht enttäuscht werden!“, meinte Yodda. „Aber teilnehmen kostet dich nichts. Und es ist, wie Meister Cirdrim gesagt hat: Vielleicht ist es eine einmalige Gelegenheit.“
Die Erwähnung ihres Lehrmeisters schien Kaithryn zu überzeugen. Sie nickte stumm und nahm dann ihre Tonschale in die Hand, da Yodda den Kessel vom Feuer nahm. Flink füllte die Zwergin drei Becher mit dem heißen Kräutertee. Die Freunde stießen an.
„Auf Cirdrim“, sagte Kaithryn.
„Auf den Sieg.“ Nylian lächelte schmallippig.
„Auf uns“, sagte Yodda und sie tranken.
~ ⁂ ~
Draußen lag eine feine Schneeschicht über allen Wegen, durchzogen von Huf- und Reifenspuren. Winzige Schneeflocken trudelten noch immer durch die Luft und blitzten wie viele, kleine Sterne, die sich vom Himmel gelöst hatten. Jenseits der Zeltstadt, in drei Winkeln des großen Tals, waren über Nacht neue Zelte in neutralem Weiß aus dem Boden gewachsen, dazwischen erhoben sich wie bunte Pilze kleinere Marktstände. In jenen Lagern sollten offenbar die Wettkämpfe ausgetragen werden.
„Wohin sollen wir zuerst gehen?“, fragte Yodda. „Wir bleiben doch zusammen, nicht wahr? Feuern uns gegenseitig an?“
„Natürlich bleiben wir zusammen!“, rief Nylian. „Ihr beiden habt mich doch in diesen Schlamassel hier gebracht, da habe ich ein wenig Ermutigung verdient!“
Doch ehe sie ihre Diskussion fortsetzen konnten, hörten sie Hufgetrappel hinter sich. Nylian drehte sich um und entdeckte Colum, der auf sie zu kam.
„Nylian!“, rief der Zentaur und winkte.
Einige umstehende Wettkämpfer machten dem großen Stiermenschen Platz, andere schimpften, als er ihnen zu nah kam. Er beachtete sie nicht.
„Ein Glück, dass ich euch noch treffe!“ Colum keuchte, als er bei ihnen angelangt war. „Ihr wolltet doch nicht etwa losziehen, ohne mir Bescheid zu sagen!“
„Du kannst schon wieder laufen?“, fragte Yodda verwundert.
Colum nickte. „Kurze Strecken jedenfalls. Ich werde leider kaum durch das Tal rennen; und ob ich am Wettkampf teilnehme, weiß ich auch noch nicht. Doch ich wollte euch dreien viel Glück wünschen!“
Damit packte er Yodda und riss sie in eine feste Umarmung. Yodda strampelte hilflos mit den Füßen.
„Viel Glück!“, sagte Colum und setzte die Zwergin dann behutsam wieder ab. Er trat zu Kat. „Dir auch viel Glück. Dass du Meister Cirdrim verloren hast, tut mir leid. Er war ein guter Elb. Aber du musst die gute Seite sehen: Das hier ist der perfekte Ort, um einen neuen Meister zu finden. Ich bin mir sicher, du wirst sie alle beeindrucken.“
Colum umarmte auch Kaithryn. Dann ging er zu Nylian und beugte sich zu ihm herunter, um ihm eine Hand auf die Schulter zu legen. „Passt gut auf euch auf, ihr drei. Ich erwarte, dass ihr gute Plätze belegt, ganz Helmsieg vertraut euch.“
„Wir geben uns alle Mühe.“ Nylian lächelte dünn.
„Ihr seid so groß geworden!“ Colum zog auch Nylian in eine feste Umarmung. Als er wieder auf dem Boden abgesetzt wurde, rang Nylian nach Atem.
Colum lächelte auf sie herunter. „Ihr werdet mir am Ende alles erzählen müssen! Und nun ab mit euch, sonst verpasst ihr noch alles! Und denkt daran, euch anzumelden!“
Nylian lief voraus, seine Freundinnen folgten ihm. Die meisten Zelte waren bereits verlassen. Sie schlugen den Weg zum Holztor ein, das den Eingang zur Zeltstadt markierte, obwohl es rings um die Zelte weder Graben noch Zaun gab, sodass das Tor eine reine Formalität darstellte. Obwohl sie spät dran waren, befand sich vor dem Tor noch immer eine lange Schlange von Wettkämpfern, die sich bei Haikalos anmeldeten.
„Name, Herkunft und Beruf?“, fragte der blonde Elb, als Nylian schließlich an der Reihe war.
„Nylian Faeyra aus Helmsieg“, sagte er. „Ich bin Krieger, Bogen und Pfeil.“
„Sehr gut, sehr gut!“ Haikalos machte sich eifrig Notizen. „Der Wettkampf der Schützen findet auf dem Plateau im Osten statt, wo die Zielscheiben stehen. Am Nachmittag, wenn Wind und Schnee es zulassen. Der Wettkampf findet noch die ganze Woche statt, ihr müsst also nicht direkt heute antreten.“
Nylian nickte und machte Yodda Platz.
„Name, Herkunft und Beruf?“, fragte Haikalos.
„Yoddaelda Hwemmnur, ich bin Heilerin und Bastlerin“, gab sie an. „Als Heilerin ausgebildet, als Bastlerin nur Novizin.“
„Ah!“ Haikalos lächelte. „Du kannst bei beiden Wettkämpfen teilnehmen, wenn du möchtest. Die Wissenschaftler treffen sich auf der Südseite des Tals, du kannst die Maschinen schon von hier sehen. Du bist auch aus Helmsieg, nehme ich an.“
„Ja.“ Yodda machte nun Kaithryn Platz.
„Noch eine Helmsiegerin?“
„Kaithryn Ravn“, sagte sie leise. „Ich bin Magie-Novizin.“
„Welche Magie?“
„Elementarmagie. Feuer.“
„Sehr schön. Dann werdet ihr drei ja viel herumkommen, die Magier trainieren im Norden. Dort gibt es übrigens auch einen Stand mit äußerst leckerem Schweinebraten, eine echte Delikatesse.“
Haikalos beendete seine Notizen und lächelte die drei jungen Teilnehmer freundlich an. „Willkommen beim ersten großen Talentwettkampf von Lirhajn! Ich wünsche euch viel Glück.“
In genau diesem Moment ertönte ein dumpfes, unheilvolles Rumpeln. Nylian wirbelte herum, Yodda schrie leise auf. Der Boden bebte unter ihren Füßen. Von den Wettkämpfern, die in der Nähe standen, fielen mehrere zu Boden, andere kreischten entsetzt.
Nylian folgte verschiedenen ausgestreckten Fingern mit dem Blick, die zum Süden zeigten. Als er dorthin blickte, blieb ihm der Atem stehen, denn der Berg bewegte sich. Ein riesiger Gigant aus Granit hatte sich schwerfällig in Bewegung gesetzt und wanderte langsam, doch sichtbar, zur Seite.
„Er verdeckt den Eingang!“, schrie eine junge Frau weiter vorne.
Nylian drehte sich, einem Impuls folgend, um. In den Bergen hinter ihnen, wo der Pass lag, war ebenfalls ein Berg in Bewegung, wenn auch ein kleinerer. Das Schauspiel war surreal, zumal die Geräusche viel zu leise waren, um diesem verrückten Ereignis Rechnung zu zollen.
„Das ist unmöglich!“, flüsterte der Elf entsetzt. Er tastete nach den Händen seiner Freunde, und sie klammerten sich auf der bebenden Erde aneinander.
Das Tal um sie herum wurde verschlossen. Sie saßen wie die Ratten in der Falle.