Tödliches Schweigen legte sich wie eine Decke über den Wald. Nylian hielt mitten in der Bewegung inne und lauschte. Ein einzelner Vogelruf durchbrach die Stille, das Schimpfen einer Amsel. Nylian drehte den Kopf, bis er genau wusste, von woher das Schimpfen kam. Blaue Haarsträhnen fielen ihm in die Stirn. So leise wie nur möglich huschte er über das feuchte Laub und kroch dann in einen flachen Graben, der zwischen den Bäumen ausgehoben worden war.
Der Grund des Grabens war feucht, unter den Blättern befand sich kalter Morast. Vermutlich war es ein alter Bachlauf. Nylian grub sich mit vorsichtigen Bewegungen unter die Blätter, die Kälte drang durch seine leichte Kleidung.
Dann lag er still, verborgen unter Laub und Erde.
Wenig später hörte er Stimmen und Schritte, die sich schnell näherten. Hätte er sie jetzt erst bemerkt, wäre es zu spät gewesen, sich noch zu verstecken. Durch ein winziges Loch im Laub konnte er atmen und einen Blick auf den Wald werfen. Die Männer und Frauen trugen erloschene Fackeln, obwohl es bereits Vormittag war. Sie mussten die ganze Nacht hindurch gesucht haben. Nylian wagte kaum zu atmen. Es waren zehn oder elf Personen, Elfen, Menschen und Zwerge. Vor allem Menschen. Sie alle waren bewaffnet, es schienen ausschließlich Krieger zu sein.
Mit grimmigen Blicken sahen sie sich um, spähten in die Baumkronen, schauten hinter jeden Baum. Auch an den Graben traten sie. Nylian kniff die Augen zusammen, als die Suchenden am oberen Rand vorbei gingen, Erde rieselte auf ihn hinab, auf sein Gesicht.
Dann entfernten sich die Schritte wieder, die Krieger redeten wenig. Noch lange später hörte Nylian jedoch das gelegentliche „Hier ist nichts.“ und „Seht dort nach!“ durch den Wald schallen.
Erst, als die Waldtiere sich wieder rührten, grub sich auch Nylian aus seinem Versteck heraus. Er verwischte alle Spuren, die einem Waldläufer verraten könnten, dass er hier gewesen war, dann lief er geduckt in die Richtung, aus der die Krieger gekommen waren.
Ein letztes Mal sah er zurück. Er hoffte inständig auf Neuigkeiten von Yodda und Kaithryn, doch seit seiner Flucht hatte er kein Wort über ihren Verbleib gehört. Waren sie gestorben, um ihm die Flucht zu ermöglichen? Der Gedanke war zu furchtbar. Nylian hatte immer damit leben müssen, dass er als Elf seine Freundinnen eines Tages würde begraben müssen, doch er hatte gehofft, dass ihnen mehr Zeit blieb.
Er lauschte aufmerksam. In weiter Ferne erklang ein neuer Warnruf eines Vogels, woanders nahm ein Specht sein schnelles Klopfen auf. Doch die Jäger waren überall. Wenn er je aus dem Wald entkommen wollte, würde Nylian Hilfe brauchen, die Hilfe von vier flinken Hufen.
Er brauchte Aidalos, doch der Hengst war in der Zeltstadt, unter dem wachsamen Blick von Imras Azmaek.
~ ⁂ ~
Eine ihrer vier Wachen war Haikalos. Das machte Yodda Mut, als sie aus dem Zelt trat. Der blonde Elb lächelte sie an und heftete sich dann, gemeinsam mit einem kräftigen Zwerg, auf ihre Fersen, als sie ins Lager hinaus ging.
Sie fühlte sich noch immer wie eine Gefangene. Yodda war unsicher, sie war sich ihrer beiden Begleiter nur allzu deutlich bewusst. Doch niemand fragte, wohin sie gehe. Haikalos und der Zwerg folgten ihr einfach nur stumm.
Yodda schlug den Weg zu den Stallungen ein. Kurz bevor sie die hastig errichteten Holzställe erreichte, hörte sie, wie jemand ihren Namen rief.
Sie drehte sich um und grinste erleichtert, als ein kräftiger Zentaur auf sie zu getrottet kam.
„Colum!“, rief sie erfreut und der Zentaur zog sie in eine Umarmung.
„Yodda! Wie geht es dir? Ich habe die schlimmsten Gerüchte gehört, und dann wollte man mich nicht zu euch lassen.“
In knappen Worten erzählte Yodda Colum von Azmaeks Anschuldigung und Nylians Flucht. Das Gesicht des Zentauren entgleiste mehr und mehr.
„Das ist furchtbar“, erklärte Colum dann, ehe er zu Haikalos und dem Zwerg sah. „Und ihr glaubt diese Märchen auch noch?“
„Ein Aurasichtiger kann sich nicht irren“, sagte Haikalos ruhig. „Ich glaube allerdings, dass die Mädchen wirklich nicht davon wussten.“
Colum schüttelte entgeistert den Kopf. Yodda umfasste sein Handgelenk. Sie hatte Angst. Wenn Colum allzu offen an Azmaeks Geschichte zweifelte, könnte ihn das gleiche Schicksal ereilen.
„Lass gut sein“, murmelte sie halblaut.
„Und jetzt ist der arme Junge ganz alleine im Wald?“, fragte Colum wütend. „Nylian ist doch fast noch ein Kind! Mit diesem Azmaek habe ich ein großes Hühnchen zu rupfen!“
„Colum, nein!“, sagte Yodda, doch der Zentaur schob sie zur Seite und baute sich bedrohlich vor Haikalos auf.
„Und wahrscheinlich hat man ihn nicht einmal zu Wort kommen lassen, um sich zu verteidigen! Es reicht, wenn einer den Finger ausstreckt, gleich tun es alle!“
„Vorsichtig, Tiermensch!“, zischte der Zwerg und griff nach einem schweren Streitkolben, den er über der Schulter trug. „Würd' mich nicht wundern, wenn euresgleichen auf der Seite von diesem falschen Grafen steht!“
„Ruhig, Kairack“, sagte Haikalos und legte dem Zwerg eine Hand auf die Schulter. „Sie sind so geboren, er kann nichts dafür.“ Laut sagte der Elb zu Colum: „Du wirst zurücknehmen, was du gesagt hast, oder wir verbannen dich genau wie den Elfen!“
„Colum!“, rief Yodda entsetzt aus. Ihr Herz raste vor Angst.
Auf dem Gesicht des Zentauren lag ein Ausdruck, der ihre Angst noch verstärkte. Statt wütend wirkte Colum absolut gefasst und ruhig, doch Hass sprach aus seinen sonst so sanften, braunen Augen.
„Ich werde nicht zulassen, dass ihr so mit meinen Freunden umgeht“, sagte Colum mit leiser Stimme. „Nylian ist unschuldig! Ich sage es noch tausend Mal, wenn es sein muss!“
„Einmal reicht“, entgegnete Haikalos kalt. „Azmaek wird davon erfahren. Geh, Tiermensch. Noch bleibt dir Zeit, deine wertlose Haut zu retten.“
Colum schnaubte und stampfte mit dem Huf auf. Einen Moment sah es aus, als wolle er Elb und Zwerg angreifen, doch dann drehte er sich um und trottete, nachdem er Yodda einen letzten Blick zugeworfen hatte, davon.
Yodda sah ihrem Meister nach, der zwischen den Zelten außer Sicht geriet. Er humpelte noch immer leicht. Auf einer Flucht hätte er keine Chance.
„Bitte!“, flehte sie Haikalos an. „Ihr dürft ihn nicht töten! Er hat es nicht so gemeint, er ist nur -“
„Impulsiv, ich weiß“, sagte Haikalos ruhig. „Tiermenschen sind emotional und kurzsichtig, er wird früher oder später erkennen, dass wir Recht haben. Doch bis dahin brauchen wir seinesgleichen hier nicht, Unruhestifter, die Lügen verbreiten.“
Yodda schluckte und gab sich alle Mühe, ihre Verzweiflung nicht allzu offensichtlich zu zeigen.
„Wir sagen Azmaek, was vorgefallen ist“, verkündete Haikalos. „Doch das hat Zeit. Damit sollte dein Freund genug Gelegenheit haben, seine Worte zu überdenken und zur Vernunft zu kommen.“
Yodda nickte und musste ihren Wachen den Rücken zudrehen. Einen Augenblick kämpfte sie mit den Tränen. Würde nun jeder ihrer Freunde sie nach und nach verlassen, gefangen in diesem Netz aus Lüge und Täuschung?
Sie brauchte einen Moment, um sich an ihr eigentliches Ziel zu erinnern. Gefolgt von Haikalos und Kairack lief sie auf die Ställe zu. Die unterschiedlichsten Reittiere waren hier untergebracht, Pferde bildeten die große Mehrheit. In einem der hintersten Ställe stand der falbe Hengst mit der schwarzen Mähne. Aidalos wieherte, als er Yodda erkannte, und trat gegen das klapprige Gatter.
„Na, mein Freund?“ Yodda lächelte dem Pferd traurig zu. Aidalos war gestriegelt und die Futterkrippe gefüllt, doch ihm fehlte Bewegung. Ungeduldig trat er gegen den Holzverschlag seines Gatters und schüttelte die Mähne.
„Ich fürchte, einen Ausritt können wir dir nicht erlauben“, sagte Haikalos sanft.
„Ich kann ihn alleine auch gar nicht reiten“, sagte Yodda und reckte sich, um Aidalos den Hals zu tätscheln. „Ich bin viel zu klein. Aber vielleicht findet sich jemand, der ihn ein Stück auf der Wiese herumführt oder auf ihm reitet?“
Sie konnte sehen, wie Mitleid in Haikalos' Augen trat, als der Elb das große Pferd betrachtete. Er nickte. „Wartet hier. Ich werde einen Stallburschen beauftragen.“
Yodda nickte und setzte sich auf eine kleine Holzbank. Der Zwerg, Kairack, ließ sie keine Sekunde aus den Augen. Er hatte schlammbraune Haare und Augen, die wie Gold schimmerten. Er trug ein Kettenhemd über einer Lederkluft, was Yodda zu der Vermutung verleitete, dass er ein Krieger war – Zwerge waren für gewöhnlich Wissenschaftler, wenn sie keine Bergleute geblieben waren. Sie rührte nicht einen Finger, bis Haikalos mit einem menschlichen Stalljungen zurückkehrte, der Aidalos auf die Wiesen führen würde. Yodda sah zu, wie der Hengst gesattelt wurde. Aidalos warf glücklich den Kopf nach oben und scharrte mit den Hufen im Stroh.
„Er kann es kaum erwarten.“ Haikalos lächelte. „Er wird seinem Namen gerecht.“
Der junge Mensch mit rötlich-braunen Haaren und sanften, grünen Augen schwang sich in den Sattel. Aidalos legte einen Moment die Ohren an – er mochte keine fremden Reiter – doch der Wunsch nach Freiheit obsiegte und das Pferd trottete folgsam aus dem Stall und hinaus auf die Wiesen vor der Zeltstadt.
Yodda sah ihnen eine Weile hinterher, dann wandte sie sich zum Gehen.
„Du bist doch nicht der gleichen Meinung wie dein Freund, oder?“, fragte Haikalos unvermittelt, als sie schon fast wieder am Zelt angekommen waren.
„Colum?“, fragte Yodda.
„Der Zentaur, genau“, sagte Haikalos. „Du musst wissen, dass Azmaek den Grafen schon lange verfolgt. Nylian ist durchtrieben, er spielt mehr als nur ein doppeltes Spiel. Deswegen hat Azmaek euch so schnell vergeben. Er weiß, dass der Graf ein Meister der Täuschung ist.“
Yodda nickte stumm.
„Ihr müsst ihm vertrauen“, fuhr Haikalos fort. „Er mag ein Fremder sein, aber er weiß besser als ihr, wozu euer Freund fähig ist.“
~ ⁂ ~
Der nächste Morgen, noch vor den ersten Sonnenstrahlen: Ein Junge hastete über die Wiesen und auf die Zeltstadt zu. Es war der Stallbursche, der mit Aidalos betraut worden war. Er lief ungeschickt, humpelnd.
Der Stallmeister, ein untersetzter Elf mit kurzen, schwarzen Haaren, kam zum Eingang des Stalls geeilt, als der Junge diesen erreichte.
„Wo warst du so lange, Faulpelz?“, fuhr der Meister den Stallburschen an. „Die Tröge sind leer, das Wasser ist dreckig – was hast du getrieben, du Nichtsnutz? Hast dir wohl wieder eine Flasche Wein gestohlen!“
„Nein, Herr!“, stieß der junge Mensch zwischen zwei Atemzügen hervor. Mit der einen Hand hielt er sich die schmerzenden Rippen, mit der anderen stützte er sich im Türrahmen ab. Die Wut wich aus dem Gesicht des Stallmeisters und machte Besorgnis Platz. Der Elf registrierte die verschmutzte Kleidung des Jungen, die Blätter im hellen Haar.
„Was ist geschehen?“, fragte er.
Der Stallbursche rang nach Atem. „Das Pferd … von diesem Elfen … dem, der der Graf ist … hat mich abgeworfen!“
„Bist du verletzt?“ Der Stallmeister eilte an die Seite seines Burschen. Er kannte den Jungen als guten Reiter, nahm nur solche als Burschen auf, die gut mit Tieren umgehen konnten. Der Junge war ausgesprochen gut gewesen für einen Menschen, was den Meister zu der Vermutung verleitet hatte, sein junger Schützling habe elfische Vorfahren.
„Nein, nicht sehr. Ich hatte mich zuerst verirrt.“ Langsam kam der Junge zu Atem. „Das ist es nicht, was ich Euch sagen wollte: Ich habe Reiter gesehen! Fünf Reiter auf schwarzen Pferden, sie sind hierher unterwegs!“
Der Stallmeister fuhr zusammen. „Die Boten des Grafen! Hast du die gesehen?“
Mit aufgerissenen Augen nickte der Junge.