Imras Azmaek ließ alle Bewohner der Zeltstadt außerhalb der temporären Siedlung antreten. In der Zwischenzeit hatte er offenbar das Kommando übernommen und niemand stellte sich ihm in den Weg. Die fünf Reiter näherten sich wieder von der Mitte des Tals aus und hielten an fast der gleichen Stelle. Es könnten dieselben Reiter sein, doch durch ihre verhüllende Rüstung konnte Kaithryn das nicht mit Sicherheit sagen. Sie beobachtete sowohl die Reiter als auch Azmaek, doch keiner ließ irgendein Zeichen erkennen. Sie fragte sich, ob die Reiter wussten, dass Azmaek ihr Anführer war, oder ob sie ähnlich wie Haikalos im Dunkeln gelassen wurden.
„Hört nun die Botschaft, die der ehrenwerte Graf von Amrais euch zukommen lässt!“, rief der mittlere Reiter mit lauter Stimme und entrollte eine Schriftrolle.
„Die Wettkämpfe werden wie geplant ausgetragen“, verkündete der Bote des Grafen. „Es gibt drei Kampfplätze. Alle Magier werden in den Westen gehen. Alle Krieger in den Norden. Alle Wissenschaftler in den Osten. Ihr habt den heutigen Tag, um aufzubrechen, danach werdet ihr in euren jeweiligen Lagern bleiben. Alle anderen, die keine Wettkämpfer sind, bleiben in der Zeltstadt und werden sie nicht verlassen.“
Diesmal schwieg die Menge, nur einige Personen im Hintergrund murmelten zornig.
„Wir werden den besten Teilnehmer jedes Berufs ermitteln. Erst, wenn die endgültigen drei Sieger feststehen, wird das Tal wieder geöffnet.“ Der Reiter rollte das Pergament wieder zusammen. „Diese drei Sieger dürfen das Tal verlassen.“
Kat hörte förmlich, wie die Versammelten kollektiv nach Luft schnappten. Sie warf Yodda einen Blick zu. „Hat er gerade gesagt -“
Yodda schüttelte fassungslos den Kopf.
„Was soll das heißen?“, brüllte nun jemand hinter ihnen. Die beiden Mädchen wichen zur Seite, als Haikalos sich an ihnen vorbei drängte. „Euer Graf hat kein Recht, uns hier für alle Zeit gefangen zu halten!“
„Niemand wird gefangen gehalten“, antwortete der mittlere Reiter mit kaltem Zischen. „Die Besten jeder Disziplin werden im fairen Wettkampf bis auf den Tod ermittelt, die Sieger sind frei.“
„Was?“, entfuhr es Haikalos.
Yodda tastete nach Kats Hand. Haikalos wühlte sich weiter durch die Menge. „Das kann nicht euer Ernst sein! Niemand hier wird jemand anderen töten! Euer Graf kann sich seine Bedingungen in den Allerwertesten schieben! Er soll uns sofort freilassen!“
„Ich fürchte, das wird er nicht tun“, sagte der mittlere Reiter.
Haikalos hatte die Gruppe aus fünf Reitern erreicht und stürmte schimpfend auf sie zu. Wie ein Mann zogen die vier flankierenden Reiter ihre Schwerter. Der Stahl sang leise, dann zischte es, als ein Schwert durch die Luft glitt.
Haikalos' Stimme brach abrupt ab. Kaithryn schrie auf und wandte den Blick ab, aber trotzdem hatte sich das Bild in ihr Gedächtnis gebrannt: Haikalos, der mitten im Lauf strauchelte, der Kopf kippte zur Seite. In der plötzlichen Stille konnte sie den dumpfen Aufprall noch hören.
„Was ist geschehen?“, fragte Yodda, doch Kat antwortete nicht.
„So ergeht es jedem, der sich dem Grafen widersetzt!“, verkündete der mittlere Reiter laut. Die vier anderen reckten ihre Schwerter drohend in den Himmel, über den Stahl der einen Waffe liefen einige Tropfen Blut. „Ihr habt diesen einen Tag, um eure jeweiligen Lager aufzusuchen. Magier im Westen, Krieger im Norden, Wissenschaftler im Osten. Alle anderen bleiben in der Zeltstadt. Wenn ihr euch weigert, werdet ihr gezwungen.“
Wenig später brummte die Zeltstadt wie ein Bienenstock. Yoddas und Kaithryns Wachen waren weg, vermutlich, um ihre eigenen Angelegenheiten zu regeln. Die Mädchen hatten sich in ihr Zelt zurückgezogen und Yodda hatte, vielleicht, weil sie sonst nichts zu tun wusste, einen Tee aufgesetzt.
„Ich kann es nicht glauben“, meinte sie leise. „Glaubst du, die anderen werden darauf hören und wirklich … bis zum Tod kämpfen?“
„Bestimmt nicht!“, sagte Kat. Gleichzeitig hatte sie größte Zweifel. Sie kannte kaum jemanden hier, und keinen anderen Magier außer vielleicht noch Azmaek. Es reichte, wenn ein einziger Magier verrückt genug war, um die Bedingungen des Grafen zu akzeptieren und nach und nach alle anderen Zauberer zu töten. Sie hatte Angst.
„Ich wünschte, Nylian wäre hier“, murmelte Yodda.
„Ich nicht. Er kriegt den ganzen Wahnsinn hier nicht mit. Solange er sich im Wald versteckt, kann er vielleicht entkommen.“ Kaithryn seufzte und stand auf, um in dem kleinen Zelt auf und ab zu gehen. Sie fuhr sich durch die kurzen Haare. „Das ist doch alles verrückt!“
„Ich werde nicht kämpfen!“, entschied Yodda und zog die Beine vor die Brust. „Ich möchte mal wissen, wie sie uns dazu zwingen wollen!“
Kaithryn blieb mit dem Gesicht zur Zeltwand stehen und atmete tief durch. Die Plane roch muffig, draußen regnete es. Trotz des beständigen Tröpfelns war es draußen hell, freundlich und warm. Die Ereignisse der letzten Tage erschienen ihr wie ein verwirrender Alptraum.
„Ich möchte auch nicht kämpfen“, sagte sie schließlich. „Ich habe keine Chance.“
„Bleiben wir doch einfach hier“, schlug Yodda vor. „Wir tun so, als wären wir Köche oder Stallburschen oder so. Dann müssen wir überhaupt nicht kämpfen!“
Kaithryn zögerte. Sie kehrte zu ihrer Freundin zurück und setzte sich neben sie.
„Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee wäre“, sagte sie mit düsterer Stimme. „Hast du nicht zugehört? Der Graf lässt nur die drei Gewinner gehen.“
„Aber … das heißt ja …“, stotterte Yodda, „die Restlichen müssen hierbleiben? Aber es sind doch nur Helfer, sie haben nichts mit der Sache zu tun!“
„Er wird sie vermutlich alle töten“, überlegte Kaithryn. Sie schauderte. „Ich will nach Hause!“
„Ich auch“, gestand Yodda. „Ich wünschte, wir wären niemals aufgebrochen.“
Plötzlich erklangen Schritte vor ihrem Zelt, dann wurde die Plane zurückgeschlagen und Kairack stürmte herein. Der Zwerg blieb wie angewurzelt stehen, als er die beiden jungen Frauen entdeckte.
„Verzeihung“, sagte er, dann drehte er sich um und brüllte „Sie sind hier!“ zu jemandem, der noch draußen stand. Vermutlich die anderen beiden Wachen.
„Wo sollten wir auch sonst sein?“, fragte Yodda kopfschüttelnd.
Kairack zuckte mit den Schultern. „Man kann nie wissen, wer bei dem Chaos hier untertauchen will.“
Der Zwerg rückte seine Kleidung zurecht und lächelte dann schwach. „Azmaek hat angeordnet, dass alle in der Zeltstadt bleiben. Wir werden uns den Bedingungen des Grafen nicht beugen.“ Nachdem beide Mädchen genickt hatten, räusperte er sich. „Ich bin dann mal wieder draußen. Entschuldigt die Störung.“
„Für einen Gefängniswärter ist er ziemlich höflich“, meinte Kat, nachdem der Zwerg gegangen war.
Yodda zuckte mit den Schultern und machte sich daran, den Tee vom Feuer zu nehmen.
„Ich verstehe Azmaek nicht“, fuhr Kaithryn fort. „Wenn er der Graf ist, wieso widerspricht er seinen eigenen Anweisungen?“
„Vielleicht ist es ein Trick, damit wir ihn nicht verdächtigen. Würde ich dem alten Lügner zutrauen“, brummte Yodda halblaut, damit die Wachen sie nicht hören konnten. „Oder er hat noch ein anderes Ziel als den Kampf bis auf’s Blut.“
„Ich hoffe es!“, flüsterte Kat, obwohl sie sich nicht sicher war, ob ihr der unbekannte Plan wirklich gefallen würde.
~ ⁂ ~
Diesmal setzte der Vogelgesang nicht rechtzeitig aus. Nylian hörte die Schritte ohne Vorwarnung und sah sich panisch um. Es war zu spät, um noch ein gutes Versteck zu finden. Eilig ging er hinter einem breiten Baum in Deckung. Mit geschlossenen Augen lehnte er sich an die Rinde. Wenn er viel Glück hätte, könnte er um den Baum herumwandern, doch die Chance dafür war schlecht. Die Jäger waren leise, es ertönten keine Rufe. Nylian wusste nicht einmal, wie viele es waren.
Die Schritte kamen näher. Nylian konnte zwei verschiedene Rhythmen hören, doch die Schritte waren so laut, dass es vermutlich mehrere Männer im Gleichschritt waren. Sie waren gut, möglicherweise war ein Waldläufer oder Jäger ihr Anführer.
Mit dem Rücken am Baum tastete Nylian nach einem Pfeil, den er auf die Sehne legen konnte. Er würde nicht kampflos aufgeben.
Zielsicher kamen die Schritte auf sein Versteck zu. Nylian atmete tief durch. Dann sprang er nach vorne und zielte.
Der Elf stockte. Ihm gegenüber stand keine Mannschaft von Jägern, sondern ein großes, hellbraunes Tier.
Aidalos wieherte glücklich.
„Aidalos!“, rief Nylian aus. „Ich hätte dich beinahe erschossen!“
Das Pferd kümmerte sich nicht um den gespannten Bogen, sondern trottete zu Nylian und rieb den Kopf an seiner Schulter.
Nylian legte die Arme um den Pferdehals und vergrub das Gesicht in Aidalos' Schulter. Der falbe Hengst war gesattelt und gezäumt, nur von einem Reiter war keine Spur zu sehen.
„Wie hast du mich gefunden?“, fragte Nylian, während er automatisch den Sitz des Sattels überprüfte. Das Fell darunter war von altem Schweiß verklebt. Aidalos trug den Sattel schon eine ganze Weile, bestimmt einen Tag lang. Nylian steckte Pfeil und Bogen weg, dann löste er die Gurte und rieb den Hengst mit ein wenig trockenem Gras ab.
Aidalos schnaubte zufrieden und knabberte an einem nahen Busch. Wie er hierher gelangt war, konnte er Nylian natürlich nicht verraten.
~ ⁂ ~
Das penetrante Zirpen der Grillen mischte sich in die abendlichen Geräusche des Lagers. Nach den Tagen der ängstlichen Stille erschien es heute nahezu ohrenbetäubend laut. Viele der Wettkämpfer hatten ihre Lagerfeuer draußen entfacht, andere waren hinzugetreten, sodass an jeder Ecke eine kleine Versammlung um ein Feuer stand. Wer spät abends noch durch das Lager lief, so wie Kat und Yodda, den lockte von allen Seiten der Duft nach saftigem Fleisch, Maiskolben oder ein freundlicher Nachbar mit einer Kostprobe von diesem oder jenem Alkohol.
Die jungen Frauen hatten lange in ihrem Zelt gesessen und darüber gerätselt, aus welchem Grund Azmaek seinen eigenen Anweisungen widersprach und sie hierbehalten wollte. Irgendwann war es Kat zu viel geworden, sie hatte sich bewegen müssen. Yodda war ihr kurz darauf zu den Ställen gefolgt, wo sie erfuhren, dass Aidalos am gestrigen Tag seinen Reiter abgeworfen hatte und spurlos verschwunden war. Seitdem hatte es keine Spur von Nylians Pferd gegeben.
Nach einigen Stunden fruchtloser Suche in Sichtweite der Zeltstadt waren sie nun auf dem Rückweg, wie immer von ihren Wachen begleitet. Haikalos war durch einen ihnen unbekannten Elfen ersetzt worden.
„Kairack!“, rief ihnen ein Zwerg von einem der Feuer zu. Kairack erkannte den anderen offenbar und lief zu ihm. Yodda und Kat folgten langsamer.
„Agran, wie geht’s?“, fragte Kairack und klopfte dem Zwerg auf die Schulter. Beide Zwerge hatten die gleichen braunen Haare und Augen.
„Mein Bruder“, stellte Kairack den Fremden vor. „Er ist Mechaniker.“
„Mechaniker?“, wiederholte Yodda und grinste. „Ich auch! Na ja, ich will es werden.“
„Eine sehr gute Berufswahl“, lobte Agran. „Wer ist dein Meister?“
„Colum ó Fheargail“, antwortete Yodda, sofort verdüsterte sich der Blick des Zwergs.
„Ist das nicht dieser Tiermensch?“, fragte Agran.
Yodda nickte. „Er hat ein gutes Herz.“
„Dann will ich nichts gesagt haben.“ Agran zuckte mit den Schultern. „Er hat bestimmt genug unter Vorurteilen zu leiden.“
„Er lässt es sich nicht anmerken“, murmelte Yodda. Kat fragte sich, wo Colum wohl gerade war und was er tat. Sie fühlte sich im Stich gelassen, jetzt, da nur noch Yodda bei ihr geblieben war.
In diesem Moment zerriss ein gellender Schrei die Nacht, die Stimme einer Frau. Kaithryn wirbelte herum und das Schwert sprang wie von selbst in ihre Hand.
„Was ist da los?“, rief Kairack, der plötzlich einen schweren Streitkolben in den kräftigen Händen hielt. Kat spürte, wie Yodda ihren Ärmel umklammerte.
Irgendwo in der Dunkelheit zwischen den einzelnen Feuern herrschte ein Aufruhr, doch Kat konnte nichts erkennen. Wieder erklang der Schrei der Frau, der kurz darauf abrupt abbrach. Etwas bewegte sich zwischen den Zelten, es war schnell.
Dann sprang ein Schatten auf Kat zu. Sie riss das Schwert im letzten Moment vor das Gesicht und blockte eine weiße Hand mit langen, schwarzen Fingernägeln daran ab, die an Krallen erinnerten. Zu der Hand gehörten ein Arm und ein Körper mit einem vor Wut verzerrten Gesicht. Mit gebleckten Zähnen fauchte der Vampir Kat an und stieß sie von sich, ungeachtet der Schwertschneide, die einem normalen Lebewesen die Arme aufgeschlitzt hätte.
Kaithryn stolperte nach hinten und fiel, Yodda mit sich zerrend. Doch bevor der Vampir sich auf sie stürzen konnte, sprang Kairack vor und schwang den Streitkolben gegen den untoten Angreifer.
„Verpiss dich!“, brüllte der Zwerg. Der Vampir verschwand tatsächlich in der Dunkelheit, ledriges Flattern war zu hören. Überall im Lager erklangen nun laute Schreie.
„Los, steh auf!“ Kaithryn zog Yodda auf die Füße und zerrte ihre Freundin in den Schatten einer Zeltwand. Kairack, Agran und die restlichen drei Wachen rannten in die Dunkelheit, um nach denen zu sehen, die geschrien hatten. Das ganze Lager war in Aufruhr, Warnrufe und Schrei ertönten aus allen Richtungen.
„Das ist Azmaek!“, rief Yodda. „Er will uns zwingen, dass wir uns aufteilen.“
„Ruhe!“, herrschte Kaithryn sie an. Sie zog ihre kleinere Freundin an sich und kauerte im Dunkeln, das Schwert mit einem Arm in die Nacht gestreckt, eine Drohung gegen alles, was da lauerte und angreifen wollte.
„Der Bote des Grafen hat es gesagt, wenn wir uns nicht aufteilen, zwingt er uns!“, jammerte Yodda halblaut.
Mit einem Ruck wurde das Zelt in ihrem Rücken weggerissen. Der Windzug zerzauste beiden Mädchen die Haare. Kat und Yodda sprangen auf und rannten blindlings los. Kat hielt auf einen fernen Feuerschein zu, Yodda schrie wortlos.
Etwas schlug mit voller Macht gegen ihre ineinander verschränkten Hände und zwang die jungen Frauen, einander loszulassen. Kat spürte kalten Stoff über ihre Schultern streichen. Sie warf sich zur Seite und rollte durch kaltes, taubenetztes Gras.
„Verlasst das Lager!“, zischte eine kalte Stimme, der jede Menschlichkeit fehlte. „Wer im Lager bleibt, stirbt heute Nacht.“
„Yodda!“, rief Kaithryn, als sie auf die Beine kam. Sie hörte Bewegung, huschende Bewegung. Dann einen Schrei: „Kaaaat!“
„Yodda!“ Kaithryn stürmte dem dünnen Schrei nach, der von weit weg gekommen war. Der Atem brannte ihr in der Lunge. Sie lief blind weiter, stolperte über Zeltplanen, Seile und Körper, die auf dem Boden verstreut lagen, und rief wieder den Namen ihrer Freundin.
„Kat!“ Yoddas Stimme war schon leiser. Sie konnte unmöglich so schnell rennen, jemand musste sie tragen. Jemand – oder etwas.
Kat ballte die Hände zu Fäusten, umklammerte den Schwertgriff und rannte vorwärts. Die Hindernisse wurden weniger.
„Yodda!“, rief sie wieder.
Keine Antwort. Sie wurde langsamer, lauschte. Hinter ihr ertönten noch Schreie, doch der Lärm verging. Sie musste das Lager verlassen haben. Um sie her war es dunkel, auch die Grillen zirpten nicht mehr. Hilflos drehte sich Kat im Kreis: „Yodda!“
Sie erhielt keine Antwort, ihre Stimme verklang in der finsteren Nacht. Sie war allein.