Sie kam in einer schlammigen Pfütze zu sich und ihr dröhnte der Schädel. Im ersten Moment fragte sich Yodda, welcher Wahnsinn sie dazu getrieben hatte, so viel Alkohol zu trinken. Doch noch im Aufsitzen wurde ihr zweierlei klar: Erstens, es war kein Kater, den sie hatte, denn abgesehen von den Kopfschmerzen ging es ihr blendend, und zweitens, sie hatte nicht getrunken. Auf einem Schlag erinnerte sie sich an den Angriff.
„Kaithryn!“, schrie sie und sprang auf.
„Ganz ruhig, meine Dame!“, erklang eine Stimme in der Nähe. „Nicht so schnell.“
Sie drehte sich um und stand einem Zwerg gegenüber. Yodda verengte die Augen. „Agran?“
Der Zwergenmechaniker nickte. „Yodda, nicht wahr?“
„Wo sind wir?“, fragte sie.
„Ich weiß es nicht. Im Osten. Ich glaube, im Wissenschaftslager.“
Yodda sah sich um. Zelte, hoch aufragende Bergwände auf der einen und das sich öffnende Tal auf der anderen Seite. Ganz klein konnte sie einen dunklen Fleck erkennen, wo das Zeltlager gestanden hatte. Rauch stieg dort auf. Das Lager, in dem sie sich nun befand, bestand aus schlichten, weißen Zelten, hier und da lag ein Körper wie leblos auf einem der Wege – doch sie atmeten noch, wie Yodda schnell erkannte.
„Was ist mit meiner Freundin?“, bedrängte sie Agran.
„Ich weiß es nicht. Die meisten sind einfach hier aufgewacht“, berichtete Agran. „Es sind ausschließlich Wissenschaftler. Ich denke, deine Freundin wird nicht hier sein.“
„Dann muss ich sie suchen gehen!“ Yodda wollte losstürmen, doch Agran hielt sie fest.
„Nein, warte! Die Wiesen sind nicht sicher.“
„Was soll das heißen?“, fuhr Yodda ihn an und riss sich los.
„Werwölfe!“, sagte Agran. Yodda erstarrte in der Bewegung. „Werwölfe sind auf den Wiesen. Sie kommen nicht in die Lager, aber sie greifen an, wenn man es verlassen will.“
Yodda sah wieder auf die Wiesen. Tatsächlich, dort bewegten sich dunkle Punkte durch das Gras.
„Werwölfe?“ Trotz aller Indizien zweifelte sie noch. „Am Tag?“
„Es sind hauptsächlich normale Wölfe, doch ein Alpha kontrolliert sie.“ Agran streckte eine Hand aus, um sie notfalls wieder festhalten zu können. „Wir sind hier gefangen.“
„Gefangen! Gefangen!“, schimpfte Yodda, aber die Gedanken an einen Ausbruch verschob sie auf später. „Ich hab dieses Tal so satt! Wenn ich diesen Grafen treffe, kann der was erleben!“
Später am Tag versammelten sich die Wissenschaftler mehr zufällig im Lager. Yodda war mit Agran herumgelaufen und hatte die Bewusstlosen geweckt. Es waren tatsächlich nur Wissenschaftler im Lager, allerdings nicht alle. Von Colum war keine Spur zu entdecken, auch andere vermissten einen Schüler oder Freund. Yodda befürchtete das Schlimmste für jene, die nicht hier waren – es sah nicht so aus, als würde in der Zeltstadt noch etwas leben.
Später fand sie sich in einem großen Kochzelt wieder, wo sie ihr Wissen über Kräuter dazu nutzte, einen großen Eintopf zu machen. Vom Duft nach warmen Essen angelockt trafen bald die Wissenschaftler ein, insgesamt 19 Personen, hauptsächlich Zwerge. Es gab drei Menschen und einen schweigsamen, schlaksigen Elben, der sich der Archäologie verschrieben hatte.
Die meisten Wissenschaftler waren ohne jede Ausrüstung hier gelandet, viele waren mit nichts als der Kleidung am Leib aus der Zeltstadt geflohen. Jedoch hatten viele Ausrüstungstaschen – Kräuterbeutel oder Taschen voller Schrauben, Aufzeichnungen und Blaupausen – auf rätselhafte Weise den Weg ins Lager gefunden. Doch Schalen oder Wasserschläuche hatten die wenigsten mitnehmen können, und solche Alltagsdinge fehlten ihnen schmerzlicher als jede teure Ausrüstung. Eine junge Philosophin mit struppigem, goldgelbem Bart und wilden Augenbrauen hatte eine ganze Tasche voller Kleinkram retten können und verteilte ihre Phiolen, Kolben und Gläser, damit andere essen konnten.
„Du kannst mich Norai nennen“, sagte sie zu Yodda, die ebenfalls einen Kolben als Schüsselersatz annehmen musste.
„Yodda, ich bin Heilerin und will Mechanikerin werden.“
„Interessante Wahl. Warum diese beiden Zweige?“
Yodda zuckte mit den Schultern. „Basteln mochte ich schon immer – Dinge herstellen, Handwerk, Mechanik. Die Ausbildung zur Heilerin habe ich nur gemacht, weil es in meinem Dorf keine andere Stelle gab. Ich hab auch eine Weile im Krankenhaus gearbeitet, bis ich einen Meister gefunden hab.“
„Wo kommst du her?“
„Aus Helmsieg.“
„Das ist ja in der Nähe! Aber ich wusste nicht, dass es in Helmsieg Mechaniker gibt.“
„Gab es ja auch zuerst nicht.“ Yodda unterdrückte ein Seufzen. Hatte die Zwergin ihr überhaupt zugehört? „Colum ist aus der Casta-Wüste gekommen.“
„Oh, ein Tiermensch?“, fragte Norai. Yodda nickte. „Faszinierend.“
Yodda hätte gerne gefragt, was Norai denn nun faszinierend fand, doch in diesem Moment stand ein ältlicher Zwerg auf. Haar und Bart waren obsidianschwarz, das Gesicht von tiefen Furchen wie von Gesteinsadern durchzogen. Yodda hatte gehört, dass er 52 Jahre alt sein sollte, was ihn definitiv zum ältesten Zwerg in der Runde, wenn nicht sogar im ganzen Land machte.
„Liebe Freunde“, begann der Zwerg. „Ich bin Gibur Kroblis. Forscher aus Zwickbach, doch ganz Lirhajn ist meine Heimat. Ich möchte einige Worte an euch richten.“
Auch die letzten Gespräche verstummten.
Der alte Forscher straffte sich. „Wie wir alle wissen, hat der Graf von Amrais die Bedingung erlassen, dass nur drei Personen dieses Tal lebend verlassen dürfen. Diese drei sollen die Besten ihrer Zunft sein und im Kampf auf Leben und Tod ermittelt werden.“
Die Wissenschaftler ließen die Blicke über ihre Konkurrenz schweifen. Yodda registrierte, wie Norai nervös schluckte.
„Ich sage, dass wir uns diesen Bedingungen nicht stellen!“, donnerte Gibur. „Seit Jahrhunderten setzen sich Wissenschaftler aller Arten für Frieden und Gleichheit ein. Es ist der Geist der Wissenschaft, dass Heiler, Geistesforscher und Forscher wie ich, Mechaniker und alle anderen zusammenhalten, dass wir nicht eine Kunst über die andere erheben. Es wäre unverantwortlich von uns, dieses hohe Gleichgewicht durch den Zufall zerstört zu wissen – durch einen Mechaniker, der uns unter Tonnen von Stein begräbt oder einen Kräuterkünstler, der uns vergiftet!“
Bei diesen Worten huschten misstrauische Blicke zwischen Yodda und dem Eintopf hin und her. Sie erwiderte die stumme Anklage trotzig und schob sich demonstrativ einen weiteren Löffel in den Mund.
„Wir sind Wissenschaftler“, wiederholte Gibur. „Im Grund haben wir nur eine Wahl: Wir werden ausbrechen! Wir werden diese Berge aufsprengen und den Plan dieses Grafen durchkreuzen!“
Ein paar der jüngeren Zwerge brüllten zustimmend. Andere hatten Bedenken.
„Wie wollt ihr die Berge durchbrechen?“, fragte Agran. „Das ist massiver Stein.“
„Es gibt eine dünnere Stelle“, hörte Yodda sich sagen. Sie waren ganz nah an der Stelle, wo sich der Pass befunden hatte. Jener, den sie gemeinsam mit Nylian, Kat, Colum und Cirdrim überquert hatte. Das schien Ewigkeiten her zu sein, dabei war kaum eine Woche vergangen. „Ich kenne einen Pass. Dort kann der Fels nicht viel breiter als vielleicht hundert Ellen sein.“
„Selbst, wenn.“ Agran klang besänftigt, aber nicht beruhigt. „Wir würden einige Wochen brauchen. Der Graf von Amrais wird uns doch beobachten!“
„Ich habe einen anderen Vorschlag“, wandte Gibur ein. „Wir täuschen den Grafen. Wir bauen einen Sturmturm. Von Ferne muss es wirken, als würden wir uns auf einen Kampf vorbereiten, einen Kampf nach Art der Mechaniker. Doch der Turm, einmal fertiggestellt, könnte den Stein durchbrechen und uns innerhalb weniger Minuten einen Weg in die Freiheit öffnen.“
Agran runzelte zweifelnd die Stirn.
„Wird er nicht Verdacht schöpfen, wenn wir unsere Zeit damit verschwenden, eine Kriegsmaschine zu bauen?“, fragte ein anderer Zwerg.
„Das könnte funktionieren“, meinte Norai. „Doch wir müssen es schlau anstellen.“
„Und das werden wir“, bestätigte Gibur. Er sah Yodda an. „Du, welche Kunst übst du aus?“
„Yodda, Sir. Ich bin Heilerin und Mechanikerin in Ausbildung.“
„Ausgezeichnet. Hier ist der Plan: Wir tun, als würden wir uns nach einzelnen Künsten aufteilen. Die Heiler ziehen in einen Teil des Lagers – außer dir, Yodda – die Forscher in einen anderen und die Mechaniker rotten sich am Berg zusammen. Du wirst ihnen den Pass zeigen müssen, Yodda. Und während ihr an dem Turm arbeitet, spielen wir anderen dem Grafen ein hübsches Schauspiel.“ Auffordernd sah sich Gibur im Kreis der Anwesenden um. „Fragen? Einwände?“
„Ja, eine Frage.“ Der Elb hob die schlanke Hand. „In welches Lager würde ich gehen? Archäologie.“
„Forscher. Wir Wissenschaftler des Geistes müssen zusammenhalten.“ Gibur lächelte.
„Glaubst du echt, dass der Graf sich davon täuschen lassen wird?“, fragte ein kräftiger Mechaniker zweifelnd.
„Häufig sieht eine Person nur, was sie sehen will“, meldete sich Norai zu Wort. „Wenn er möchte, dass wir kämpfen, wird er auch glauben, dass wir uns auf einen Krieg vorbereiten.“
Gibur Kroblis nickte. „Das wäre damit beschlossen. Eine letzte Sache: Wenn ich jemanden sehe, der tatsächlich kämpfen will, der tatsächlich auf diesen verrückten Grafen hören will, um als einziger Wissenschaftler zu überleben …“, Gibur sah jedem einzelnen streng in die Augen, „Ich werde es wissen und ich werde dir eigenhändig den Hals umdrehen!“