„Bleibst du schon wieder länger?“
Die gleiche Zwergin wie beim letzten Mal blieb auf dem Weg zurück bei Yodda stehen.
Mit einem schiefen Lächeln sah sie von ihren Arbeiten auf. „Nur noch ein paar Nägel.“
„Dass du nicht müde bist!“, staunte die Zwergin. „Und das, wo Kroblis schon die metaphorischen Peitschen ausgepackt hat!“
„Immerhin kommen wir schnell voran.“ Yodda verschwieg wohlweislich die Warnung, die sie gestern von Izcun erhalten hatte. Gibur Kroblis wollte nicht, dass sich Panik breit machte. „Außerdem macht es mir Spaß“, gestand sie. „Das ist genau das, was ich immer machen wollte. Natürlich unter fröhlicheren Umständen, aber …“ Sie zuckte mit den Schultern und beugte sich wieder über ihr Werk.
„Ist deine Entscheidung. Ich sag der Küche, sie sollen dir was zurücklegen.“
„Das ist nett, danke!“ Yodda war in Gedanken schon wieder völlig bei der Strebe. Ihre Finger waren lila und blau von vielen winzigen Blutergüssen und schwarz von der Schmiere, die sie benutzten. Sie war glücklich.
Die letzten Arbeiter waren nicht lange fort, da hörte sie das Geräusch ledriger Schwingen. Die Sonne war noch nicht ganz untergegangen, doch hinter der Blechverkleidung des Sturmturms herrschten bereits tiefe Schatten.
Sie richtete sich auf und spähte in die Dunkelheit. Eine schmale Gestalt bewegte sich dort. Yodda hielt den Atem an.
Es war ein Vampir. Die lila Haut verriet, dass er während eines Neumonds verwandelt worden war. Er trug einen schwarzen Umhang über einem roten Hemd – offenbar die Standartkleidung für alle Vampire – und hatte lange, schwarze Dreadlocks. Seine Augen waren schwarz, das eigentlich Weiße rötlich eingefärbt. Obwohl sie halb damit gerechnet hatte, dass er kommen würde, schlug Yoddas Herz bis zum Hals.
„Izcun?“, fragte sie nervös.
„Du hast auf meine Warnung gehört.“ Vorsichtig kam er ein paar Schritte näher, bis an den Rand des Schattens. „Ich danke dir für dein Vertrauen.“
Yodda nickte. Sie starrte den großen Vampir an. Er war nicht einmal besonders groß, kleiner als Kaithryn. Im Nasenrücken steckte ein purpurner Metalldorn und ein Ring der gleichen Farbe wand sich um die Unterlippe. Der Vampir hatte auch eine alte Narbe am Kinn. Er war einmal ein Mensch oder Elf gewesen. Yodda spähte zu seinen Ohren. Ein Mensch.
„Warum hilfst du uns?“, fragte sie wieder. Sie steckte die Werkzeuge in ihre Gürteltasche und stand auf. „Was willst du?“
„Ich will dir helfen.“ Izcun warf ihr einen traurigen Blick zu. „Nicht alle von uns glauben den Versprechungen, die der Graf von Amrais uns macht.“
„Und was sind das für Versprechungen?“
„Ein Leben in der Sonne. Dass die Vorurteile aufhören und wir wie Menschen behandelt werden.“ Izcun machte ein abfälliges Geräusch. „Ich glaube nichts davon.“
Yodda machte ein paar Schritte auf ihn zu. Sie hatte immer noch Angst, doch die Neugier überwog. Nie zuvor hatte sie mit einem Vampir gesprochen.
„Du bist nicht wie die Meisten“, murmelte Izcun. „Du hast einen Tiermenschen als Lehrmeister.“
„Colum ist mein Freund“, sagte Yodda. „Kannst du mir sagen, wie der Graf von Amrais aussieht?“
Izcun schüttelte den Kopf. „Wir reden immer nur mit seinen Boten. Unser Clanführer kennt ihn vielleicht, doch ich wage nicht, ihn zu fragen. Der Graf hat eine seltsame Macht über sie. Er hat Vampire und Werwölfe dazu gebracht, zusammenzuarbeiten.“
Für einen Vampir hatte Izcun einen ehrlichen Blick. Er kam Yodda erschreckend menschlich vor. Und irgendwie erinnerte er sich an Kiirion, obwohl beide eigentlich vollkommen unterschiedlich waren.
„Wir glauben, dass es der Zauberer Azmaek ist“, erklärte sie. „Er hätte die Macht, um die Berge zu verschieben, und er hat Nylian grundlos beschuldigt, der Graf zu sein.“
„Dass es der Elf ist hatte ich auch nicht geglaubt“, sagte Izcun zu Yoddas Erleichterung. Wie gut diese einfachen Worte taten! „Der echte Graf von Amrais wäre klüger vorgegangen und hätte sich nicht so früh enttarnen lassen.“
Die Nacht senkte sich herab. Bald wäre ihre Dunkelheit tief genug, als dass Izcun den Schatten verlassen konnte und das schwache Licht sie nicht länger schützte. Doch Yodda hatte keine Angst mehr.
Izcun streckte ihr eine dunkle Hand mit blutroten Fingernägeln entgegen. „Ich würde dir gerne etwas zeigen.“
Yodda trat in den Schatten und ergriff seine Hand. Wie zu erwarten war sie eiskalt. Izcun zog sie mit sich über die Streben im Inneren des Turms und sie kletterten schweigend nach oben. Leise fragte sich Yodda, welcher Wahnsinn sie dazu trieb, mit einem Vampir durch einen unfertigen Kampfturm zu klettern. Als sie ihnen gesagt hatte, die Reise nach Amrais würde ihren Horizont erweitern und ihnen neue Erfahrungen ermöglichen, hatten sich Colum und Cirdrim wohl etwas anderes darunter vorgestellt.
„Wir sind da. Vorsichtig jetzt.“ Izcun zog sie über die glatte Fassade nach draußen. Inzwischen war es Nacht und am Himmel über ihnen leuchteten die Sterne. An der Hand des Vampirs balancierte Yodda auf die höchste Spitze des Gerüsts hinauf. Sie versuchte, nicht nach unten zu sehen, und konzentrierte sich auf die vier Monde.
„Sie sind wunderschön.“
„Die Sonne ist schöner“, sagte Izcun wehmütig. „Ich vermisse ihre Wärme. Nach dreihundert Jahren ist ein Anblick wie dieser alltägliche Gewohnheit.“
„Dreihundert Jahre?“, echote Yodda.
Der Vampir verzog die Lippen zu einem Lächeln. „Überrascht dich das wirklich?“
„Sollte es vielleicht nicht.“ Yodda verspürte einen Stich der Eifersucht. Was mochte man wohl alles sehen können, wenn man dreihundert Jahre Zeit hatte?
„Vertraust du mir?“, fragte Izcun und umfasste sanft ihre Taille. Schatten bewegten sich hinter seinem Rücken wie Nebel, nahmen dann die Gestalt von Flügeln an. Doch er wartete noch auf ihre Antwort.
Yodda streckte sich und legte ihm die Hände auf die Schultern. „Ja.“
Sie wusste selbst nicht, woher dieses Vertrauen kam, doch es war die Wahrheit. Sie verspürte keine Angst, nur Aufregung, als Izcun mit den Schwingen schlug und sie in die Höhe trug.
Schlag für Schlag stieg er höher, bis der Turm unter ihnen nicht mehr zu sehen war und die Berggipfel neben ihnen, dann unter ihnen lagen. Izcun ließ sich von einem Windstoß zur Seite treiben.
„Sieh nach unten.“
Yodda gehorchte und schluckte. Sie schwebten über einem schmalen Felsgrad, auf beiden Seiten ging es steil in die Tiefe. Der Grat verbreiterte sich vor und hinter ihnen, aber direkt unter ihnen war er nicht viel breiter als ein Mann, am Fuß mochten es vielleicht vier, fünf Mannesbreiten sein.
„Das … das ist der Pass!“, stammelte sie, als sie es erkannte.
„Hier müsst ihr den Berg durchbrechen“, bestätigte Izcun. Er hielt sich in der Luft. „Oder …“
„Oder was?“, fragte Yodda.
„Oder wir fliegen einfach auf der anderen Seite herunter. Wir wären frei.“
Sie ließ den Blick wieder in die Tiefe gleiten. Die Freiheit! Zum Greifen nah, und sie müsste nur ein einziges Wort sagen. Ein Wort, um den ganzen Wahnsinn hinter sich zu lassen und dem Tal zu entkommen.
„Nein, das geht nicht“, sagte sie. „Ich muss meine Freunde finden. Ich kann sie nicht im Stich lassen.“
„Du bist eine gute Freundin.“ Izcun ließ sich sinken, auf der inneren Seite des Bergrings. Der Boden war noch nicht zu sehen.
„Ich verstehe immer noch nicht, warum du mir hilfst“, murmelte Yodda und sah den Vampir an. Bis auf seine Hautfarbe, seine Kräfte und die eisige Kälte wirkte er wie ein normaler Mensch.
„Ganz ehrlich? Ich verstehe es auch nicht“, gestand Izcun. „Dreihundert Jahre, und nie zuvor hatte ich ein Gefühl wie dieses, dass … dass ich unbedingt helfen muss.“
Yodda betrachtete seine schwarzen Augen, dann hob sie den Kopf und küsste ihn. Es war eine spontane Regung. Izcun reagierte überrascht – zuerst. Dann erwiderte er den Kuss. Seine Lippen waren kalt wie Schnee, doch sie waren auch überraschten weich und sanft.
~ ⁂ ~
Sie waren früh aufgebrochen. Azmaeks Anweisungen befolgend hatten die Magier nur wenig Gepäck: Waffen, Amulette, ein paar Bücher, Vorräte für wenige Tage. Und wie Azmaek es vorhergesagt hatte, sahen sie kaum etwas von den Werwölfen. Zweimal griffen sie an, doch die Magier konnten sie beide Male abwehren – sobald Azmaek in den Kampf schritt, flohen die Wölfe auch schon jaulend. Trotzdem schien niemand Verdacht zu schöpfen. Alle schoben diese Wirkung auf seine große Macht.
Nun war es mitten in der Nacht. Sie waren weit in den Norden gekommen und hatten ihr Lager in der Wildnis aufgeschlagen. Kat lag auf trockenem Gras und Zweigen und konnte nicht schlafen.
Sie fuhr in die Höhe, als sie Schreie hörte.
Die Schreie kamen von weiter weg, sie wurden vom Wind zu ihnen heruntergetragen. Kaithryn sprang auf und sah sich um. Wie sie befürchtet hatte: Die Schreie kamen aus dem Norden. Rote Blitze zuckten durch die Nacht, ob von Feuer oder einer anderen Quelle, konnte sie nicht sagen. Die Schreie klangen unmenschlich.
„Unmöglich!“, flüsterte sie halblaut. Ihr Lager war noch fast drei Meilen vom Lager der Krieger entfernt. Der Angriff hätte erst morgen beginnen sollen.
Sie rannte zu dem einzigen Zelt in ihrem Lager, das natürlich Azmaek gehörte. Widersprüchliche Gedanken rasten ihr durch den Kopf. Hatte sie sich in Azmaek getäuscht und er war doch nicht ihr Feind? Oder hatte er nur seine Diener geschickt, um die Krieger zu vernichten? Konnte sie ihn noch aufhalten?
Ohne sich mit Förmlichkeiten aufzuhalten, platzte sie in das Zelt des Aurasichtigen. Der Schein ihrer kleinen Öllampe leuchtete das Innere aus.
Azmaeks Bett war verlassen und augenscheinlich nicht angetastet worden.
Kat keuchte und lief wieder nach draußen. Sie hatte sich nicht in Azmaek getäuscht, sie hatte ihn lediglich unterschätzt. Weitere Todes- und Schmerzensschreie drangen zu ihr herüber, doch sie blieb am Rand des Lagers wie angewurzelt stehen. Alleine hinaus zu laufen wäre ihr Todesurteil. Sie wäre leichte Beute für die Wölfe, und außerdem würde sie Azmaeks Vertrauen verlieren. Ihre beste Chance bestand darin, dass sie wusste, was der Graf von Amrais plante. Oder es wenigstens ahnte.
„Oh, Nylian“, flüsterte sie, während sie zu dem fernen Feuer blickte. „Pass gut auf dich auf.“