Aidalos sprengte vorwärts, schnell und unermüdlich wie der Westwind, ganz seinem Namen gerecht werdend. Nylian beugte sich tief über den Pferdehals und das kleine Mädchen klammerte sich an seinen Rücken.
Die Schreie und das Feuer blieben hinter ihnen zurück. Es klang nicht, als würde man ihnen folgen.
„Ruhig, mein Freund!“ Nylian parierte Aidalos zum Schritt durch. Der Hengst schnaubte, doch er wirkte nicht beunruhigt. Offenbar waren sie wirklich in Sicherheit, wenigstens für den Moment.
„Wie war dein Name noch gleich?“
„Aoi. Aoi Miako.“
„Geht es dir gut?“
„Ich bin nicht verletzt.“
Nylian lächelte leise. „Das ist im Moment wohl das Beste, was wir kriegen können. Und du sagtest, Kat hat dich geschickt? Dann lebt sie noch?“
„Ja. Sie ist bei diesem Mann, diesem bösen Magier. Er vertraut ihr.“
Nylian schüttelte leicht den Kopf. „Kat, Kat, Kat. Man kann vieles über sie behaupten, aber nicht, dass sie feige wäre.“
„Hast … hast du seine Augen gesehen?“, fragte Aoi leise.
Nylian nickte grimmig. Seine Heiterkeit, die Erleichterung darüber, dass seine Freundin lebte, war sofort verflogen. „Das war kein Mensch. Solche Augen haben nur Dämonen.“
Glühende, feurige Augen, leuchtend in der Dunkelheit, mit schlitzförmigen Pupillen wie Krokodile.
„Ich habe Angst.“
„Das habe ich auch, Aoi. Aber jetzt müssen wir Yodda suchen. Hoffentlich ist sie im Lager der Wissenschaftler. Sie sind bestimmt die nächsten Opfer. Wir müssen sie warnen.“
„Im Warnen bin ich gut“, piepste Aoi, während Nylian Aidalos wieder antrieb.
„Lass uns hoffen, dass wir nicht zu spät kommen“, raunte er dem Kind zu.
~ ⁂ ~
„Du bist ja immer noch hier.“
Yodda drehte sich um. Diesmal war es Gibur Kroblis, der zu ihr kam, obwohl sie das in der Dunkelheit kaum erkennen konnte. Izcun war nicht gekommen. Sie fragte sich, ob ihm etwas zugestoßen war.
„Wir sind fast fertig. Was tut Ihr hier?“, fragte sie Kroblis. „Wir sollen doch nachts die Lager nicht wechseln.“
„Das hattest du gesagt, ja.“
Etwas in Kroblis' Stimme brachte Yodda dazu, aufzustehen. Sie umklammerte den Hammer.
Kroblis warf ihr einen langen Blick zu, seine Augen glitzerten schwach in der Dunkelheit. Hatte er schon immer diese bernsteinfarbenen Augen gehabt?
„Ich weiß es“, sagte Kroblis.
„Was wisst Ihr?“, fragte Yodda und wich zurück, vorsichtig mit einem Fuß hinter sich nach Widerstand tastend. Sie war auf einem Balken hoch oben im Gerüst. Sie hatte keinen Ausweg.
„Man hat euch gesehen, gestern Nacht. Dich und diesen … diesen Vampir!“ Kroblis spuckte aus. „Den Tiermenschen, mit dem du befreundet warst, konnte ich ja noch verzeihen. Aber ein Vampir …! Ich dachte, ein Wissenschaftler könnte nicht so tief sinken.“
„Es ist nicht, wie es aussieht“, stammelte Yodda hastig. „Izcun ist nicht wie die Anderen, er versucht nur, zu helfen!“
„Dann gibst du es also zu?“, fragte Kroblis erstaunt.
„Hör mir zu, Gibur!“ Yodda wich weiter zurück, doch der Balken endete hier. Sie standen ganz oben auf dem Kran, höher war nur das Dach der kleinen Kabine, über die sich der Kran steuern ließ. Dort, so erinnerte sich Yodda, dort hatte sie mit Izcun gestanden, ohne jede Angst. Wo war der Vampir bloß? Sie hatte gehofft, ihn wiederzusehen.
„Du wirst jetzt schweigen“, knurrte Gibur. „Ich habe dir vertraut, aber ich habe dich auch gewarnt, was mit Verrätern geschieht!“
Das Glitzern in seinen Augen wurde stärker.
„Du bist nicht du selbst!“, flehte Yodda. „Wehr dich dagegen, Gibur! Ich bin keine Verräterin, ich will helfen. Hör mir bitte zu.“
Gibur Kroblis schlug zu. Yodda sah die Bewegung kommen und wich nach hinten aus, doch ihre Füße traten ins Nichts. Einen Moment ruderte sie hilflos mit den Armen und starrte den alten Zwerg an. Dann fiel sie.
Ihr blieb nicht einmal Zeit für einen Schrei, denn plötzlich war da eine Dunkelheit, die nicht der Nacht allein entsprang. Es war, als wären Yoddas Augen mit Blindheit geschlagen, bis sie eine Hand spürte, die ihren Arm griff.
„Izcun?“
„Ich hab dich!“ Er zog sie in seine Arme. Yodda klammerte sich an ihn und schloss die Augen. Selten zuvor war sie so froh gewesen, jemanden zu sehen.
Izcuns Flügel schlugen. Das Gefühl des Fallens verging, doch der Vampir flog trotzdem weiter.
„Wo bringst du mich hin?“
„In Sicherheit. Du kannst nicht im Lager bleiben, Azmaeks Dämonen sind gekommen.“ Sie konnte inzwischen sein Gesicht sehen, dunkel und purpur wie ein Sonnenuntergang. „Ich kenne eine Höhle am Fuß der Berge. Wir müssen sie nur rechtzeitig erreichen.“
„Rechtzeitig?“
„Bevor die Sonne aufgeht.“
~ ⁂ ~
„Das Lager ist ein Blutbad. Niemand hat überlebt.“
Azmaek kam soeben von einer Erkundung des Kriegerlagers zurück. Kat hätte ihn am liebsten begleitet. Sie war nicht erpicht darauf, die Überreste einer Schlacht zu sehen, doch sie wollte nach Nylian suchen. Aoi war nicht zurückgekehrt – war dem Kind etwas zugestoßen? Oder hatte sie Nylian erreicht?
Die anderen Magier reagierten erschüttert. „Wer könnte ein ganzes Lager im Alleingang auslöschen?“, fragte der dunkelhäutige Elfenjunge, den Kat als Azmaeks Boten kannte.
„Der Graf von Amrais“, antwortete Azmaek. Kaithryn war sich sicher, dass seine Augen selbstgefällig glitzerten. „Wir sind spät, jetzt müssen wir uns beeilen und die Wissenschaftler aufsuchen.“
Die Magier nickten und griffen nach ihren wenigen Habseligkeiten. Kat hätte am liebsten geschrien. Erst Nylian, nun war Yodda in Gefahr – wenn sie denn noch lebte! Und diesmal war Aoi nicht da, um jemanden zu warnen.
Sie machte sich große Vorwürfe. War es ein Fehler gewesen, das kleine Mädchen alleine loszuschicken? Wusste Azmaek am Ende sogar, dass sie eine Doppelagentin war? Die Unsicherheit könnte sie wahnsinnig machen.
„Packt zusammen, wir ziehen weiter!“, befahl Azmaek. Die Magier waren schnell marschbereit. Kat wünschte sich sehnlichst jemandem, mit dem sie ihre Sorgen teilen konnte. Irgendjemanden. Aber sie war allein, jeder ihre Freunde hatte sie verlassen. Ihr blieb nichts anderes übrig, als auf ihr eigenes Geschick zu vertrauen.
~ ⁂ ~
Als Izcun landete, erhob sich die Sonne bereits über die Berggipfel. Förmlich im letzten Moment huschte der Vampir in den Schatten einer großen Höhle, die sich am Fuß des Gebirges befand. Obwohl gemeinhin behauptet wurde, dass Vampire über endlose Kräfte verfügten, wirkte Izcun erschöpft und müde, als er sich in den Schatten zurückzog.
„Und hier sind wir sicher?“, fragte Yodda, die die Höhle begutachtete.
„Nicht lange. Die anderen Vampire kennen diese Höhle natürlich.“ Izcun setzte sich auf den Steinboden. „Sie werden nach mir suchen und irgendwann erkennen, dass ich ein Abtrünniger geworden bin. Doch sie können uns frühestens morgen Nacht finden. Bis dahin können wir uns etwas überlegen.“
Yodda setzte sich neben ihn. „Wo warst du gestern?“
„Ich war ganz in der Nähe. Aber die Zwerge hatten dich beobachtet. Zuerst eine Zwergin und dann ein Zwergenmann und schließlich ist der alte Zwerg gekommen. Ich wollte nicht mit dir reden, solange sie uns sehen könnten. Als ich erkannte, dass mit dem Alten etwas nicht stimmt, war es schon zu spät, um einzugreifen.“
„Na ja, immerhin hast du mich gerettet.“ Yodda lächelte. „Danke.“
Izcun legte ihr eine eisige Hand an die Wange. „Ich hätte dich niemals sterben lassen.“ Dann fuhr der Vampir plötzlich herum. „Hufe! Da draußen ist jemand.“
Sofort schlug Yodda das Herz bis zum Hals. Konnten das die fünf reitenden Boten des Grafen sein? Sie waren vielleicht auch Vampire und kannten die Höhle, konnten aber im Sonnenlicht reisen!
„Es ist ein einzelner Reiter“, berichtete Izcun. Inzwischen konnte auch Yodda den Hufschlag hören.
„Wenn es nur einer ist, werde ich ihn mir ansehen“, beschloss sie und kroch zum Ausgang der Höhle.
„Sei vorsichtig“, rief Izcun ihr leise nach.
Das hätte er Yodda nicht zu sagen brauchen. Sie schmierte sich Haar und Bart mit ein wenig Erde ein, um die leuchtende Farbe zu verdecken, und kroch im Schutz der Büsche auf den langsamen Hufschlag zu. Schließlich kam ein hellbraunes Pferd mit schwarzer Mähne in Sicht, das aus Richtung des Lagers getrottet kam. Und der Reiter war ein schlanker Elf mit hellblauen Haaren.
„Nylian!“, schrie Yodda und sprang auf. Aidalos scheute und machte einen Satz zur Seite. Nylian starrte sie verschreckt an, ehe er sie erkannte.
„Yodda? Yodda, was tust du hier?“
Sie lief auf ihn zu und Nylian glitt aus dem Sattel, um sie zu umarmen. Es tat so gut, ihren Freund wieder zu sehen. Er war dünner als beim letzten Mal, dass sie ihn gesehen hatte. Seine Haare waren länger und unordentlicher, seine Kleidung heruntergekommener.
„Wie ist es dir ergangen?“
„Ich hab mich in den Wäldern versteckt“, berichtete Nylian. „Dann, als überall Wölfe waren, bin ich in ein Lager gekommen. Dort haben sie mich aufgenommen, aber plötzlich wurden wir angegriffen. Ich konnte fliehen, eine Freundin von Kat hatte mich gewarnt.“
„Kaithryn! Weißt du etwas über sie?“
„Sie ist bei Azmaek“, sagte Nylian. „Er vertraut ihr. Offenbar ist sie seine rechte Hand.“
Yodda schüttelte mit einem ungläubigen Lachen den Kopf. „Was?“
„Sie ist eben mutig!“ Nylian lächelte, dann wurde er ernst. „Yodda, was ist geschehen? Ich war in der Zeltstadt, das war das reinste Gemetzel!“
In knappen Worten erzählte Yodda ihm alles, was geschehen war, seit er hatte fliehen müssen. Vieles davon wusste Nylian offenbar schon von den Kriegern, trotzdem lauschte er ihr immer noch ungläubig.
„Ein Freund hat mir geholfen und mich zu den Wissenschaftlern gebracht. Aber dann ist der oberste Wissenschaftler wahnsinnig geworden. Er hätte mich fast getötet!“
„Wahnsinnig, sagst du?“, fragte Nylian. „Oh nein! Ich habe Aoi ins Lager geschickt, um dich zu warnen! Azmaek ist auf dem Weg hierher!“
Yodda schluckte. „Wirklich? Wir haben eine Waffe, einen Sturmturm. Doch ich weiß nicht, ob Gibur Kroblis ihn auch gegen Azmaek einsetzen wird. Warte – wer ist Aoi?“
Nylian hob eine Hand und atmete tief durch. „Wir haben wenig Zeit, aber ich denke, wir müssen einander zuerst alles erzählen, was wir wissen. Und dann müssen wir Aoi helfen! Sie ist noch ein Kind.“
„Gut, dann komm mit. In der Nähe ist eine Höhle. Aber … Nylian? Du darfst dich nicht erschrecken. Mein Freund ist dort. Sein Name ist Izcun Javat und er ist ein Vampir.“
Ein Schatten legte sich auf Nylians Gesicht. „Ein Vampir?“, zischte er. „Yodda, hast du vergessen -?“
„Was Kiirion passiert ist? Wie könnte ich, Nylian? Ich habe deinen Bruder geliebt!“ Sie sagte es zum ersten Mal laut. Jetzt, wo der Schmerz langsam nachzulassen schien. Ihre Stimme verriet, dass der Schmerz nicht verging. „Aber Izcun ist kein Feind. Ich verdanke ihm mein Leben.“
Seufzend nickte Nylian. „Es ist eine verrückte Zeit. Also gut, geh voraus.“