Es war wieder der braunhäutige, goldäugige Elfenjunge, der Azmaeks Befehl übermittelte. Kaithryn streifte sich eilig das Kettenhemd wieder über, wusch sich das Gesicht und eilte zum Anführer der Magier. Die Nacht war angebrochen, doch die Meisten würden wohl keinen Schlaf finden. Die Magier hatten sich einen Platz nah am Lager der Wissenschaftler gesucht und warteten auf den Morgen. Die Wissenschaftler hatten eine klobige Waffe in Position gebracht. Die Anspannung war mit Händen zu greifen.
„Azmaek?“ Kaithryn hielt vor dem Zelt.
„Komm rein“, erklang die Stimme des Magiers. Im Inneren stockte Kat der Atem, denn in der Mitte des Zeltes kniete Yodda. Man hatte ihre Knöchel zusammengebunden und ihr die Hände auf dem Rücken gefesselt. Sie sah auf und ihre Augen weiteten sich, als sie Kat erkannte.
„Kat!“, wisperte sie.
„Yodda.“
Azmaek trat an Kat heran. „Du musst herausfinden, wo Nylian ist“, flüsterte er ihr ins Ohr, seine Hand auf ihrer Schulter. Kat konnte den Blick nicht von ihrer gefesselten Freundin abwenden. Azmaek verstärkte seinen Griff nochmals. „Wenn du die Wissenschaftler retten willst, dann beeil dich!“
Damit ließ er die beiden Frauen allein. Kat eilte sofort zu Yodda. „Geht es dir gut?“
„Kat! Ich bin so froh, dich zu sehen!“
Mit ihrem Schwert durchtrennte Kat Yoddas Fesseln.
„Au!“, rief Yodda, als Kat sie aus Versehen mit der langen Klinge am Ellbogen schnitt.
„Tut mir leid.“ Sie zog ihre befreite Freundin auf die Beine und in eine Umarmung. „Was hat er dir angetan?“
„Er hat mich gefangen genommen. Aoi konnte entkommen.“
„Aoi! Sie lebt noch?“
„Ja, und Nylian auch. Er hat sie zu mir geschickt, um die Wissenschaftler zu warnen.“
Kaithryn atmete erleichtert aus. Es war, als würde ein großes Gewicht von ihren Schultern fallen.
„Er ist in die Berge geritten“, erzählte Yodda leise weiter.
„Weißt du, wo er ist?“
Yodda schüttelte den Kopf. „Ich war zu beschäftigt damit, Aoi zu suchen. Aber er weiß, dass Azmaek ihn sucht.“
„Yodda, du musst mir alles erzählen!“, verlangte Kat. Sie sah zum Zelteingang und hatte plötzlich Angst. Über die Freude, Yodda getroffen zu haben, hatte sie Azmaek ganz vergessen. Was, wenn er ihr Gespräch belauscht hatte?
„Du musst hier fort“, flüsterte sie Yodda zu. „So schnell wie möglich!“
Ein trauriger Ausdruck trat in die Augen der Zwergin. Sie nickte. „Ich weiß.“
~ ⁂ ~
„Wie hast du überlebt?“
Nylian saß am Ende des langen Tisches und machte sich heißhungrig über einen gut gefüllten Teller mit Eintopf her. Es war nicht viel mehr als dickflüssige Suppe aus Brot, Rüben und Kartoffeln, aber er genoss es wie ein königliches Mahl. Ihm gegenüber stand Colum und hatte bis eben amüsiert darauf gewartet, dass Nylian mit den Fragen begann.
„Ich bin weggerannt, wie alle anderen auch. Aber ich hatte den Vorteil von vier kräftigen Hufen!“
„Aber ich habe eine Leiche gesehen, einen toten Stier!“, protestierte Nylian.
Colum schüttelte seufzend den gehörnten Kopf. „Und hast sofort angenommen, dass ich das wäre? Hast du jemals was davon gehört, dass Rinder als Fleischvorräte gehalten werden? Wahrscheinlich hatte einer der Händler Vieh dabei.“
Nylian wandte den Blick lange genug von dieser ersten vernünftigen Mahlzeit seit Langem ab, um einen düsteren Schatten über Colums Gesicht huschen zu sehen.
„Es tut mir leid“, sagte er beschämt. „Ich weiß, wie das aussehen muss. Aber ich hatte solche Angst um dich, dass ich nicht richtig denken konnte.“ Er legte den Löffel ab. Seufzend vergrub er das Gesicht in den Händen. „Alles ist so falsch! Zuerst ist Cirdrim gestorben, dann haben sich die Berge versetzt, dann kam dieser Graf! Es war zu viel auf einmal.“
Mit klappernden Hufen kam der Zentaur näher. „Es ist schon gut, Nylian. Ich bin froh, dass du mich gefunden hast!“
„Du hast dich die ganze Zeit hier versteckt?“, fragte Nylian und sah sich um. Das Schloss musste einst prächtig gewesen sein, der Saal, in dem sie saßen, zeugte noch davon: Es gab verblasste Wandbilder, die einst farbenfroh gewesen sein musste, staubbedeckte Statuen, mottenzerfressene Wandbehänge, schiefhängende Kronleuchter. Ein Elchkopf hing über dem Kamin, in dem Colum ein mickriges Feuer entzündet hatte. Ein Geweihstück fehlte.
Nylian ließ den wieder aufgenommenen Löffel fallen. „Aidalos! Ich habe ihn ganz vergessen! Colum, gibt es hier irgendwo ein Stück Wiese, wo er grasen kann? Der Arme hat es mehr als verdient.“
„Es gibt sogar Heu, in der Tenne über dem Stall.“ Colum lächelte. „Soll ich mitkommen?“
„Nein, ich finde es sicher schon.“ Nylian schob sich einen letzten Löffel Eintopf in den Mund. „Bis gleich!“
Draußen war es stockdunkel. Auf dem unebenen, von der Zeit arg mitgenommenen Weg musste Nylian vorsichtig gehen. Noch bevor er den Stall erreicht hatte, hörte er Aidalos schrill wiehern.
„Was hast du denn, mein Freund?“ Nylian eilte in den düsteren Stall. Aidalos schnaubte und kam direkt auf ihn zu. Die Türen der Ställe waren längst verfallen und so gab es nichts, das Nylians Pferd aufhalten konnte. Das Pferd drängte sich an dem Elfen vorbei und trottete nach draußen.
„Was ist denn los?“, rief Nylian und folgte Aidalos nach draußen.
Der Hengst wieherte und stieg auf die Hinterhand. Er warf Nylian einen auffordernden Blick zu.
Der ging zu seinem Pferd und legte ihm eine Hand auf die Brust. Aidalos' Herz raste. Nylian folgte dem Blick des Tieres zum Schloss.
Das Dach des Schlosses wirkte uneben, wie mit Pickeln besetzt. Noch während Nylian starrte, bewegten sich einige der Erhöhungen. Ein Schauer lief ihm über den Rücken.
„Vampire!“
Er machte ein paar Schritte auf das Schloss zu, aber Aidalos schnappte nach seinem Ärmel und hielt den Stoff mit den großen Zähnen fest.
„Colum! Ich muss ihn -“ Nylian brachte den Satz nicht zu Ende. Die Angst schnürte ihm die Kehle zu.
Ein Vampir ließ sich vor ein Fenster fallen, die schmale Silhouette war vor dem helleren Hintergrund klar zu sehen. Nylian merkte, wie der Vampir den Kopf wandte, und drückte sich mit Aidalos in den Schatten der Stallwand. Die Vampire hatten ihn offenbar noch nicht bemerkt. Er hörte Glas splittern, als der Vampir das Fenster einschlug.
Ohne zu wissen, wie er dorthin gekommen war, fand sich Nylian plötzlich auf dem blanken Pferderücken wieder. Er trieb Aidalos an und der Hengst galoppierte aus dem Burgtor heraus und nach draußen auf die Bergstraße. Nylians Herz raste wie die Hufe, er konnte nicht einmal einen Blick zurück werfen. In diesem Moment erinnerte er sich nur an die Hoffnungslosigkeit nach Kiirions Tod.
~ ⁂ ~
Entgegen Kats Drängen zur Eile nutzten die Freundinnen ihr Wiedersehen, um sich gegenseitig zu erzählen, was ihnen widerfahren war. Yodda erzählte von ihrer Verbannung durch Kroblis und Rettung durch Izcun, Kat davon, wie sie Azmaeks Vertrauen erschlichen hatte. Ihr Treffen sollte jedoch kürzer sein, als selbst sie ahnten, denn plötzlich zerriss ein lautes Krachen die Nacht. Yodda konnte einen Aufschrei nicht unterdrücken. Kat an ihrer Seite zog das Schwert.
Draußen erklangen Schreie.
„Das war der Sturmturm!“, rief Yodda aus, als sie den ersten Schreck überwunden hatte. „Kroblis greift an!“
Außerhalb des Zeltes flammte helles Licht auf, die Schatten laufender Personen glitten über die Zeltwand. Kat atmete schnell und flach. „Es ist noch mitten in der Nacht!“
„Damit rechnet keiner“, murmelte Yodda, als sie Kroblis' Plan erkannte. „Er will euch vernichten, ehe ihr bereit für den Kampf seid!“
Kat warf ihr einen wilden, panischen Blick zu. „Was ist dieser Sturmturm?“
„Eigentlich ist es nur ein Rammbock“, erzählte Yodda schnell. „Doch er ist eine Kriegswaffe. Er lässt sich leicht zu einer Schleuder umbauen. Ich wette, Kroblis hat genau das getan, als er Azmaek anrücken sah!“ Sie schlug die Hände vor den Mund. „Und ich habe den Turm mit erbaut!“
„Dafür ist jetzt keine Zeit!“ Kat hatte sich wieder gefasst. Sie packte Yoddas Schulter und zerrte sie nach draußen. Dort herrschte Chaos. Flackerndes Feuer magischen Ursprungs schuf unbeständiges, zuckendes Licht, Magier rannten in heillosem Durcheinander hier- und dorthin, ein unvollständiger Schutzschild aus blauem Licht zuckte über ihnen im Himmel.
Yodda konnte nur mit offenem Mund starren, aber Kat zog sie durch das Gedränge, sah sich dabei ständig um, als fürchtete sie einen Verfolger. Dann waren sie am Rand des Lagers.
„Lauf!“, rief Kat – eine unangenehme Erinnerung an den Tag, da Nylian hatte fliehen müssen.
„Was ist mit dir?“ Yodda hielt sie am Handgelenk fest, ehe Kat sich abwenden konnte.
„Du hast gesagt, dass Kroblis von einem Dämon besessen war, richtig?“, fragte Kat.
Yodda nickte.
„Die Dämonen gehorchen aber Azmaek. Ich muss herausfinden, was er vorhat.“ Kat riss sich mit erstaunlicher Kraft von Yodda los. „Lauf weg, Yodda! Such Nylian!“
Yodda nickte, dann stolperte sie davon. Tränen stiegen ihr in die Augen, als sie sich erneut auf ungewisse Zeit von ihrer Freundin trennte. Doch Azmaek durfte nicht erfahren, wo Nylian war, und Nylian musste gewarnt werden.
Sie rannte, so schnell ihre kurzen Beine sie trugen.