Kat eilte zurück ins Lager, ehe jemand sie dabei beobachten konnte, wie sie Yodda in die Freiheit entließ. Noch im Laufen suchte sie nach der inneren Energiequelle, doch diesmal wollte die Magie einfach nicht, wie sie wollte. Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Sie musste sich im Kampf zeigen, nur dann würde Azmaek die Geschichte glauben, die sie ihm erzählen wollte: Dass Yodda in den Wirren des Kampfes geflohen war.
Die Angst war fast übermächtig. Überall ertönten Schreie, es regnete spitze Pfähle aus der Dunkelheit über ihren Köpfen. Viele der Geschosse wurden von dem Schutzschild abgefangen, doch nicht alle. Kat kam an dem jungen Elfen vorbei, der Azmaek als Bote gedient hatte. Er lag von einem Eisenpfahl durchbohrt auf dem Boden und rührte sich nicht. Ein anderer Magier, dessen Bein getroffen worden war, schrie gellend.
Das Chaos von außen drang auch in Kaithryns Kopf vor. Sie wusste nicht, wohin sie rennen und was sie tun sollte, sie wusste nur, dass sie Yodda eine Chance verschaffen musste, dass Nylian in Gefahr war, dass sie ihr Versprechen, auf Aoi aufzupassen, auf's Schändlichste vergessen hatte.
Plötzlich krachte etwas Großes über ihr durch die Baumwipfel, ein schweres, schwarzes Gewicht. Kat riss die Augen auf und erkannte einen großen Stein, der offenbar aus den Bergen herabgerollt worden war – die Magier befanden sich eindeutig in der Verliererposition dieser Schlacht.
Sie reagierte vollkommen automatisch, wie eine Marionette. Ehe Kat auch nur verarbeitet hatte, was da auf sie zukam, hatte sie schon eine Hand ausgestreckt und ein Flammenstahl rauschte nach vorne, dem Felsbrocken entgegen. Eine lächerliche Verteidigungsgeste.
Dann machte die Welt einen Sprung zur Seite und Kat landete in kaltem Gras. Der Stein rumpelte vorbei. Als sie die Augen wieder öffnete, war Azmaek über ihr. Die hellen Augen leuchteten aus dem rötlichen Gesicht und seine Haare bildeten einen Vorhang um ihre beiden Köpfe.
„Das war nicht besonders schlau, Kaithryn.“ Der Magier stand auf und reichte ihr eine Hand, um sie auf die Füße zu ziehen. „Stein ist stärker als Feuer.“
„Es … es war ein Reflex“, murmelte Kat. Sie fröstelte. Kalter Schweiß stand auf ihrer Haut und verspätet schlug ihr Herz schneller. Der Felsbrocken hätte sie niedergewalzt, wäre Azmaek nicht gewesen! Sie sah den hochgewachsenen Feuerelb an, doch dessen Aufmerksamkeit hatte sich bereits wieder auf den Berg vor ihnen gerichtet.
„Die Geschosse werden weniger!“, rief er über den Schlachtlärm. „Etwas stimmt da nicht – komm mit!“
Der hochgewachsene Aurasichtige lief los. Kat starrte ihm einen Moment nach, dann besann sie sich und folgte ihm.
Sie kamen nicht weit. Am Fuß der Berge hielt Azmaek abrupt an und fasste Kat an der Schulter, als sie fast an ihm vorbeigerannt wäre.
Über ihnen erklangen Schreie. Kat keuchte auf: „Sie werden angegriffen!“
„Nein.“ Azmaek schüttelte den Kopf. „Sie greifen sich gegenseitig an.“
Er wandte sich um und sah zum Magierlager zurück, das nun in tiefe Dunkelheit gehüllt war.
„Verdammt!“
„Was?“, fragte Kat. Azmaeks Griff um ihren Arm war eisern wie ein Schraubstock, sie fühlte ihre Hand nicht mehr.
„Das ist der Graf!“, rief Azmaek ihr zu. Seine Panik wirkte fast überzeugend. „Er hat die Wissenschaftler in den Wahnsinn getrieben.“ Schon kehrte der Feuerelb um und hetzte zurück zu dem provisorischen Lager. Kat folgte keuchend.
Sie fragte sich, was Azmaek mit dieser Vorstellung bezwecken wollte. Und sie fragte sich, wer überhaupt noch lebte. Als sie das kleine Lager erreichten, rührte sich jedenfalls niemand mehr. Falls es Überlebende gab, so waren sie geflohen.
Azmaek stürmte direkt in sein Zelt. Aus dem Inneren hörte Kat ihn fluchen.
„Was ist los?“ Sie lief hinterdrein.
„Sie ist weg! Die Zwergin!“
Kaithryn hatte es schon fast wieder vergessen. „Sie hat das Chaos der Schlacht sicherlich genutzt“, meinte sie abgelenkt. Ihre Gedanken rasten noch immer sinnlos im Kreis. Sie fühlte sich schwindelig, als könnte sie jeden Moment ohnmächtig werden. Verzweifelt versuchte sie, ihren Atem unter Kontrolle zu bringen.
„Wir müssen sie finden, sie ist unsere einzige Hoffnung.“ Azmaek wirbelte herum. „Oder hat sie dir bereits gesagt, wo dein Freund ist?“
Kat erstarrte. Was sollte sie jetzt tun? Wenn Azmaek sich auf Yoddas Spur setzte, würde er sie wieder einfangen, und dann würde sie vielleicht keine zweite Gelegenheit haben, Yodda zu befreien. Sie dachte zurück an den unsicheren Plan, den sie mit Yodda ausgemacht hatte. Die Zwergin lief direkt zu Nylian und warnte ihn, sich ein neues Versteck zu suchen, wo Azmaek ihn nicht finden konnte.
„Er … er ist in den Bergen“, stotterte Kat. Das war die einzige Hoffnung. Yodda musste Nylian zuerst finden, dann würden beide schleunigst in den Westen fliehen müssen. „Irgendwo ganz in der Nähe, etwas nördlich“, fügte sie hinzu.
„Den Sternen sei Dank!“, rief Azmaek erleichtert und legte den Kopf in den Nacken. Doch schon im nächsten Moment blitzten seine purpurnen Augen mit Feuer. „Los, Kaithryn! Nur leichtes Gepäck – wir schnappen uns den Grafen!“
Wie ein Hirsch lief der Aurasichtige bereits wieder los und Kat folgte ihm mit stechenden Seiten und außer Atem.
~ ⁂ ~
Yodda stolperte vor Müdigkeit, trotzdem zwang sie ihre geschwächten Beine vorwärts. Die Schreie blieben hinter ihr zurück, wurden zu einer fernen Erinnerung. Ihr Herz klopfte vor Angst. Der Schnitt am Arm, wo Kat sie versehentlich verletzt hatte, brannte wie Feuer. Das Tal selbst jedoch war still, keine Vögel sangen, keine Wölfe heulten.
Obwohl sie keine Verfolger hörte, wurde sie nicht langsamer. Sie wusste nicht, wie viel Zeit ihr der Kampf verschaffen würde. Während sie rannte, versuchte sie verzweifelt, einen Plan zu schmieden. Wie sollte sie Nylian bloß aufspüren? Er konnte überall sein, die Berge waren voller Verstecke.
„Izcun!“, rief sie, als sie sich weit genug vom Lager der Magier entfernt wähnte. „Izcun!“
Sie musste hoffen, dass der Vampir sie hören würde. Vampire hatten ein bemerkenswert feines Gehör. Fast wie Fledermäuse.
Tatsächlich hörte sie bald das vertraute, ledrige Geräusch seiner Schwingen und blieb erleichtert stehen. „Izcun?“
„Yodda.“
„Zum Glück! Du musst mir helfen!“ Sie lief auf seine Stimme zu und vergrub das Gesicht an seinem Bauch. Izcun umarmte sie sanft.
„Was ist denn geschehen?“
„Wir müssen Nylian finden! Er ist in tödlicher Gefahr. Azmaek ist auf dem Weg hierher, er will Nylian töten, weil er ihn für den Grafen hält!“ Die Worte sprudelten nur so hervor. „Er hatte mich gefangen, aber Kat hat mich befreit, dann wurden sie angegriffen! Es war furchtbar.“
„Sachte, sachte“, sagte Izcun. „Atme tief durch. Langsam, Yodda.“
Sie tat, wie geheißen. Atemlos erzählte sie alles, was seit ihrer Trennung geschehen war. Izcun hörte schweigend zu.
„Und deswegen müssen wir Nylian so schnell wie möglich finden!“, schloss Yodda. „Wir können zum Sturmturm und aus dem Tal fliehen!“
„Nein, das passt leider nicht in meinen Plan“, sagte Izcun.
Yodda erstarrte und sah ihrem Freund ins Gesicht. Dieses Gesicht, das ihr inzwischen vertraut war, trotz der dunkelblauen Haut und den schwarzen Augen, strahlte eine ihr gänzlich unbekannte Kälte aus.
„I-Izcun?“, stotterte sie und wich zurück.
„Ich kann nicht zulassen, dass jemand aus dem Tal entkommen. Ich weiß, ich habe versprochen, dass drei Wettkämpfer gehen können, doch das war eine Lüge! Es war ein Trick, damit ihr euch gegenseitig vernichtet. Leider hat es nicht ganz so funktioniert, wie ich wollte.“
Yodda riss die Augen auf. „Du bist nicht Izcun!“
Der Vampir – oder das Wesen, das seine Gestalt hatte – lächelte breit. „Und du merkst es erst jetzt.“
Yodda drehte sich um und floh, doch sie kam nicht weit. Ein Rauschen, dann war der Fremde, der das Gesicht ihres neuen Freundes trug, über ihr. Sie spürte stechende Schmerzen im Hals und wollte schreien, aber das Vampirgift zeigte schnell Wirkung. Eine warme, erschöpfte Starre fiel über Yodda und sie sank kraftlos auf den Boden. Ihre Augen flatterten, doch sie kämpfte gegen die Mattigkeit an. Schemenhaft sah sie den Fremden über sich, der einen kurzen Säbel zückte und drohend über ihr aufragte.
Der Säbel … sie kannte den Säbel.
Dann stieß der falsche Izcun zu. Yodda keuchte auf, als unerbittlich kalter Stahl ihr Herz durchbohrte. Ohne die geringste Emotion zog der Fremde den Säbel wieder an sich und wischte die Klinge ab. Schwärze kroch in Yoddas Sichtfeld. Ihr Mörder wandte sich ab und ging davon.
Sie öffnete und schloss den Mund, doch sie konnte nicht sprechen. Jede Kraft war aus ihrem Körper gewichen. In einem letzten Versuch, etwas an ihrem Schicksal zu ändern, tastete ihre Hand suchend über das Gras – auf der Suche nach was? Einer Waffe? Einem Heilmittel? Sie fand weder das eine noch das andere, nur kaltes, taufeuchtes Gras.
Dann umfing sie Dunkelheit.
„Izcun …“, flüsterte sie kraftlos.
~ ⁑ ~
Das Schloss blieb im Dunkel der Nacht hinter ihm zurück. Aidalos lief vorwärts, als wäre ein Rudel Werwölfe auf ihrer Fährte. Doch die Vampire schienen die Verfolgung nicht aufzunehmen, obwohl sie Aidalos' Hufschlag gehört haben mussten. Nylian konnte nicht mehr denken, sein Kopf war völlig leer. Er hatte Colum einfach zurückgelassen, doch er brachte es nicht fertig, das Pferd zu wenden. Er konnte es einfach nicht.
Trittsicher fand Aidalos einen Weg ins Tal hinab. Nylian musste ihn durchparieren, damit der Hengst nicht doch noch im Dunkeln stolperte und stürzte. Erst, als der Wind sich auf seiner Wange seltsam kalt anfühlte, merkte er, dass er geweint hatte.
„Ich bin ein mieser Freund“, flüsterte er kläglich. Seit er im Tal angekommen war, war er vor allen Problemen davongerannt und hatte zugelassen, dass seine Freunde die Kämpfe austrugen, dass sie für ihn in Gefahr gerieten. Und wenn er ehrlich war, dann hatte er seit Kiirions Tod nicht mehr gekämpft, hatte alles nur Yodda und Kaithryn überlassen. Er sollte sich nicht mehr Krieger nennen, denn sein Geschick mit dem Bogen allein machte ihn dieses edlen Berufes nicht würdig. Er war ein jämmerlicher Feigling.
Natürlich wurde ihm auch das Selbstmitleid zum Verhängnis. Der erschöpfte Aidalos reagierte zu spät. Als er die Ohren spitzte und stehen blieb, schrecke Nylian wie aus einem Traum auf.
„Was haben wir denn hier?“, fragte eine kalte Stimme, deren Klang Nylian nicht vergessen hatte. Sie verfolgte ihn in seinen Alpträumen, seitdem er auf der Flucht war. „Ich hab gedacht, es wäre schwieriger, dich zu finden.“
Nylian schrie und Aidalos bäumte sich auf. Ohne den Halt von Sattel oder Zügel verlor Nylian das Gleichgewicht und fiel. Er hörte Aidalos' Hufschlag, als der Hengst ohne ihn die Flucht ergriff.
Stöhnend lag er auf dem harten Steinboden. Schritte näherten sich.
Nylian sprang auf und tastete nach dem Bogen, doch der Schatten, den er nur undeutlich vor sich ausmachen konnte, bewegte eine Hand und schleuderte ihm eine Kugel aus hellem Licht entgegen. Sie traf Nylian in den Magen und warf ihn gegen eine Felswand. Mit einem Schmerzlaut landete Nylian auf dem Boden. Der Aufprall hatte ihm allen Atem aus den Lungen gepresst, hustend rang er nach Luft. Als er mühsam dem Blick hob, kam Imras Azmaek auf ihn zu, das düstere Gesicht erhellt von einer kleinen Flamme in seiner Hand. Dem Magier dicht auf den Fuß folgte Kaithryn mit einem verzweifelten Ausdruck in den Augen.
Nylian wollte sich hochdrücken, doch seine Arme gaben nach und er fiel wieder auf den Boden.
„Jetzt habe ich dich“, flüsterte Azmaek triumphierend.