Die Weltherrschaft! Diese Erkenntnis machte ihre Mission umso dringlicher. Azmaek geriet förmlich in Panik und hetzte sie den Berg hinauf.
„Um eine Limbo-Truhe zu öffnen, braucht es mehr als nur Macht. Er braucht die magischen Fähigkeiten von Werwölfen und Vampiren.“
„Sie haben ein Bündnis mit dem Grafen geschlossen“, erriet Kat. „Im Ausgleich hat er ihnen vermutlich Macht oder Blutopfer versprochen.“
„Yodda hatte etwas erzählt“, erinnerte sich Nylian, während er den beiden folgte. Aoi lief an seiner Seite; warum das Kind ihnen trotz der Gefahr folgte, war ihm ein Rätsel. „Sie sagt, den Vampiren hat er ein Leben im Tageslicht versprochen.“
„Ein verlockendes Angebot.“ Azmaek klang richtiggehend anerkennend. „Viele Vampire sehnen sich nach Sonnenlicht, die ewige Dunkelheit macht sie schwermütig.“
Alle vier keuchten vom schnellen Aufstieg. Azmaek blieb unvermittelt stehen.
„Langsam jetzt. Das Schloss liegt vor uns. Eile ist geboten, aber trotzdem dürfen wir nichts überstürzen.“
Nach Azmaeks Warnung gingen sie langsamer vorwärts. Das Schloss ragte bald vor ihnen auf, ein düsteres Anwesen aus Stein mit vielen Schutzringen und ebenso leeren Fensterhöhlen wie bei Nylians ersten Besuch. Doch diesmal fühlte er sich aus den vielen dunklen Nischen beobachtet. Das alte Fallgitter knirschte bedrohlich über ihren Köpfen, als sie durch den Schatten des Tores huschten.
Aidalos blieb vor dem Eingang stehen, legte die Ohren an und weigerte sich, einen Schritt weiter zu gehen. Schnell gab Nylian seine Bemühungen auf. Er klopfte dem Hengst auf den Hals. „Schon verstanden, mein Freund. Ich kann dich nicht zwingen. Aber warte hier auf uns.“
Das Pferd schnaubte wie zur Antwort. Nylian spürte den Blick seines Hengstes auf sich ruhen. Aidalos verstand wohl nicht, warum sie an diesen gefährlichen Ort zurückkehrten.
Stumm gab Azmaek ihnen Handzeichen. Nylian und Aoi auf der einen, Kat und Azmaek auf der anderen Seite durchquerten sie den Vorhof, dann schlichen sie in den inneren Ring. Das Dach des Palastes war diesmal leer, doch die Sonne stand auch noch am Himmel. Nur Vampire, die in der Dämmerung verwandelt worden waren, konnten das Sonnenlicht für kurze Zeit ertragen, alle anderen verbrannten in ihrem Schein auf der Stelle zu Asche. Auch von Wölfen oder gar Dämonen war nichts zu sehen, das Schloss wirkte vollkommen verlassen.
Ob Colum noch lebte? Nylian wusste nicht, ob er darauf hoffen sollte, denn es würde bedeuten, dass Colum mit den Vampiren und auch dem Grafen von Amrais verbündet war. War der Zentaur der zweite Böse gewesen, den Aoi belauscht hatte?
Er versuchte, die dunklen Gedanken abzuschütteln. Doch seitdem Azmaek nach Kiirion gefragt hatte, schwebte eine dunkle Wolke über Nylians Gemüt. Sie waren hierhergekommen, um die Vergangenheit zu vergessen, stattdessen wurde sie immer wieder aufgewühlt.
Dann trafen die getrennten Paare vor der Eingangstür wieder aufeinander. Azmaek schloss einen Moment die Augen und spürte vermutlich auf magische Weise nach, was hinter der Tür lag. Dann nickte er Kat zu, die die schwere Pforte aufstieß.
~ ⁑~
Die Tür quietschte in den Angeln wie eine kreischende Harpyie. Kat fuhr zusammen und verzog das Gesicht. Azmaek drängte sich an ihr vorbei in die Dunkelheit, die im Eingangsbereich des Schlosses lauerte. Zwei große Treppen führten in spiegelbildlichen Halbkreisen nach oben, die Wände waren kahl und trostlos bis auf mehrere halboffene Türen zu dunklen Räumen.
Nylian folgte Azmaek, einen Pfeil auf der Sehne des Bogens. Kat zog mit leisem Klirren ihr Schwert und drehte sich nach Aoi um. Das Katzenmädchen, obwohl ihm die Angst im Gesicht stand, folgte ihnen auf lautlosen Füßen.
„Du musst nicht mitkommen“, flüsterte Kat ihr zu.
Aoi sah sie an. „Bei euch bin ich sicher!“
Kat schüttelte leicht den Kopf. „Ich weiß nicht, was geschehen wird.“
Aoi weitete die unterschiedlichen Augen, dann hellte sich ihr Gesicht plötzlich auf und sie lief an ihnen vorbei auf eine der Treppen zu und huschte darunter.
„Ich warte hier auf euch!“, verkündete sie mit einem triumphierenden Lächeln. „Und wenn die Bösen kommen, kann ich euch warnen.“
Stolz zeigte sie auf eine Stelle, wo die Steine aus der Wand gebrochen waren. Dahinter lag ein niedriger, dunkler Erdtunnel. Selbst ein Zwerg würde nicht hindurch passen, vermutlich stammte der Tunnel von großen Ratten. Eine Katze konnte darin kriechen.
„Pass gut auf dich auf“, schärfte Kat dem Kind nochmals ein.
Azmaek organisierte ihren kleinen Trupp. „Nylian, du durchsuchst das Untergeschoss. Wir gehen hoch. Wenn sie dich finden, schrei.“
Der Elf nickte ernst und warf Kat einen kurzen Blick zu. Seine Augen sagten das, was sie selbst kurz zuvor Aoi gesagt hatte: „Pass auf dich auf.“
Sie nickte leicht und sandte ihm die gleiche stumme Bitte. Dann folgte sie Azmaek die Treppe hinauf. Nylian trat durch eine der vielen Türen.
Atemlos stiegen sie Stufe um Stufe hinauf. Nie zuvor war Kat derartig angespannt gewesen. Immer wieder sah sie nach unten, wo die Eingangshalle langsam zu einer in Schatten gehüllten Erinnerung wurde. Draußen senkte sich die Sonne, die Nacht brach herein. Weit entfernt erklang das klagende Heulen eines einsamen Wolfes.
~ ⁑ ~
Als er den Speisesaal erreichte, drehte sich Nylians Magen um. Hier hatte er mit Colum gesessen und geglaubt, dass endlich alles gut werden könnte. Die Erinnerung an die Mahlzeit ließ seinen Magen knurren. Wenn er überhaupt ans Essen gedacht hatte in diesen letzten Tagen, so hatte er nur frühe Beeren pflücken können oder von einem Kanten Brot gezehrt, den er aus dem Lager der Krieger gerettet hatte.
Die Türen auf beiden Seiten des Raums fielen mit lautem Poltern ins Schloss. Nylian wirbelte herum und zog die Bogensehne bis zum Auge, um über den Schaft hinweg zu zielen. Doch niemand war zu sehen, auf keiner Seite des langgestreckten Raums. Dann flammte plötzlich das Feuer im Kamin auf. In dem winzigen Moment, den Nylian erschreckt war, fühlte er einen Luftzug.
Dann war der Bogen plötzlich fort, nur ein Schmerz in den Fingern war geblieben. Nylian stolperte gegen den Esstisch.
„Hm, selbst gemacht. Du bist gut geworden.“
Nylian drehte sich um. Dort, vor dem mittleren der drei hohen, noch verglasten Fenster, stand eine schlanke Gestalt und betrachtete seinen Bogen.
Der Anblick traf ihn wie einen Schlag in den Magen. Nylian keuchte auf und wäre gefallen, wenn er sich nicht mit beiden Händen an der Tischplatte in seinem Rücken hätte festklammern können.
„Kiirion“, krächzte er.
Der junge Elf lächelte. Er hatte sich kaum verändert, als wären keine drei Jahre vergangen. Seine Kleidung war ungewohnt, ein dunkelgrüner Waffenrock unter einer Rüstung aus Platten von Weinblutstahl und schwarzen Riemen. Am Gürtel um die Hüfte hingen die altvertrauten Kurzsäbel, doch in der Hand hielt Kiirion einen schwarzen Metallstab mit zwei eingefassten Mondsteinkugeln im Kopfende. Die Haare trug er noch wie früher, ein hoher, langer Pferdeschwanz und kurze Strähnen, die sich federleicht auf seine Schläfen legten. Sein linkes Auge war blind und von zwei senkrechten, dünnen Narben gezeichnet. Nylian fragte sich, was Kiirion derartig verletzt hatte und für einen Moment wallte der brüderliche Instinkt auf, dem Verursacher einen Pfeil in sein linkes Auge zu jagen.
„Nylian“, sagte Kiirion ruhig, als wären sie sich zufällig auf dem Markt über den Weg gelaufen. „Was führt dich her?“
„Wir – wir hielten dich für tot! Wie kannst du leben?“, stammelte Nylian. „Wo warst du? Warum bist du nicht zurückgekehrt?“
Kiirion seufzte schwer wie ein hunderttausendjähriger Elb, der sich entschied, genug von der Ewigkeit zu haben. „Das war doch der Plan, Holzkopf. Ich musste verschwinden und verhindern, dass jemand dämliche Fragen stellt. 27 Jahre musste ich auf eine Gelegenheit warten, um meinen Tod vorzutäuschen.“
„27?“, wiederholte Nylian verständnislos.
„Und du schleppst auch noch zwei Sterbliche an, mit denen ich mich herumschlagen muss, besonders mit dieser verliebten Zwergin.“
Die Realität holte Nylian ein. Kiirion lebte, doch es war kein Grund zur Freude.
„Azmaek hatte recht! Du bist der Graf von Amrais!“
Kiirion lächelte stolz und legte Nylians Bogen hinter sich auf die Fensterbank.
„Aber … warum tust du das alles? Warum tust du mir das an?“
„Oh, hier geht es nicht um dich. Ich hatte keine Ahnung, dass du dem Aufruf folgen würdest. Natürlich habe ich damit gerechnet, du warst schon immer ein guter Schütze. Besser als ich, du warst immer der bessere von uns beiden.“
„Worum geht es dann?“ Nylian konnte nicht zurückweichen, als Kiirion langsam auf ihn zu trat. Der Jüngere blieb zwei Schritte entfernt stehen.
„Es geht um Gerechtigkeit, Bruder. Für die Tiermenschen hauptsächlich. Es wird Zeit, dass die Beleidigungen und Vorurteile ihnen gegenüber aufhören!“
„Aber wie soll das alles hier etwas daran ändern?“, fuhr Nylian auf. Die Bilder von der zerstörten Zeltstadt kehrten zurück. „Es sind Tiermenschen gestorben!“
„Im Krieg gibt es immer Opfer.“ Kiirion zuckte emotionslos mit den Schultern. Er war nie sonderlich empathisch gewesen, doch in diesem Moment erst erkannte Nylian, wie weit seine Gleichgültigkeit ging. Sein Bruder war ihm ein Fremder geworden. „Außerdem hat sich die Mission ausgeweitet. Gerechtigkeit für Tiermenschen und Chimären, Vampire und Werwölfe und sogar Dämonen. Ich will ihnen helfen, Nylian. Sie verdienen eine Chance auf ein Leben, ohne verfolgt zu werden.“
„Was hast du vor?“, hauchte Nylian.
„Ich schaffe ein Königreich.“ Kiirion breitete die Arme aus und lächelte. „Eine Heimat, in der sie frei sein können.“
„Diese Heimat soll Lirhajn werden“, erkannte Nylian.
„Du hast es begriffen.“ Kiirion strahlte, als wäre ihm ein besonderes Kunststück nach langem Üben gelungen. Plötzlich überbrückte er die Entfernung zwischen ihnen und umarmte Nylian. „Ich bin so froh, dich zu sehen! Und ich bin froh, dass du überlebt hast. Ich habe den Vampiren untersagt, dich zu töten.“
Nylian konnte sich nicht rühren. „Was …?“ Die Haut seines Bruders war so kalt wie Eis. Vampirkalt.
Kiirion wich grinsend einen Schritt zurück. „Hilf mir, Nylian! Schließ' dich uns an, dann wird es nicht mein, sondern unser Königreich! Ich kann dich Magie lehren, ich kann dir Macht geben! Und wir werden die Welt verbessern, zusammen!“
Nylian erinnerte sich. Kiirion hatte immer davon gesprochen, ein Magier werden zu wollen. Es war ein harter Schlag für ihn gewesen, zu hören, dass er kein Potenzial besaß, genauso wenig wie Nylian. Er hatte immer geglaubt, dass Kiirion seinen Traum letztendlich aufgegeben hatte. Dreißig Jahre lang war kein Wort mehr darüber gefallen …
„Du sagtest, du hättest 27 Jahre auf eine Chance warten müssen?“, fragte Nylian.
Kiirion nickte. „Colum hat mir damals alles erzählt. Es gibt eine Möglichkeit, mit der jeder Magie erlernen kann. Ich bin ein Magier, Nylian, und du kannst auch einer sein! Alles, was es braucht, ist ein kleines Opfer.“
Nylian sah auf das zerstörte, blinde Auge seines Bruders. „Ein kleines Opfer, was?“ Seine Stimme klang noch bitterer, als er es beabsichtigt hatte. „Du hast einen Pakt mit Dämonen geschlossen! Du bist ein Hexer!“
„Auch die Vorurteile gegenüber Hexern sollten aufhören. Wir sind genauso Magier wie alle anderen. Und der Preis war klein im Vergleich zu dem, was ich erhalten habe! Unbegrenzte magische Macht! Keine Angst mehr vor dem Sog! Selbst du könntest es tun.“ Die Worte sprudelten nur so aus Kiirion heraus. „Das allein macht dich natürlich noch nicht so mächtig wie mich – ich habe viel getan, um das zu werden, was ich jetzt bin. Zuerst habe ich mich verwandeln lassen, dann musste ich den Preis für die Magie bezahlen. Die letzten beiden Schritte erfolgen heute Nacht, und in diesem Tal haben die Mächtigsten und Klügsten von Lirhajn, jene, die mich hätten aufhalten können, sich gegenseitig zerfetzt.“
„Die Vampire hatten dich nicht getötet. Es war dein Plan, von Anfang an“, stammelte Nylian fassungslos. „Und dieses Tal … war deine Falle!“
„Genial, nicht wahr?“, triumphierte Kiirion, ihn immer noch missverstehend. „Überleg nur, was wir beide zusammen alles schaffen könnten!“
„Rühr mich nicht an!“, schrie Nylian und stieß Kiirion von sich, der ihn verdutzt anstarrte. „Ich werde dir nicht helfen, niemals!“
„Ach?“ Kiirion wirkte enttäuscht, doch sein Gesicht verhärtete sich. „Das ist deine endgültige Entscheidung?“ Er machte zwei Schritte nach hinten. „Vielleicht änderst du sie noch, denn ich würde dich nur ungern töten, mein Bruder.“
„Du bist nicht mein Bruder!“, zischte Nylian.
„Natürlich bin ich das! Nun, Kaithryn ist hier, nicht wahr? Und dieser Azmaek. Auch ein Magier. Was ein Glück, dass er dich nicht getötet hat.“
„Du weißt gar nichts!“, fuhr Nylian ihn an. Sein Herz raste. Kat und Azmaek, er musste sie warnen! Sie konnten ihm womöglich helfen, immerhin brauchten sie Kiirions Amulett. Jetzt erblickte er den dünnen Faden einer Schnur, der um Kiirions Hals lag und unter das Hemd führte. Das Amulett! Nach allem, was Nylian von Kiirions „Macht“ erfahren hatte, wusste er, dass sie es dringend brauchten.
„Ich weiß alles“, spottete Kiirion. „Deine Zwergenfreundin war sehr gesprächig, als sie glaubte, ihren Vampir gefunden zu haben. Sie hat mir alles erzählt, was ich wissen musste.“
„Yodda.“ Nylian spürte, wie er blass wurde. Er stürmte auf seinen Bruder zu, doch Kiirion entwischte ihm mit übernatürlicher Schnelligkeit. „Was hast du mit ihr gemacht? Wo ist sie?“
„Sie ist tot.“ Kiirion schwebte in der Luft vor dem Fenster, aus dem Nichts waren zwei schattenhafte, ledrige Flügel aus seinem Rücken entsprungen. Das schwache Licht des letzten Tages schimmerte durch die Fenster und die Flügel.
Nylian jaulte auf. „Nein! Du lügst!“
„Mach dir nichts daraus – sie wäre sowieso bald gestorben. Zwanzig, dreißig Jahre – es sind nur Zwerge, du darfst dein Herz nicht zu sehr an die hängen. Doch das habe ich dir schon bei deinem ersten Hund gesagt!“
„Mörder!“, brüllte Nylian, und dann stockte er. Die Tür zum Saal stand einen spaltbreit offen, nicht breit genug, als dass ein Mensch hindurch schlüpfen konnte – aber vielleicht etwas Kleineres.
„Ich hoffe, du wirst mich eines Tages verstehen“, sagte Kiirion sanft. „Wenn du älter bist und Abstand von dieser Geschichte hast. Ein letztes Mal: Wirst du mir helfen?“
Nylian lächelte, als er das leise Tapsen sanfter Pfoten hörte. Er sah Kiirion in die Augen. Sein Bruder sank wieder auf den Boden.
„Nein“, sagte Nylian und sprang vorwärts.
Eine getigerte Katze huschte unter dem Tisch hervor und warf sich zwischen Kiirions Beine. Der jüngere Elf stolperte, als er ausweichen wollte, und Nylian griff nach dem Riemen der Kette. Ein scharfer Ruck, und das dünne Band zerriss. Ein runder Gegenstand sprang über den Boden, lindgrün und rund. Nylian griff danach und rannte auf die offene Tür zu. Kiirions Wutgeheul verfolgte ihn.