Nylian wich zurück, als Colum in gestrecktem Galopp auf sie zu kam, die gehörnte Stirn kampfbereit gesenkt. Er klammerte sich an Kats Schulter und sie an seine. Hinter ihnen lag die Schlucht, über die die schmale Felsnadel hinaus ragte. Sie saßen in der Falle. Hinter ihnen lag nur der Sturz in die Tiefe, der Wind zerrte bereits an ihnen wie lockende Hände. Kalter Regen prasselte auf ihre Schultern. Der rollende Donner verschluckte das Trommeln von Colums Hufen.
Ein Schatten sauste aus dem dunklen Himmel heran und landete mit einem dumpfen Aufprall vor ihnen auf dem Stein. Das Etwas bewegte sich schneller, als Nylians Augen sehen konnten. Colum wurde mitten im Lauf zur Seite gefegt, als wäre er nur ein Blatt im Wind. Der Zentaur stürzte krachend gegen die ausrangierten Maschinen.
Eine kleine Gestalt richtete sich auf und klopfte sich zufrieden die Hände ab. Ihre Haare hatten die Farbe von Möhren, die Haut ein dunkles Weinrot.
Flügelschlag erklang hinter ihnen, dann landete ein zweiter Vampir auf der Felsnadel, diesmal ein Neumondvampir mit violetter Haut.
„Was tust du denn?“, fuhr er den rothäutigen Dämmerungsvampir an, ohne Nylian, Kat oder Aoi zu beachten.
„Wir können nicht immer auf den letzten Moment warten, um einzugreifen, Izcun!“ Die Stimme wies die kleinere Gestalt als Frau aus. „Manchmal muss man eben direkt angreifen.“
Jetzt drehte sich die Vampirin um.
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Ihre beiden Freunde waren vollkommen überrascht.
„Yodda!“, rief Kaithryn aus. Nylian starrte sie ebenfalls mit offenem Mund an, vielleicht auch mit einem Hauch von Angst oder Abscheu. Doch er folgte Kat auf dem Fuß und die beiden Freunde schlossen Yodda gleichzeitig in eine erdrückende Umarmung.
„Wir dachten, du wärst tot!“, rief Kat.
„Das war ich auch.“ Yodda zappelte mit den Beinen weit über dem Boden. „Wenn ihr beiden mich runterlasst, könnte ich euch alles erklären! Wir haben wenig Zeit.“
Sie drehte den Kopf, um einen Blick auf Colum zu werfen, doch der Zentaur rührte sich nicht. Izcun, der sie ohne Worte zu verstehen schien, ging zu dem gefallenen Tiermenschen herüber.
„Azmaek ist ein Gestaltwandler“, berichtete Yodda hastig. „Er hat so ausgesehen wie Izcun, deshalb konnte er mich täuschen. Er dachte wohl wirklich, dass ich tot war. Ich wäre auch gestorben, wenn Izcun mich nicht gefunden hätte. Obwohl, ‚gefunden‘ ist relativ: Er hatte alles gesehen und nicht gewagt, einzugreifen.“
„Ich habe mich bereits entschuldigt!“, brüllte Izcun zu ihnen herüber. „Mehrfach!“
„Er hat mir das Leben gerettet“, sagte Yodda leise und hob ihre nun weinroten Hände wie zum Beweis. „Oder was auch immer Vampire haben.“
„Yodda, Azmaek ist nicht der Graf“, sagte Kat sanft.
Yodda sah ihre Freundin überrascht an. „Nicht?“
„Es ist Kiirion“, sagte Nylian mit düsterer Stimme. „Er hat überlebt, vor drei Jahren. Er und Colum haben sich das Ganze ausgedacht.“
„Dann ist es Kiirion, gegen den Azmaek oben kämpft?“, fragte Yodda. „Unmöglich! Es sind zwei Magier!“
Kat hob einen Blick in den Himmel. Vielleicht wurde ihr erst in diesem Moment klar, dass die vielen Blitze nicht von einem Gewitter stammten, sondern vom Kampf zweier Magier.
„Um den Zentauren müsst ihr euch jedenfalls keine Sorgen mehr machen.“ Izcun trat zu ihnen. „Er hat sich das Genick gebrochen.“
Yodda schlug die Hände vor den Mund. „Das wollte ich nicht!“
Kat senkte den Blick.
„Es ist vielleicht besser so“, knurrte Nylian düster.
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Eilig und sich gegenseitig häufig unterbrechend berichteten Kat und Nylian alles, was sie über Kiirions Plan wussten. Yodda hörte ihnen zu und ihr Mund öffnete sich weiter und weiter. Kat konnte ihr die Überraschung nicht verdenken.
„Aber … wie konnte er das tun?“, fragte Yodda verständnislos.
„Colum hat ihn dazu angestiftet“, sagte Nylian überzeugt. „Die beiden müssen es lange geplant haben und uns haben sie all die Jahre getäuscht. Colum wollte seine Vorstellung von Gerechtigkeit durchsetzen, und ich glaube, Kiirion ist allein hinter der Macht her.“
Yodda schüttelte fassungslos den Kopf. „Das würde Kiirion niemals tun!“
Nylian antwortete nicht. Kat konnte sehen, wie sein Gesicht sich weiter verdüsterte und dachte an das, was Azmaek ihnen einmal gesagt hatte: Der Graf von Amrais war ein Meister der Täuschung. Damals hatten sie – wie zur Bestätigung dieser Worte – jeder einen Unschuldigen im Verdacht gehabt, dieser Meister der Täuschung zu sein.
Sie klopfte Yodda auf die Schulter. „Jedenfalls sind wir froh, dass du lebst.“ Yodda schien sie nicht einmal zu hören. Kat seufzte und sah nun Nylian an. „Diese Hebel – glaubst du, damit können wir die Berge wieder öffnen?“
Nylian zuckte mit den Schultern. Sie gingen zu den drei gewaltigen Hebeln, vorbei an der verkrümmten Leiche von Colum. Der Anblick drehte Kat den Magen um, vor allem wegen der widerstreitenden Gefühle, die in ihr aufstiegen. Sie hatte Colum für ihren Freund gehalten, doch am Ende war sein Tod vielleicht die einzige Möglichkeit, diejenigen zu retten, die noch im Tal gefangen waren.
Ein Blick zurück zeigte ihr, dass Aoi sich tröstend an Yoddas Schienbeinen rieb. Izcun dagegen trat zu ihnen, als sie vor den drei Hebeln stehen blieben.
Alle Hebel deuteten nach oben. Kat streckte sich, doch sie konnte die oberste Kante nicht erreichen.
„Was habt ihr vor?“, fragte der Vampir.
„Es kann sein, dass diese Hebel die Berge wieder öffnen.“ Kat sah sich suchend nach etwas um, das sie zum Ziehen verwenden konnten.
Izcun machte einen Sprung an ihr vorbei, landete mit den Füßen voran an der Decke und stemmte sich im nächsten Moment mit der Schulter in den Hebel. Ohne etwas zu sagen drückte er gegen den Metallstab des Hebels.
Als der Vampir sich fast gestreckt hatte, konnten Kat und Nylian den klobigen Hebel mit beiden Armen umfassen und sich mit vollem Gewicht daran hängen. Knirschend wanderte der Hebel in die Tiefe. Kat, Nylian und Izcun zerrten mit vereinten Kräften.
Dann stieß der Hebelkopf mit einem hallenden Geräusch auf den Boden. Nichts geschah. Die Berge verharrten an Ort und Stelle.
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„Verdammt!“ Nylian trat gegen den Hebel und zuckte im nächsten Moment vor Schmerz zusammen. Der Anblick ihres Freundes, der sich stöhnen den schmerzenden Fuß hielt, brachte Yodda zum Lächeln. Sie hob die Katze auf, die erschrocken miaute, und lief zu ihren Freunden. Sie waren endlich wieder vereint! Alles andere zählte nicht.
„Zieht die beiden anderen Hebel auch nach unten“, befahl Yodda. „Ihr habt damals nicht richtig aufgepasst, als sich die Berge verschoben haben: Sie haben sich alle gemeinsam bewegt. Wenn jeder Berg durch einen Hebel gesteuert worden wäre, der sich so langsam bewegen lässt, dann hätten sie sich nur nacheinander bewegen können! Das hätte uns eine Chance zur Flucht gegeben, das hätte Colum nicht riskiert.“
Yodda kam mit ihren neu entdeckten Vampirfähigkeiten noch nicht besonders gut zurecht, doch sie schaffte es, gemeinsam mit Izcun an die Wand zu springen. Von der Schwerkraft losgelöst stemmte sie sich in den zweiten Hebel. Dann drückten sie auch den dritten zu Boden.
Kaum, dass alle drei Hebel nach unten zeigten, setzte ein gewaltiges Rumpeln ein. Der Boden unter ihnen machte Geräusche, die nach der Magenverstimmung eines riesigen Drachen klangen. Die kaputten Maschinen rutschten über den bockenden Boden, Kat, Nylian und Aoi fielen auf die Erde. Yodda griff nach Izcuns Hand und verspürte den tröstlichen Druck seiner Finger. Ihre neue Vampirsicht gab ihr einen guten Blick darauf, wie sich die großen Berge in der Dunkelheit bewegten, wieder an ihren alten Platz rückten. Sie hatte Recht gehabt, der Mechanismus ließ sich umkehren!
„Es ist geschafft!“ Sie seufzte erleichtert. „Wir sind frei.“
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„Allerdings sitzen wir immer noch in der Höhle fest.“ Kat musste Yoddas Freude leider dämpfen.
„Wir könnten euch hier heraus bringen“, sagte der dunkelhäutige Vampir, „doch es sind viele Vampire in der Luft rund um das Schloss. Der Graf kämpft oben auf den Zinnen. Sie warten darauf, eingreifen zu können. Unmöglich, dass wir ungesehen entkommen können.“
„Du bist ein Feigling!“, stellte Yodda fest. „Wenn es stimmt, dann kämpfen da oben ein Freund von uns gegen einen ehemaligen Freund! Wir können eingreifen, wir können etwas ändern!“
„Tatsächlich können wir das nicht. Azmaek hat uns verboten, einzugreifen“, mischte sich Nylian ein.
„Und darauf hört ihr?“, fragte Yodda herausfordernd. „Seit wann hören wir auf das, was man uns sagt?“
„Willst du gegen Kiirion kämpfen?“, fragte Nylian Yodda mit wildem Blick. Die Zwergin schwieg entsetzt.
„Gut. Wir können uns hier verstecken, bis der Kampf vorbei ist, und dann -“
Kat hörte nicht mehr, was sie dann tun könnten. Ohne jede Vorwarnung schossen blendende Schmerzblitze durch ihren Kopf. Sie stöhnte auf und sank auf den Boden, beide Hände in die kurzen Haare gekrallt.
„Kaithryn!“, erklang Azmaeks Stimme, klarer und deutlicher als sie sie je gehört hatte seit jenem Tag, da sie einander zum ersten Mal begegnet waren. „Ich kann ihn nicht viel länger aufhalten! Ihr müsst ihn stoppen, er darf nicht entkommen!“
Die geistige Verbindung brach ab. Kat fand sich, umringt von ihren Freunden, in der kalten, zugigen Höhle wieder.
„Kat? Alles in Ordnung?“, fragte Nylian.
Sie stöhnte und massierte sich die Schläfe. „Ich glaube, Azmaek hat seinen Befehl soeben widerrufen.“